Zeitzeugenbericht von Birgit Lehne (4-8 Jahre) aus dem Seehospiz in Norderney (1965) und aus Ühlingen

1965: Seehospiz Norderney, ärztlicher Leiter: Dr. Menger, Diakonissinnen aus dem Mutterhaus Bad Harzburg, mit angeschlossener wissenschaftlicher Abteilung = Drei Aufenthalte: 1965, 67, 70

1972: Privat-Sanatorium Dr. Scheede, Ühlingen, Schwarzwald

VORGESCHICHTE:

Ich bekam im Alter von 11 Monaten Keuchhusten und wurde vom Kinderarzt noch auf die Schnelle gegen Keuchhusten geimpft. Da ich schon Neurodermitis hatte, soll das der Auslöser für mein Asthma gewesen sein. Dauerhafte Atemnot und Hustenanfälle bei der kleinsten Anstrengung waren die Folge. Meine Mutter ist in ihrer Verzweiflung ständig mit mir beim Kinderarzt gewesen. Der empfahl, ein weiteres Kind zu bekommen, damit sie sich nicht immer so auf dieses eine kranke Kind konzentriert. Als meine Schwester dann geboren wurde, war ich 3 1/2 Jahre alt. Mein Asthma war unverändert und dann auch noch ein Neugeborenes in der kleinen Wohnung.  Meine Mutter war endgültig am Ende ihrer Kräfte. Der Kinderarzt empfahl für mich einen Aufenthalt an der See und meine Eltern glaubten, es würde mir dort geholfen.

VERSCHICKUNG NORDERNEY 1965:

Ich wurde am 27. 8. 1965 zum ersten Mal nach Norderney  in das Seehospiz verschickt. Ich hatte das Glück nicht mit einem Sammeltransport anreisen zu müssen. Meine Eltern brachten mich. Sie hatten sich auf der Insel eingemietet, um mich in der ersten Woche besuchen zu können, das wurde ihnen verboten. Sie haben  noch versucht, am nächsten Morgen meine Gruppe beim Spaziergang zu finden, ich war aber nirgendwo zu sehen. Das deckt sich mit dem Arztbericht, ich habe in der ersten Nacht Fieber bekommen und musste neben der Trennung auch noch mit einer Pneumonie klarkommen. Man hatte meinen Eltern auch verboten zu schreiben, damit ich kein Heimweh bekomme. Daran haben sie sich gehalten. Jeden Mittag wurde die Post verteilt, ich bekam nichts, daran erinnere ich mich. Nur an meinem Geburtstag bekam ich Post, ein Paket mit Süßigkeiten, die an alle verteilt wurden. Als mich meine Eltern am 1. Dezember wieder abholten, habe ich nicht gesprochen, bis wir auf der Fähre waren und diese abgelegt hatte.

Meine ersten Worte waren dann “Ich habe geglaubt, Ihr holt mich nie mehr wieder”

Foto 1965, wurde der Familie aus dem Heim zugeschickt, links in Tracht: Schwester Gisela, rechts unten, erste Reihe: Birgit L.

Diese Kuren in Norderney wurden, vom Kinderarzt empfohlen, 1967 und 1970 jeweils wiederholt

SCHLAGLICHTER:

Essen und Gewicht: Zuzunehmen war sehr wichtig. Es wurde von den Nonnen aufgetan und das musste aufgegessen werden. Man musste so lange am Tisch sitzen, bis der Teller leer war. Ich erinnere mich daran, mit Nachdruck gefüttert worden zu sein, mit einer Hand gefüttert,  mit der anderen Hand wurde der Mund zugehalten. Ein Mädchen neben mir am Tisch erbrach sich über den Teller. Sie musste weiter essen und auch das Erbrochene aufessen. Einmal gelang es mir, ein Stück Brot mit grober fettiger Leberwurst in die Rocktasche zu stecken. Als wir hinterher zur Toilette durften, habe ich versucht, dieses Stück zu “versenken” . Das klappte leider nicht. Es wurde später von den Nonnen entdeckt, ließ sich aber nicht mehr einem Kind zuordnen. Die Nonnen schimpften mit der ganzen Gruppe und zum Schluss sagten sie “der liebe Gott wird den Täter bestrafen ” … Ich habe jahrelang Angst gehabt, in eine Kirche zu gehen.

