ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN
Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung. Sie sind damit Anfang und Teil eines öffentlich zugänglichen digitalen Dokumentationszentrums. Darüber hinaus können, Einzelne, die sehr viele Materialien haben, ihre Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild versehen, zusammen mit der Redaktion als Beitrag erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einstellen. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel
Wir schaffen nicht mehr, auf jeden von euch von uns aus zuzugehen, d.h. Ihr müsst euch Ansprechpartner auf unserer Seite suchen. ( KONTAKTE) Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr weitere Möglichkeiten:
- Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selbst Ansprechpartner eures eigenen Heimes, so findet ihr am schnellsten andere aus eurem Heim.
- Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
- Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen
Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!
Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.
Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.
Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der “Initiative Verschickungskinder” (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen
Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.: IBAN: DE704306 09671042049800 Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de
Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen
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Immer wenn ich was über Verschickungsheime mitbekomme, muss ich an Ruhpolding denken.
(Vorsicht Triggergefahr, ich bin da recht offen)
Ich habe am Ende des Textes eine Überschrift gefunden:
"Wozu braucht man eine Kullertränenfabrik?"
Ich war vielleicht vier oder fünf Jahre alt und wurde gemeinsam mit meinem Bruder nach Ruhpolding geschickt. Das muss so 1979 rum gewesen sein.
Wenn ich heute nur Ruhpolding höre, dann löst das in mir enorm viel aus. Es war die Hölle und ich kann mich nur noch an Bruchstücke erinnern.
Ich habe keine Ahnung, wie lange es dauerte. Ich weiß aber noch ganz genau, wie wir ankamen, mit vielen anderen Kindern in einem Bus, der vor diesem Haus hielt, es war neblig, kalt und alles sehr fremd und bedrückend. Wir schienen irgendwie alle keine Ahnung zu haben, warum, weshalb und wie lange wir dort sein sollten. Wir mussten dann ein paar Betonstufen runter, in einen Speisesaal.
Es wurde ausschließlich mit Befehlston mit uns gesprochen und wir mussten (ja mussten) Kakao trinken.
Dieser hatte Haut oben drauf, vor der ich mich sehr ekelte und die ich erbrechen musste, ich musste würgen und erbrechen vor Ekel und diese Frauen dort (ich glaube Schwestern oder Nonnen) zwangen mich dieses Erbrochene wieder aufzuessen es gab Schläge auf den Hinterkopf (auch heute habe ich noch große Probleme mit Erbrochenem, aber wer auch nicht). Das war am ersten Tag, am zweiten Tag dasselbe, aber mein älterer Bruder (ca 1 Jahr älter) fand Haut auf dem Kakao nicht so schlimm und er hatte die ganz schnell für mich runter gemacht. Er bekam ja mit, wie ich litt und gequält wurde, wie ich schrie und weinte und wie lange wir am Tisch sitzen mussten, gefühlt bis spät in die Nacht bis ich das Erbrochene eben irgendwie runterwürgen konnte. Bis meine Augen leer geweint waren.
Ich weiß sonst noch, dass wir träumen MUSSTEN, um am nächsten Tag Träume zu erzählen, ich wurde als Lügner hingestellt und ziemlich fertig gemacht, dass ich da nicht lügen dürfe und dass alle träumen und ich sagen muss, was ich geträumt hätte. Als ich aber sagte, ich hätte nichts geträumt wurde ich hart und streng bestraft (ich kann mich allerdings nur noch an das Gefühl erinnern, ich glaube ich musste mich auf so einen gelben Würfel stellen und alle zeigten auf mich und sollten Lügner sagen oder böse rufen oder sowas). Man wurde dort generell oft vor anderen bloß gestellt, auch wenn man vor Angst ins Bett machte wurde vor allen ausgelacht und bloß gestellt.
Ich hatte solche Angst und war so eingeschüchtert, dass ich beim nächsten Mal erzählte, dass ich von Superman geträumt hätte, was ich mir ausdachte um nicht wieder bestraft zu werden. Den malte ich dann auch, womit ich mich sehr unwohl fühlte, weil man in unserer Familie eigentlich ehrlich war.
