Dr. Sylvia Wagner zu Medikamentenversuchen im Kindersolbad Bad Dürrheim

Foto von Dr. Hans Kleinschmidt, Bad Dürrheim. Quelle: Kinderärzte treffen sich in Bad Dürrheim. In: Mitteilungsblatt d. Dt. Roten Kreuzes, Landesverb. Ba-Wü u. Südbaden. 14 (1962), H. 5/6

von Heike Arnold, 02/23

Um den Medikamentenmissbrauch im Kindersolbad Bad Dürrheim besser einschätzen zu können, interviewte das Rechercheteam des Vereins Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg e.V. die Pharmaziehistorikerin Dr. Sylvia Wagner, deren Einschätzung im Folgenden zusammengefasst und mit Genehmigung der Autorin Heike Arnold und der Wissenschaftlerin Sylvia Wagner auch hier für alle Betroffenen von Kinderverschickung veröffentlicht wird.

Zunächst bestätigt Sylvia Wagner, dass aus den Publikationen von Dr. Hans Kleinschmidt, welcher von 1956 bis 1973 als Chefarzt im Kindersolbad Bad Dürrheim tätig war, ganz klar hervorgeht, dass Medikamente an Kurkindern getestet wurden. Tatsächlich wurde erstmals 1978 in einem Arzneimittelgesetz der Schutz von Versuchspersonen festgeschrieben, indem festgelegt wurde, dass Versuche nur mit einer Einwilligung erfolgen dürfen. Allerdings galt seit Ende des 19. Jahrhunderts hierzulande das Strafgesetzbuch, aufgrund dessen Frau Dr. Wagner auf die Frage, ob sich Dr. Kleinschmidt strafbar gemacht hat, folgendermaßen konstatiert:

Herr Kleinschmidt hat sich strafbar gemacht. Denn auch damals galt schon nach dem Strafgesetzbuch, dass jeder ärztliche Eingriff ohne eine Einwilligung den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt. Auch nach den Bestimmungen des Nürnberger Kodex und der Deklaration von Helsinki durften Versuche an Menschen nur nach Einwilligung durchgeführt werden. Bei Kindern hätten zumindest die Eltern einwilligen müssen (nach vorheriger Aufklärung). Es ist juristisch gesehen wohl alles verjährt. Aber die moralische Verantwortung bleibt.[1]

Des Weiteren führt Dr. Wagner aus, dass auch der Träger des Heims verantwortlich war, sofern dieser von Kleinschmidts Medikamentenversuchen wusste.[2] Zu den Nebenwirkungen und Folgen für die damaligen Kinder schreibt Frau Dr. Wagner:

Das hängt von dem Präparat, der Dosierung, dem Alter und der individuellen Konstitution des Kindes ab. Eventuell sogar vom Geschlecht. Und weiter schreibt sie: Die Sache ist, dass man meistens erst hinterher weiß, wie gefährlich ein Medikament ist. Bei  Contergan dachte man auch zunächst, dass es ganz harmlos sei. Die Frage ist eher, wie groß das Risiko war, das man eingegangen ist. Wenn ein Wirkstoff schon bekannt ist und man “nur” eine neue Arzneiform testet, z. B. gibt es das Präparat schon als Tabletten und jetzt teste ich es als Saft, ist das Risiko normalerweise nicht mehr so groß. Aber bei jedem neuen Wirkstoff ist das Risiko nicht abzusehen.[3]


Neben den Medikamentengaben zu Versuchszwecken wurden Verschickungskindern zwecks Ruhigstellung entsprechend sedierende Medikamente gegeben, auch die ehemaligen Kurkinder des Kindersolbads Bad Dürrheim erinnern sich an die Gabe von Spritzen, Säfte und Tabletten. Hierzu formuliert Frau Dr. Wagner:

Bei Benzodiazepinen wie z.B. Valium kann sehr schnell eine Abhängigkeit entstehen. Neuroleptika können akut Krämpfe auslösen. Langfristig kann es durch Neuroleptika, auch wenn sie schon lange abgesetzt sind, zu Herzversagen, Herzinfarkt und Schlaganfällen kommen. So ist natürlich die Lebenserwartung verkürzt. Das kann bis um 20 Jahre sein.[4]

Zu konkreten Medikamentenversuchen im Kindersolbad, wie sie von Dr. Kleinschmidt in einzelnen seiner Publikationen dargestellt werden, äußert sich Frau Dr. Wagner folgendermaßen:

  • Kleinschmidt, Hans: Zur Behandlung der Bronchitis febrilis des Kindes mit einem neuen rektalen Kombinationspräparat (Gujaphenyl compositum Suppositorien) In: Münchener medizinische Wochenschrift 105.1963, S. 2072-2074

Wagner: Hier handelt es sich in meinen Augen um einen Versuch. Denn erstens spricht der Autor selber davon, dass die Zäpfchen “erprobt” wurden. Und er schreibt: “(…) wurden 65 Kinder zur Testung ausgewählt.” Das ist eine eindeutige Aussage. Außerdem wird kein Präparatename genannt, sondern nur der Name des Wirkstoffes. Das kann ein Hinweis darauf sein, dass das Präparat noch nicht auf dem Markt war.[5]

  • Kleinschmidt, Hans: Untersuchungen über die Wirkung eines Lokalantibiotikum (sic!) auf kindliche Racheninfekte und die Rachenflora. In: Medizinische Klinik 59.1964, S. 107-108

