Kongress: Das Elend der Verschickungskinder im November 2019
Über 75 Teilnehmer*innen des Kongresses: “Das Elend der Verschickungskinder“ vom 21. bis 24.11.19 stimmten am 24.11.19 einer Erklärung zu, in der sie den Wunsch nach Unterstützung ihrer Bemühungen um Aufklärung und Aufarbeitung Ausdruck verliehen.
ERKLÄRUNG der Initiative Verschickungskinder auf Sylt, am 24.11.2019
Vom 21.-24.11.2019 trafen sich auf Initiative von Anja Röhl und einem Kreis engagierter Betroffener über 70 Menschen, die als Kinder zwischen 1948 und 1981 auf so genannte Kinderkuren verschickt wurden. Die Kinder waren zwischen zwei und vierzehn Jahren alt und wurden in der Regel für sechs bis acht Wochen verschickt. Die Kuren wurden von Ärzten – zumeist ohne nachvollziehbare medizinische Begründung – verschrieben und u.a. von der Kranken- oder Rentenversicherung finanziert. Zwischen ein und drei Millionen Kinder, möglicherweise noch viel mehr, nahmen an diesen Maßnahmen teil. Auf diesen Kinderverschickungen oder Kinderkuren erlitten viele Kinder Misshandlungen, u.a. Esszwang, Toilettenverbot, körperliche Strafen, Demütigungen und Erniedrigungen. Sogar von Todesfällen wird berichtet. Von allen Beteiligten – Eltern, Ärzten, Kostenträgern, Heimträgern – wurden diese Misshandlungen jahrzehntelang ignoriert oder totgeschwiegen. Den Kindern wurden ihre Berichte über das erlittene Leid nicht geglaubt.
Erst vor kurzem haben Betroffene begonnen, dieses Unrecht aufzuarbeiten. Ehemalige Verschickungskinder haben ihre Erlebnisse auf einer Webseite geteilt (www.verschickungsheime.de) und begonnen, sich zu vernetzen. Fast tausend, oftmals erschütternde Berichte liegen schon vor.
Auf dem Kongress „Das Elend der Verschickungskinder“ vom 21.-24.11.2019 auf Sylt haben die Betroffenen erstmalig zusammen mit Fachleuten mit „Doppelexpertise“ (Expert*in und Verschickungskind) vielfältige Aspekte dieser Geschehnisse diskutiert und sich persönlich ausgetauscht. Die Teilnehmenden sehen den Kongress als ersten Schritt. Jetzt müssen Strukturen geschaffen werden, um das erlittene Leid beschreiben, einordnen und bewerten zu können.
Alle Teilnehmenden des Kongresses haben sich auf folgende Forderungen verständigt:
- Voraussetzung für die Aufarbeitung ist eine sorgfältige Erforschung der Geschehnisse in den Heimen, der Anzahl der betroffenen Kinder und der gesellschaftlichen und institutionellen Rahmenbedingungen.
- Alle Betroffenen sollen erfahren können, dass ihre erinnerten Erlebnisse Realität waren, dass ihnen Unrecht widerfahren ist und dass sie mit ihren Erfahrungen nicht allein sind.
- Wir fordern die Finanzierung einer selbstverwalteten Anlaufstelle für Betroffene, die eine Vernetzung und eine Orientierung bei Hilfebedarf ermöglicht. Sie hat auch die Aufgabe, Orts- und Regionalgruppen durch fachliche Begleitung zu unterstützen.
- Wir ehemaligen Verschickungskinder, die der damaligen Situation wehr- und hilflos ausgeliefert waren, wollen heute nicht Objekt von Forschung werden. Die Erforschung der Kinderkuren muss deshalb partizipativ als „citizen science“/bürgerorientierte Forschung erfolgen: Wir Betroffenen bestimmen die Zielsetzungen und Fragestellungen der Forschung und tragen durch unsere eigene Recherche sowie durch unsere Erlebnisberichte dazu bei.
- Alle wissenschaftliche Forschung muss maßgeblich durch Menschen mit Doppelexpertise (Verschickungskind und einschlägige Forschungserfahrung) erfolgen. Betroffene mit Doppelexpertise haben daher den Verein „Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickungen“ gegründet, der als Basis für die Organisation einer betroffenenorientierten, partizipativen Forschung dienen kann.
- Wir fordern die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Träger der Kinderkurheime auf, sich zu ihrer Verantwortung für das Elend der Verschickungskinder zu bekennen. Wir fordern sie auf, in einem ersten Schritt die Aufarbeitung zu ermöglichen, indem sie gemeinsam Finanzmittel in Höhe von mindestens 3 Millionen Euro zur Verfügung stellen.
- Eine Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener
- Ein partizipativ ausgerichtetes Forschungsprojekt, das die zahlreichen Erlebnisberichte auswertet und vor Ort Gruppen von Betroffenen bei ihren eigenen Recherchen begleitet. Die Geschehnisse in den Heimen, die Anzahl der Betroffenen und die institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen müssen umfassend untersucht und aufgeklärt werden.