Ich habe bruchstückhafte Erinnerungen wie ich in eine Art Arztzimmer musste, mit orangebraunen Wänden und so einer dunkelblauen oder schwarzen Arztliege. Dort zog ein Mann mich aus und fasste mich überall an, auch an den Genitalien, auch am und im Po, wie oft das passierte, weiß ich nicht mehr. Sonst waren nur Frauen dort, nur böse Frauen mit Strafen und Befehlen, ich glaube dieser Pseudoarzt war der einzige Mann dort. Inwiefern diese "Untersuchung" medizinisch bzw. irgendwie diagnostisch notwendig war, kann ich schwer einschätzen, vielleicht hatten solche Methoden damals einen Sinn, heute würde man bei Vorschulkindern wahrscheinlich keine Prostata untersuchen...
Dies triggerte mich allerdings alles auch sehr an, da ich seit meinem dritten Lebensjahr (oder früher, jedenfalls seit ich denken und mich erinnern kann), von meinem Opa sexuell missbraucht wurde. Von daher dachte ich sowieso es sei völlig normal, wenn alte, stinkende Menschen einen ausziehen und überall anfassen oder verlangen, dass man sie anfasst, oder dass man gestreichelt wird oder streicheln soll oder dass man irgendwas in den Hintern gesteckt bekommt.
Als Kind dachte ich zumindest alle alten Menschen machen dies mit ihren Enkeln und da sei nichts außergewöhnlich dran. Erst mit 8 sowas lernte ich über das Fernsehen, dass sowas nicht normal ist und verboten dann wollte ich nicht mehr, wurde erpresst und unter Druck gesetzt und so mit 9 oder 10 sagte ich "nein" und war fest davon überzeugt er würde mich für meine Verweigerung umbringen, stattdessen zerstörte mein Opa ganz gezielt mit Lügen meine Glaubwürdigkeit in meiner Familie, die ich dadurch sozusagen für eine Lange Zeit verlor, (hoffe das ist nicht zu hart, ich kann da mittlerweile gut und frei drüber reden, dies klappte bis zu meinem 22. Lebensjahr nicht, da mir bis dahin schlicht die Worte für das Erlebte fehlten).
Seit diesem Zeitpunkt dieser "Untersuchung" in Ruhpolding habe ich eigentlich garkeine Erinnerungen mehr an dieses Haus und an das was da genau passierte, ich befürchte schlimmeres oder noch mehr Ähnliches, irgendwie Dinge vor denen mich mein Gehirn versucht zu schützen eben.
In meiner Erinnerung ist Ruhpolding für mich der Inbegriff von Hölle, von Unterdrückung, von harten Strafen und ja ich würde es Folter nennen, auf jeden Fall enorme unfassbare Gewalt.
Ich habe an die Zeit dort keine eine schöne Erinnerung, außer dass mein Bruder mich davor rettete die Kakaohaut erneut zu erbrechen und dieses Erbrochene dann wieder aufessen zu müssen.
Es war der liebloseste Ort, an dem ich je war, den ich mir überhaupt vorstellen kann.
Die Bedrückung und Angststarre der Kinder dort waberte wie der Nebel über Ruhpolding und wenn ich das schon höre "RUHPOLDING", dann ist der Nebel über Ruhpolding das passende Bild für dieses Kalte, Nasse, Feuchte, Eklige genau das wie alles dort war. Ein Ort an dem möglichst keine Menschen sein sollten, aber an welchen erstrecht keine schutzlosen einsamen Kinder geschickt werden sollten. Doch diese brachte man mit Bussen alleine und voller Angst dorthin und keines der Kinder wusste warum oder wie lange oder ob sie je wieder aus dieser Hölle heraus kommen würden.
Es gab keinen Kontakt zu den Eltern, man war plötzlich in einer anderen Welt, eklig, kalt, herzlos, brutal und dann dieser Nebel mit einem unangenehm kalten Nieselregen der immer da war und vor dem es keinen Schutz gab.
Genauso war die Kälte in den Herzen der bösen Frauen dort und wie vor dieser Kälte erstarrt waren die Blicke der Kinder, große starre Kinderaugen ohne Freude, ohne Lächeln in ständiger Angst, vor der nächsten Gefahr vor der nächsten Aktion, vor der nächsten unangenessenen Strafe, vor der Hilflosigkeit und der Machtausübung dieser bösen Menschen dort.