Wagner: Es handelt es sich in meinen Augen hier eindeutig um einen Versuch. Kleinschmidt selber spricht von einem “Versuch” und von einer “Versuchsanordnung”. Auch in diesem Fall scheint das Präparat noch nicht auf dem Markt gewesen zu sein, da kein Präparatname genannt wird. Dass alle Kinder einer Station sofort nach Ankunft die Tabletten erhielten, wie Kleinschmidt schreibt, legt nahe, dass nicht nur kranke Kinder das Präparat erhalten haben. Sie haben es also nicht aus einer medizinischen Notwendigkeit heraus erhalten, sondern zu Versuchszwecken. Es wurden auch Rachenabstriche gemacht, um die Wirksamkeit des Präparates zu testen. Zum Schluss kommt der Autor selber zu dem Ergebnis, dass es nicht gut ist, bei Kindern “wahllos Sulfonamide oder Antibiotika anzuwenden (…).”

  • Kleinschmidt, Hans: Versuche zur Herabsetzung der Infektneigung bei Kleinkindern mit Esberitox. In: Therapie der Gegenwart 104.1965, S. 1258-1262

Wagner: Hier handelt es sich nach meiner Einschätzung um einen Versuch. Das Präparat war zwar anscheinend schon auf dem Markt, denn der Präparatename “Esberitox” wird genannt. Aber 109 Kinder erhielten das Präparat vom Anreise- bis zum Abreisetag, egal ob sie krank waren oder nicht. Außerdem gab es eine Vergleichsgruppe unbehandelter Kinder. Also eine typische Versuchsanordnung.

  • Kleinschmidt, Hans: Über die Wirkung von rotem Kurtraubensaft und Eisen auf die hypochrome Anämie im Kindesalter. In: Medizin und Ernährung 8.1967, S. 34-35

Wagner: Dieser Artikel beschreibt einen Versuch. Denn hier wurden Kinder für die Untersuchung in verschiedene Gruppen eingeteilt, die unterschiedlich behandelt wurden um somit die Ergebnisse der verschiedenen Behandlungen bzw. Präparate vergleichen zu können. Es wurde ein Saft und Eisenpräparate eingesetzt. Für den Versuch sind Blutuntersuchungen vorgenommen worden.


Auf der im Hauptstaatsarchiv Stuttgart gefundenen Liste der Kleinschmidt-Publikationen[6] finden sich zudem folgende (Titel-) Angaben, deren Texte dem Verein Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg (bislang) nicht vorliegen.

  • Versuche mit R+S299 (??) gegen Oxyuren für Forschungsabt.-Janssen-Pharmazeutika GmbH Düsseldorf 1966  
  • Klinische Prüfung von Asmac bei Kindern für Forschungsabt. Pharmaz. u. diätet. Präparate Wander Frankfurt 1968
  • Vergleichsstudie von BP-400-Sirup gegen Placebo-Sirup in der Pädiatrie (Doppelblindversuch)
  • Versuch der Prüfung eines neuen Hustentherapeutikums (PR2) für Forschungsabt. der Arzneimittelfirma Galaktina, Neu-Isenburg 1971
  • Beveno bei Kindern mit Anorexie und reduziertem AZ (Gedeihstörung) Blindversuch für Forschungsabt. Arzneimittelfirma Fischer, Bühl, 1971

Nach Einschätzung von Frau Dr. Wagner weisen bereits diese Titel definitiv auf Medikamentenversuche hin. Ein nächster Schritt wäre, zu den medikamentenbezogenen Angaben zu forschen sowie die angegebenen Pharmafirmen bzw. deren Nachfolgefirmen zu befragen

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Kindersolbad eindeutig mehrere Medikamente bzw. Wirkstoffe an Kindern getestet wurden, dies wird durch die Expertise von Dr. Sylvia Wagner bestätigt. Wie viele der jährlich circa 3000 Kinder[7] betroffen sind, lässt sich wohl nie herausfinden. Ebenso wird im Dunkeln bleiben, wie viele der damaligen Kinder kurz- mittel- oder langfristig mit negativen Nebenwirkungen zu tun hatten oder heute noch haben – ein Aspekt, der möglicherweise in nicht unerheblicher Weise neben die eher zu eruierenden psychischen Nachwirkungen tritt. Schließlich stellt sich die Frage nach der Mitwisserschaft des damaligen Heimträgers. Diese ist grundsätzlich anzunehmen, weil Dr. Kleinschmidt in seinem Team nicht nur mit weiteren Ärzten/Ärztinnen gearbeitet hat, sondern auch mit den Schwestern der Badischen Schwesternschaft des Roten Kreuzes.


[1] Mail Dr. S. Wagner 01/23.

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Ebd.

[5] Mail Dr. S. Wagner 01/23

[6] Es handelt sich um eine aus dem Kindersolbad Bad Dürrheim stammende, handschriftliche Liste mit dem Titel Aufstellung der wissenschaftlichen Arbeiten, Veröffentlichungen und Vorträgen von Dr. med. Hans Kleinschmidt.

[7]  Kleinschmidt, Hans: 75 Jahre Klima-Solbadkuren im Kindersolbad des DRK, Bad Dürrheim/Schw. Blätter der Wohlfahrtspflege 105.1958, S. 336

HINWEIS: Dr. Sylvia Wagner wird im November auf unserem nächsten Jahreskongress (16. bis 19.11.23) von ihrem aktuellen Forschungsprojekt in NRW berichten.

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