Ort: Wyk auf Föhr, Heim: Berliner Kinderheilstätte Schöneberg, Gmelinstraße 7-13, in Wyk auf Föhr, heute: Behindertenheim, Geschichte: Gegründet 1882, 1935 enteignet und in NSV überführt, nach 45 Träger: Bezirksamt Schöneberg von Berlin, Entsendestellen: Vertragsheim Landesversicherungsanstalten (LVA) und alle Kassen.

Einst gab es am Nordseestrand in Wyk auf Föhr ein mehrstöckiges Haus mit einem weißen Zaun. Dahinter standen,  auf einer riesigen Glasveranda,  Kinderbetten aufgereiht. Die pralle Sonne bestrahlte die unter weißen Bettdecken liegenden Kinder. Dort machten diese Kinder Liegekuren, um gesund zu werden. „Haben die Kinder es gut!“, dachte die kleine A., als sie dort als Schulkind täglich vorbei lief, „die dürfen schlafen, während ich in die doofe Schule muss“.  Aber seltsam fand sie doch, dass die Kinder so starr dort lagen, sich gar nicht bewegten.  Das war anders, als dieselbe Frau dann viele Jahre später als Oberärztin in demselben Heim tätig war. Angestellt beim Bezirksamt Schöneberg von Berlin, inmitten eines Ärzteteams mit Chefarzt, Oberarzt, Assistenzarzt, Oberschwester und Pflegepersonal, war die einstige TBC-Kinderheilstätte, als die Erkrankungen zurückgingen, lange Jahre mit Verschickungskindern aufgefüllt und schließlich dann, in den 70er Jahren sukzessive in ein Behindertenheim umgewandelt worden.  Ohnehin zog sich, der eigentlich für sechs Wochen geplante Aufenthalt, besonders für Kinder mit Knochen-TBC, teilweise über Jahre hin. Und auch, als es längst ein Behindertenheim war, da gab es noch die Oberarzt-Stelle, den Chefarzt, das Ärzteteam. Frau Dr. K. hat das nie bedauert, denn schließlich sei sie, wie sie verschmitzt im Gespräch mit der Autorin verkündete, jahrzehntelang nur als Behinderten-Betreuerin tätig gewesen, aber immer weiter als Oberärztin bezahlt worden. Der Dienstherr war weit weg, es war das Bezirksamt Schöneberg in Berlin, genauer, das bezirkseigene Auguste-Viktoria-Krankenhaus, dem die Kinderheilstätte verwaltungstechnisch zugeordnet war. 

Es gibt ein Buch: Der weiße Zaun, (Christa Hengsbach, 2014) da wird über ein Kind aus dieser Zeit berichtet. Aus seinen ursprünglich geplanten sechs Wochen werden acht Jahre. Er verbrachte seine ganze frühe und späte Jugendzeit bis zum Erwachsenenalter in diesem Heim. Er lag im Gipsbett, er kämpfte sein Heimweh nieder, er vergaß seine Eltern und freundete sich mit Bettnachbarn und Betreuerinnen an, die Insel wurde sein Zuhause. 

Andere erlebten es anders: eine damals sechsjährige Augenzeugin., die 1962 Jahre von Berlin ins Haus Schöneberg verschickt wurde, kam nach den 6 Wochen auch nicht mehr zurück. Die Eltern wunderten sich. Von Monat zu Monat verschob sich die Rückreise. Acht Monate blieb sie in dem Heim. Der Vater insistierte. Das Mädchen kam zurück. Schlimmes hat sie dort erlebt. Die Tanten, wie man die Betreuerinnen nannte, seien der Graus gewesen. Nach einer langen Fahrt durch Dunkel, die sie voller Heimweh durchwacht hatte,  wurde sie brutal in einem großen Baderaum abgeschrubbt. Bis es weh tat. Danach mussten alle sofort ins Bett. Die Tanten waren streng. Es wurde damit gedroht, sie in eine dunkle Kammer einzusperren. Sie hatte so  viel Angst vor den strengen Tanten, dass sie dachte, ihr Leben sei zu Ende. Im Ess-Saal weinten alle Kinder, viele übergaben sich, alle wurden zum Essen ekliger klumpiger Milchsuppen gezwungen. Jeden Tag mussten sie Mittagsschlaf auf dem langen, grauen Balkon machen, sie erinnert sich an stundenlanges Stillliegen auf  Pritschen mit grauen Decken, dazu die Drohungen der Tanten: „Augen zu, Mund zu, still!“. Sie hatte dort keine Freundin, hat sich von aller Welt verlassen gefühlt. Irgendwann war sie willenlos. Die erste Zeit hatte sie Bauchschmerzen, aber niemand hat sich dafür interessiert. Einmal hat ihre Mutter sie dort besucht, sie war in einer Pension in der Nähe des Kinderheims untergebracht. Das Mädchen hat sich an sie geklammert, doch die Mutter musste wieder fahren. Das war ein Alptraum. Sie wurde regelmäßig geröntgt, es wurde ihr Blut abgenommen. Dabei hat sie geschrien, aber keiner hat sie getröstet.  Sie musste viele Medikamente einnehmen, davon hat sie eine leichte Schwerhörigkeit zurückbehalten. Einmal ist sie von der Betonkante der Strandpromenade heruntergestürzt, es tat sehr weh, keiner kam zu ihr. Als sie nach Hause zurückkam war sie eine andere. 