Aber die Kinderaugen waren nicht schnell, nicht wie auf der Flucht, nicht wie in Panik, nicht wie erschreckte Kanninchen. Nein! Es war der Schock in ihren Augen, die großen Kinderaugen voller Angst, voller Fassungslosigkeit, voll Schock, gepaart mit Hilflosigkeit. Sie konnten nicht mehr springen, rennen, spielen oder fliehen. Sie wirkten wie man sich die Tiere in Seligmans Experimenten zur erlernten Hilflosigkeit vorstellt, aber die Kinder durften sich nicht zusammenkauern, sie durften nicht richtig trauern, obwohl sie alles verloren hatten, was sie kannten.
Wir mussten jetzt Befehlen gehorchen, Tränen kullerten aus Kinderaugen, die nicht verstanden was passierte.
Es schienen alle, wie ich aus der Familie gerissen worden zu sein, weit weg von Schutz, Wärme, Geborgenheit und Verständnis in eine Welt von Befehlen und Anweisungen, von Regeln, die wir weder kennen, noch verstehen konnten, von solch kalter Herzlosigkeit, die Kinder nicht fassen oder verstehen können, die niemals ein Kind erleben sollte.
Es schockierte zusätzlich das, was anderen an Leid angetan wurde.
Man sah schockierte Kinderaugen mit leisen ängstlichen Kullertränen.
Gefühlt war keines der Kinder bereits im Schulalter, wir waren noch richtig richtig klein. Wir waren bedürftig und abhängig, brauchten Schutz, wir brauchten doch mal eine Umarmung, mit Mama Kuscheln, auf Papas dickem Bauch einschlafen, Nähe, mal etwas Aufmerksamkeit, wir brauchten doch Liebe.
Aber es war Ruhpolding, hier gab es keine Liebe, von niemandem, für niemanden, Ruhpolding eben.
Kullertränen interessierten niemanden, es gab sie täglich, bei allen. Aber Ruhpolding liegt auf einem kalten Berg, vielleicht um nicht in Kullertränen zu versinken, diese kullerten runter, aus den geschockten Kinderaugen, die Wange runter tropften sie auf den Boden. Ich glaube es war ein grauer Linoleumboden passend zum grauen kalten Himmel über dem nieselnebligen Ruhpolding (wie ich diesen Namen hasse, diesen Hass kann man geschrieben garnicht ausdrücken). Die Kullertränen von allen tropften zu allen Zeiten. Nein, nicht von allen gleichzeitig, manchmal waren Kinder einfach leergekullert, dann kamen auch keine Tränen mehr. Dann wurden wir so kurzatmig, man rang nach Luft, suchte Kraft und Energie, weil es noch so viel zu weinen gab und die Verzweiflung nicht zu ertragen war. Es gab immer ein Kind, dass noch Reserven hatte, vielleicht hatten welche auch eine bessere Atemtechnik, oder, oder, oder. Es weinte ständig eins von uns Kindern, denn es war uns allen zu viel, zu schlimm. Einige wurden geohrfeigt, einige bekamen vor allen den Hintern versohlt und einige am Ohr hoch in die Luft gezogen. Immer wieder wurden einzelne Kinder vor allen bloß gestellt, zum Gespött gemacht, ausgelacht, gedemütigt. Es gab keine Lieblinge, alle erlebten das, alle wurden von den bösen Frauen dort ausnahmlos gehasst. Solche Menschen sollten nicht mit Menschen arbeiten und schon gar nicht ihre Gewalt an Kindern ausleben. Was war nur los mit diesen Frauen, wieviel Hass und Gewalt kann nur in diesen Frauen gesteckt haben?
Erst als ich viel älter war, lernte ich wie der Kreislauf des Wassers funktioniert. Vielleicht war der nasse, unangenegme Nebel über Ruhpolding aus verdunsteten kalten Kullertränen gemacht, oder die Kullertränen kullerten ins Tal zum Kreislauf der Kullertränen, die dann wieder neuen Nebel schufen, was für ein schlimmer Ort - RUHPOLDING.