Toilettengänge: Zur Toilette gehen war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Wenn ich in der Nacht musste, so musste ich lange allein im dunklen Flur stehen, bis die Nonne dann irgendwann die Erlaubnis gab. Andererseits bekam man aber auch großen Ärger, wenn man ins Bett machte. Tagsüber gab es feste Zeiten für den Toilettengang, außerhalb dieser Zeiten war es nicht erlaubt. Da hab ich mich in die Puppenecke gesetzt und habe auf die Kissen gemacht. Da Mädchen immer Röcke tragen mussten, hat das keiner bemerkt. Ich erinnere mich das mehr als einmal gemacht zu haben und dann bin ich mit der nassen Unterhose rumgelaufen bis sie wieder getrocknet war.

Foto 1967: Von den Schwestern der Familie zugeschickt

Liegekuren: Mittags gab es Liegekuren draußen in einem langen Gang. Alle lagen nebeneinander auf Liegen und mussten in eine Richtung auf der Seite liegen, damit wir nicht reden. Damit sich keiner dreht, wurde eine Decke um den Körper gewickelt und stramm fest gesteckt – ich ertrage heute noch keine engen Kleidungsstücke. Eine Nonne hat die Kinder beaufsichtigt, reden durften wir nicht.

Post: Post von meinen Eltern und Großeltern: Die erste Karte von meiner Mutter hat ganz rund gekaute Ecken. Die Post wurde mittags natürlich nur verteilt, wenn alle Kinder aufgegessen hatten und ruhig waren. Sonst wurde sie bis zum nächsten Tag wieder mitgenommen. Mittags wurden auch Pakete mit in den Speiseraum gebracht, die man z. B. bekam, wenn man Geburtstag hatte. Ich hatte dort 2x Geburtstag. Beim ersten Mal wurde ich dort 4. das Paket wurde vor allen geöffnet. Die Süßigkeiten wurden allen gezeigt und dann wurde ich gefragt, ob sie verteilt werden sollen oder in meinen Koffer gelegt. Das zu entscheiden war wirklich schwer mit gerade einmal 4 Jahren.

Postkarte der Eltern, an den Ecken abgekaut, weil Birgit L. aus Trauer daran gelutscht und gekaut hat

ENTLASSUNGSBEFUND:

ENTLASSUNG: Hier der Entlassungsbefund von Birgit Lehne, in dem kein Wort zur seelischen Befindlichkeit des Kindes gesagt wird und man sieht, dass das Kind massiv mit Somatisierung reagiert hat. Ein Kurerfolg wird einzig an der Gesichtsfarbe und der Gewichtszunahme festgemacht. Das passt dazu, dass Höhensonnenbestrahlung und Essenseinzwingen so eine große Rolle spielen.

1970, 8 Jahre: Bei meinem dritten Aufenthalt war ich 8 Jahre alt. Als ich gebracht wurde, musste ich im Speiseraum auf meine Gruppe warten. Da saß ein Kind, das auf seine Eltern wartete. Mit diesem Kind habe ich gespielt. Dann stellte sich nach einer Woche heraus, dass dieses Kind eine Hepatitis hatte. Also wurden alle Kontaktkinder isoliert. Ein kleines Haus mit ca. 10 Kindern, kein Garten, keine Spaziergänge an der See. Das habe ich meinen Eltern geschrieben. Mein Vater hat dann im Seehospiz angerufen und gesagt, dass es wichtig wäre, wenn ich an die Seeluft komme und wenn ich in dem Isohaus bin, würde er mich abholen kommen. Da wurde ihm gesagt “Ihre Tochter hat gelogen”. Als ich dann nach 14 Wochen abgeholt wurde, sagte man meinen Eltern die Wahrheit. Das war für meine Eltern der Grund, mich nicht wieder dorthin zu schicken. Aus dem Isolationshaus wurden nach und nach alle Kinder entlassen, sodass wir die letzte Woche nur noch zu zweit da waren.

Erinnerungssplitter und Angst: An vieles aus den ersten beiden Aufenthalten kann ich mich nur ganz vage erinnern. Ich habe zum Beispiel gelesen, dass Kinder auf Dachböden gesperrt wurden. Das kann ich nicht beschwören, aber ich sehe immer mal wieder einen großen leeren Dachboden vor meinem inneren Auge und ich habe heute noch Angst über einen knackenden Holzboden zu gehen. Nicht stören dürfen, habe ich gelernt. Das sitzt tief. Jemanden nur mal so anrufen kann ich nicht.
Angst im Dunkeln, bekomme ich nicht weg, manchmal kann ich nur mit dem Gesicht zur Tür schlafen, liege ich mit dem Rücken zur Tür, habe ich oft das Gefühl, eine Hand auf die Schulter gelegt zu bekommen und das ist keine freundliche Hand.
Zur Toilette gehe ich in fremder Umgebung nicht  selbst bei Besuchen in der Familie, oder aber wenn wir Besuch haben, dann kann ich auch nicht zur Toilette gehen. Das sind alles Dinge, die geblieben sind.