Auch eine andere Zeitzeugin fand sich auf Wyk, eine Frau B. (Name geändert), sie war mit dabei, als mehrere Mitarbeiter*innen des Hauses Schöenberg Anfang der 80er Jahre aufstanden und sich gegen die rüden Methoden wandten, wie dort mit Kindern umgegangen wurde. Danach soll es einen Prozess wegen Kindesmisshandlung gegeben haben, darüber soll im Inselboten berichtet worden sein. Seltsamerweise fand sich im Inselarchiv dazu nichts. Rätsel um Rätsel um das fern von Berlin liegende Heim, wohin Jahr um Jahr Berliner Kinder verschickt worden sind. 

Nun soll das Rätsel um das Haus Schöneberg endlich gelüftet werden. Was hatte es auf sich mit der Einrichtung im fernen Wyk? Um was für eine Summe geht es da, die dem Bürgermeister angeboten wurde, damit er den Mund hält? Was ist mit der Oberärztin, die Jahrzehntelang keine ärztliche Tätigkeit ausgeübt hat, aber volle Bezüge erhielt? Wieso wurden Kinder gefesselt nach dorthin verbracht, so dass sich sogar schon Touristen beschwerten und was hat es einstmals für einen Prozess um Misshandlungen gegeben? 

Der jetzige Stadtrat für Jugend, Umwelt, Gesundheit, Schule und Sport von Tempelhof-Schöneberg, Herr Oliver Schworck, SPD, will es aufklären. Nachforschungen im Stadtarchiv unterstützend begleiten. Er selbst war auch einmal in solch einem Verschickungsheim. Da hat man ihn grausam zum Essen gezwungen. Die ganze Atmosphäre war kalt, streng und angstbesetzt.  Heute möchte er sich als Stadtrat von Tempelhof-Schöneberg konkret dafür einsetzen, dass das Rätsel um das Haus Schöneberg gelöst wird. Was war es für ein Heim, das aus dem Budget des Bezirks Schöneberg so viele Jahrzehnte bezahlt worden war? Wo, wie er von der Initiative Verschickungskinder aus einem Dokument erfuhr, Kinder und Jugendliche aus Berlin „gefesselt verbracht“ worden sind, worüber sich „wiederholt Touristen beschwert“ hätten.   Welche kaltherzigen Menschen arbeiteten dort mit Kindern, w ? Was hatte sie so kalt werden lassen?  Er verspricht, sich dahinter zu klemmen, die Zustände dort mit aufdecken zu helfen.  Der Vergangenheit muss hinterher geforscht werden, sonst kann man nichts für die Zukunft lernen. So etwas darf nie wieder geschehen. 

Außer der Suche nach Akten, suchen wir Zeitzeug*innen. Welche Menschen sind noch in den 50er bis 70er Jahren, als sie Kinder waren, von Berlin aus ins Haus Schöneberg transportiert worden und möchten über ihre Erfahrungen sprechen? Meldet euch beim Stadtrat Oliver Schworck oder der Berliner Gruppe der Initiative Verschickungskinder: berlin@verschickungsheime.de

Das Haus Schöneberg wurde von allen Berliner Bezirken belegt und es gab auch diverse andere Heime im ganzen Bundesgebiet, in die Berliner Kinder verschickt wurden.  Die Berliner Gruppe der Initiative Verschickungskinder (berlin@verschickungsheime.de) freut sich über Kontaktaufnahme von allen Betroffenen und Zeitzeug*innen. Wir haben In Berlin eine Selbsthilfegruppe und einen Aktiventreff. Ankündigung unter TERMINE auf der Seite: www.verschickungsheime.de