Aber alle Kinder hatten die Kullertränen, die immer leiser wurden, denn alles schluchzen, weinen und nach Atem ringen machte es höchstens schlimmer, doch helfen konnte nichts.
Es war eine herzlose und gottlose Kullertränenfabrik nur wusste ich als Kind nicht wozu, die anderen wussten es auch nicht, es wusste damals niemand.
Heute? Ja heute!
Heute weiß ich es auch nicht... Wer zur Hölle braucht eine kalte Kinderkullertränenfabrik die Ruhpolding heißt?
In Ruhpolding war egal, ob geweint, geschrien, geschluchzt oder getobt wurde man war unter vielen geschockten Kindern alleine, denn kaum ein Kind hatte Ressourcen für die anderen. Außer mein großer Bruder, der mich an einigen Tagen vor der Haut auf dem Kakao und der Gewalt der bösen Frauen dort retten konnte.
Ich hatte damals eine Puppe dabei, und mit dieser habe ich wohl um mich geschlagen um mich zu wehren gegen die Gewalt dieser Frauen, aber auch gegen andere Kinder, die mich ärgerten (auch weil ich ein Junge mit Puppe war), sie wurden ja auch dazu angestachelt, durch das ständige bloß Stellen durch die bösen Frauen dort. (irgendwie fällt mir auch keine andere Bezeichnung als "böse Frauen" ein, denn Nonnen, Schwestern, Betreuerinnen sind zu positive und damit falsche Bezeichnungen, für mich als Kind kamen sie direkt aus der Hölle).
Vor kurzem sah ich irgendwo im Fernsehen wieder etwas über "Verschickungsheime" und musste wieder genau daran denken, an RUHPOLDING. Aber ich habe keine Ahnung, ob diese Hölle tatsächlich solch ein "Verschickungsheim" war.
Ich glaube es wurde im Nachhinein immer Kur genannt. Kur, Verschickungsheim, Kullertränenfabrik, für mich war immer das Wort "Ruhpolding" das was das alles beschrieb.
Natürlich weiß ich heute als erwachsener Mann, dass Ruhpolding ein Ortsname ist, aber wenn ich an Ruhpolding denke, dann fühle ich das Leid, das Leid, dass eine Kullertränenfabrik produzierte, wo ich wahrscheinlich niemals verstehen werde, wer dieses Leid denn für was gebrauchen konnte. Ich verstehe bis heute nicht warum und wieso. Als Kind scheint es normal, dies oder das nicht zu verstehen und im Vorschulalter versteht man, je nach Entwicklung, nichtmal die Uhr oder den Kalender, vor allem hatten wir auch beides nicht. Es war zu Zeiten, als Captain Future in seinem Raumschiff, in der Komet, ein schnurgebundenes Telefon benutzte, Handys konnte man sich damals nichtmal vorstellen.
Wie soll man verstehen weg zu sein, wie soll man wissen oder hoffen können, ob man da wieder rauskommt (konnte je jemand aus einer Kullertränenfabrik fliehen?). Man fühlte viel und wusste garnichts, und wünschte sich so sehr was zu wissen. Aber bitte, bitte nichts mehr zu fühlen.
Aber selbst die großen Leute haben Probleme ihre Gefühle zu kontrollieren, ihre Ängste in den Griff zu bekommen und es ist normal, dass Menschen da manchmal Hilfe brauchen.
In Ruhpolding gab es keine Hilfe, für niemanden, es war RUHPOLDING, das Tor zur Hölle.
Es schien eine sehr professionelle Kullertränenfabrik zu sein, aus der es kein entkommen, kein entfühlen gab. Man musste fühlen, die Kälte und den ständig nassen Nebel. In meiner Erinnerung war dort immer eklig kalter Nebel, nichtmal Gott konnte mit Licht, Wärme und Sonne durchdringen, um den Kindern, die gefangen waren, alleine in der Kullertränenfabrik, nichtmal Gott konnte uns wärmen.