AUFENTHALT ÜHLINGEN:

1972 mit 11 Jahren: Mein Asthma war mit den Aufenthalten im Seehospiz nicht besiegt und die Ärzte empfahlen weiterhin Verschickungen. So kam es, das ich 1972 mit 11 Jahren und 1973 mit fast 13 Jahren nach Ühlingen kam in das Kindersanatorium Dr. Scheede. Meine Eltern fuhren gern Auto und so brachten sie mich hin. Die Fahrt von Celle bis Ühlingen dauerte lange. Dort angekommen, kamen wir in ein Arztzimmer zur Untersuchung und zum Gespräch. Dort musste und konnte ich mich dann auch von meinen Eltern verabschieden. Anschließend steckte man mich sofort in die Badewanne. Ich kam in ein 6 Bett Zimmer und wurde freundlich aufgenommen. Ich hatte sogar einen Schrank für meine Sachen, das war auf Norderney deutlich anders. Beim 2. Aufenthalt waren 2 Betten mehr in dem Zimmer, weil Ferien waren und mehr Kinder zur Kur fuhren. Das Essen wurde an den Tisch auf Platten und in Schüsseln gebracht. Man durfte sich die Menge nehmen, die man wollte. Man konnte jederzeit nachnehmen. Was man sich genommen hatte, das musste man aufessen. Mag es daran gelegen haben, dass ich älter war, jedenfalls:

Ich hatte mehr als genug das Zwangsfüttern auf Norderney erlebt und fühlte mich wie im Paradies. 

Auch sonst war es ganz anders: Wir durften jederzeit zur Toilette gehen, auch in der Nacht. Mittags mussten wir in die Zimmer, wenn wir nicht schlafen wollten, dann durften wir uns leise beschäftigen, lesen oder Spiele spielen, nur die Anderen nicht stören. So hat mir z.B. ein Mädchen, das Contergan bedingt, keine Arme hatte, auf einem Reiseschachspiel das Schachspielen beigebracht. Das Heim hatte eine Sporthalle im Keller, in der wir in Kleingruppen Übungen machen mussten. Ich hatte jeden 2. Tag Unterricht mit noch einem Mädchen in Englisch und Mathe. Da war ein Lehrer, der ins Haus kam. Es gab aber auch einen großen Spielplatz hinter dem Haus, auf dem wir gern gespielt haben. 

Foto 1972, Birgit L. privat mit eigenem Fotoapparat aufgenommen

Einmal in der Woche wurde nach Hause geschrieben. Allerdings wurden auch unsere Briefe von den Betreuerinnen gelesen, “damit keine Schreibfehler drin sind”. Vor Kurzem habe ich mit meiner Mutter noch einmal über meine Verschickungen gesprochen. Da erzählte sie mir, dass die Leiterin Frau Dr. Scheede von ihrem Liebhaber umgebracht worden ist. Das wäre sogar in Niedersachsen durch die Presse gegangen.

FOLGEN:

2013, in meinem 52. Lebensjahr, schickte mich mein Personalarzt zur “Kur” nach Borkum. Wir sollten möglichst mit dem Zug anreisen, ich nahm das Auto und nahm es auch mit auf die Insel, der Preis war mir egal. Am ersten Morgen sollten wir in Unterwäsche und Bademantel zum Wiegen kommen,  ich kam voll angezogen und hab mich so auf die Waage gestellt. Eine Blutentnahme habe ich verweigert. Ebenso die Gewichtskontrolle am Ende des Aufenthaltes. Ich bekam Anwendungen in einer großen Badewanne mit warmen Wasser. Ich sollte nackt nur mit Bademantel bekleidet zur Anwendung kommen, mich anschließen schnell abtrocknen und so wieder zurück ins Zimmer. Ich kam voll bekleidet, zog zur Anwendung einen Badeanzug an und zog mich anschließend wieder vollständig an. Das machte die Therapeuten ärgerlich, weil es Zeit kostete, aber ich konnte nicht anders. Ich habe viel Heimweh gehabt, habe keine Kontakte zugelassen und jede freie Minute in meinem Zimmer gesessen. Die meiste Zeit habe ich geweint. Ein paar mal bin ich mit dem Auto zum Fähranleger gefahren. Am Abreisetag war ich die erste an der Schranke zur Fähre. Ich habe dafür sogar das Frühstück sausen lassen und auf der Fähre gefrühstückt. Zu Hause habe ich dann vor Freude nur noch geheult. 

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