Gewalt in Verschickungsheimen

Gewalt in Verschickungsheimen ( genannt: Kinderheim, Kindererholungsheim, Kinderheilstätte, Kinderkurheim, Kinderkurheilstätte) war kein Einzelfall, es handelt sich stattdessen um institutionelle Gewalt in Stätten der Kindererholung und Heilfürsorge. Bisher sprechen über 10.000 der bisher über unsere Webseite gesammelten Daten ( Fragebögen, Freitexte darin, Zuschriften, Menschen bei Zeugnis Ablegen, Betroffene bei Facebook und im Forum der „Initiative Verschickungskinder“ ) von in Verschickungsheimen erlittener seelischer und körperlicher Gewalt, sowie traumatischen, angstbesetzten Erlebnissen. Es handelt sich also bei der Gewalt in Verschickungsheimen nicht um ein Zufallsgeschehen, sondern um ein historisches Phänomen von gesellschaftspolitischer Bedeutung, das gründlich analysiert werden muss.
Diese Gewalt hat sich zwischen 1950 und 1990 in Kindererholungsheimen und Kinderheilstätten noch zugetragen, als die allgemeine und Kinderpädagogik und -psychologie schon deutlich weiter und humaner gestimmt war. Sie war auch in dieser Zeit nicht mehr zeitgemäß, sie musste vertuscht werden, und sie wurde auch von damals erwachsenen Zeitzeugen als unzeitgemäß bewertet.

Mögliche Ursachen für diese Gewalt

  1. Biografischer Zugang: Ursachenforschung nimmt nach Röhl, 21,1, zunächst als Ausgangspunkt die Tanten und ärztlichen Leiter, die die Gewalt in der Zeit des Verschickungsbooms ( 1950-1980) direkt ausgeübt haben. An diesem Punkt spielt die NS-Zeit eine große Rolle. Die in dieser Zeit dort arbeitenden Mitarbeitenden erfuhren ihre biografische und berufliche Prägung in der NS-Zeit.
  2. Strafende, “Schwarze Pädagogik” von Ärzten: Die Gewalt in der Erziehung, insbesondere die in der Erholungs- und Heilfürsorge hat ihre Wurzeln schon im 18. Jahrhundert, bei Jean Jaques Rousseau, und wurde im 19. Jahrhundert durch den Orthopäden Dr. Daniel Schreber in millionenstarken Erziehungsratgebern über ganz Deutschland verbreitet. Eine Reihe von Ärzten hat seitdem, bis heute, in ärztlichen Erziehungsratgebern, eine extrem harte und strafende, „schwarze Pädagogik“ in Büchern mit Millionenauflage propagiert, und in den Kindererholungsheimen wurde dies ganz besonders gepflegt. Strafende Pädagogik zeigt sich zur Hochzeit der Verschickung 1964 im Buch des Sepp Folberth von Dr. Hans Kleinschmidt, einem Euthanasiearzt, in einer 18-Punkte-Strafenliste, die dieser als mildernde Mahnung ausformuliert.
  3. Autoritäres, militaristisches Menschenbild: Daneben gibt es weitere Ursachenstränge für die dort vorkommende institutionelle Gewalt, diese gehen bis zur Antike zurück. Das autoritäre Menschenbild vom Kind gibt es als Religionsdoktrin, Militarismus-Doktrin, es wird in zahllosen dogmatischen Ideologien von autoritären Regimes auch heute noch propagiert.
  4. Theorie der Totale Institution: Auch in anderen Institutionen und in anderen Ländern ist vielfach institutionelle Brutalität gegen Kinder vorgekommen. Inwiefern das Phänomen der deutschen Kinderverschickungen, wie es im 19. Jahrhundert begann und in der Weimarer Republik ausgebaut wurde, in den 60er Jahren eine neue Blüte erlebte, ein typisch deutsches Phänomen ist, muss noch erforscht werden. Sämtliche von Ervin Goffmann aufgestellten Kriterien sind nach Röhl und Schmuhl in den Verschickungsheimen erfüllt.
  5. Finanzielle und wissenschaftsliche Interessen: Als mögliche Ursachen für die Brutalität des Kindesumgangs in den Verschickungsinstitutionen kommen viele Phänomene infrage, je intensiver man diese beforscht, desto mehr könnte man für die Zukunft ermitteln, welche Kriterien erneut zu ähnlichen Phänomen führen könnten und diese auszuschließen versuchen. Hierbei sind finanzielle Interessen ebenso zu untersuchen, wie wissenschaftliche. Erste Ansätze dazu im Buch: Das Elend der Verschickungskinder, 2021, ab S.203, dort werden neun verschiedene Ursachenstränge zur Diskussion gestellt. Eine sehr gute Zusammenfassung der Geschichte auch hier, in der aktuellen NRW-Studie des Marc von Miquel.