Und wir wurden sehr christlich aufgezogen, ich wollte später lange Zeit Pfarrer werden und während andere bei Vorbildern und Idolen Karl Heinz Rummenigge nannten, dachte ich an Jesus. Mein Vater war bei Kirche unterwegs aktiv und wir waren auf einigen Campingplätzen es wurden mit den Kindern Spiele gespielt und Lieder gesungen und getanzt, das war für mich als Kind was, wo Gott war, alles Schöne eben.
Aber wenn das Gott war, dann war Ruhpolding der gottloseste Ort, den man sich nichtmal vorstellen konnte, ich hätte mir so einen kalten Ort insbesondere zu der Zeit nicht vorstellen können und ich glaube als Kind war Ruhpolding für mich dasselbe wie Gottlos, das Tor zur Hölle eben.
Auf www.ruhpolding.de steht:
"Ruhpolding ist ein idyllischer Ort in den Bergen, wo man Sommerfrische, Almen, Bergtouren, Radfahren und Veranstaltungen genießen kann"
Irgendwie scheint es eine sehr unterschiedliche Sichtweise zu geben und ich weiß, dass meine negative Sicht, durch dieses Haus und diese Erfahrungen dort herrühren. Aber mein Gehirn kann einfach nicht annehmen, dass es an so einem Ort Sommer geben kann, Frische ja, wenn Frische gleich Kälte und ekligen nassen Nebel meint, ok... Leider geht es mir auch mit dem Wort genießen so, wer kann denn eine Kullertränenfabrik genießen? Was müssen das für Leute sein? Ich weiß, dass dies meine Vorurteile und meine gottlosen Erfahrungen an diesem Ort sind. Und es wäre sicher sinnvoll, mal dort hin zu fahren vielleicht ein paar Tage, vielleicht gibt es dort ja wirklich auch was anderes als diesen ekligen Nebel um die Kullertränenfabrik herum...
Vielleicht wurde diese Fabrik auch längst abgerissen, ich traute mich noch nicht wirklich zu schauen. Die strafenden Unmenschen die dort arbeiteten sind wahrscheinlich schon tot oder kurz davor. Vielleicht tragen auch garnicht alle von dort so viel Schuld, wir waren klein, sehr klein und es gab gefühlt keine Liebe in Ruhpolding....
Heute fragte ich meine Mutter per WhatsApp Nachricht, angeregt durch diese Verschickungsheim Reportage im Fernsehen, ob sie sich an Ruhpolding erinnern könne und noch weiß wie das hieß oder über welche Organisation das lief und sie antwortete einfach nur "nein", was ich sehr ungewöhnlich finde (allerdings ist sie auch gerade mit einer Freundin im Urlaub).
Wenn ich ein Vorschulkind mehrere Wochen alleine, bzw. mit Bruder irgendwo hin schicke, dann mache ich das doch mit einem Grund oder mit Ziel. Vielleicht frage ich meinen Bruder auch nochmal wie seine Erinnerungen Ruhpolding betreffend sind.
Ich selbst bin mir absolut unsicher, ob sowas ein sogenanntes Verschickungsheim war.
Da ich wirklich nur Bruchstücke erinnere und diese wie bei einem Trauma in visuellen Flashbacks zurück kamen.
Also ich habe auch noch das Bild im Kopf wie wir bei diesem Nebel eine graue Treppe runter in dieses Haus gingen, es hatte glaube ich so 50er Jahre Türgriffe mit gold und schwarz. Auf dem Tisch standen diese Metallkannen, die man aus Jugendherbergen kennt, mit dem Kakao mit der Ekelhaut drauf. Zu anderen Zeiten gab es diesen Jugendherbergsfrüchtetee, den ich bis heute nicht mehr trinken kann (Hagebutte).
Und wir waren mehrere in einem Zimmer mindestens vier oder sechs in Stockbetten, zusammen mit anderen Kindern und alle waren bedrückt, eingeschüchtert, ängstlich, gefangen, eine kalte und grausame Atmosphäre geprägt von der Gewalt der Erwachsenen an diesem Ort (ich wollte erst Betreuende schreiben, aber das wäre irgendwie falsch, die waren einfach nur so böse, wie ich es nie vorher erlebte richtig, richtig böse).
Das sind so grob die einzigen Bilder die ich noch erinnere. Das schlimmste ist wirklich das Gefühl, dass ich erinnere diese Befehle, die Strafen, das Betatschen, das bloß stellen, Vorführen und auslachen, Ekel, Angst, richtig viel Angst man war in einem ständigen Hyperarousal. Also diese Grundstimmung, dass man nicht weiß was wohl als nächstes passiert, man aber enorme Angst davor hat. Und dann die Emotionen der anderen Kinder (ich bin sehr sensibel für Emotionen). Diese geballte Angst und dass alle nicht verstanden, was da passierte und Hilflosigkeit, ich konnte weder mir, noch anderen helfen, alle mussten alles über sich ergehen lassen. Hilflosigkeit, viel Hilflosigkeit. Gefangen in einer unbegreiflichen Kullertränenfabrik in einem "idyllischen Ort in den Bergen, wo man Sommerfrische, Almen, Bergtouren, Radfahren und Veranstaltungen genießen kann".
Aber ich spüre auch Dankbarkeit, dass mein Bruder mich an einigen Tagen retten konnte und er die Haut von meinem Kakao nahm. Und dass es vorbei ging, es war nicht für immer, irgendwann war es vorbei. Ich würde mich so gerne daran erinnern wie es vorbei war, wie wir nach Hause durften, aber da habe ich keinerlei Erinnerungen mehr dran.
Ohje jetzt wo ich das alles schreibe, ich glaube sie hatten mich auch irgendwann von meinem Bruder getrennt, das kann ich aber nicht zu 100% sagen. Sie taten viel um uns zu foltern, zu quälen und psychisch klein zu halten...
Aber gehört sowas denn mit zur Definition der Verschickungsheime, oder war das einfach nur eine Kinderkur mit schlechtem Personal, als wir viel zu jung für sowas waren?
Auch wenn die Erinnerung daran immer einfach nur Schock und Ekel auslöste und an die Angst erinnerte und an diesen schlimmstmöglichen Ort, spielte Ruhpolding für mich nie so eine entscheidende Rolle, der Ort ist schlicht als Kullertränenfabrik und gefühlte Hölle gespeichert und ich bin mir sicher dort irgendwann mal hin zu fahren, denn ich weiß dass meine Erfahrungen nicht im kausalen Zusammenhang mit dem Ort an sich stehen und ich möchte mich gerne meinen Ängsten und Vorurteilen stellen. Vielleicht gibt es dort auch was schönes, vielleicht ein Wellnesshotel in das ich mich mal eine Woche einbuche, oder vielleicht fahre ich erstmal mit meinem Camper dorthin (um im Notfall flüchten zu können, denn als Kinder konnten wir nicht flüchten, jetzt bin ich groß und stark und solch ein Ort sollte mir eigentlich keine schlechten Gefühle mehr machen - vielleicht sollte ich diese Erfahrungen mal den Tourismusverantwortlichen dort schicken vielleicht werde ich ja als Entschädigung eingeladen 😬 nein ich weiß ja, der Ort Ruhpolding selbst kann wohl garnichts für die Hölle, die es in diesem dort gab)
Erst durch eine Reportage im Fernsehen vor einigen Jahren über Verschickungsheime wurde ich regelrecht angetriggert und ich glaube auch gehört oder gelesen zu haben, dass in einer dieser Anstalten, ein anderes Kind auch das eigene Erbrochene wieder aufessen musste. Ich meine es gäbe zahlreiche ähnliche und auch schlimmere Geschichten.
Es gibt einige Parallelen, aber ich verstehe nicht genau, ab wann so eine Einrichtung als Verschickungsheim gilt, oder eben als eine Kur, in welcher SadistInnen arbeiteten oder ob diese Gewalt zu der Zeit vielleicht auch normal war. Immerhin durften Kinder noch bis November 2000 von ihren Eltern geschlagen werden, wir sind da ja recht langsam, was Kinderschutz angeht.
Ich habe mich nie näher mit Ruhpolding befasst und finde es schade, dass meine Mutter nichts dazu sagen kann oder möchte. Die müssen doch irgendwie erfahren haben, dass Kinder dahin können oder jemand muss das empfohlen haben... Ich bin überzeugt, meine Eltern dachten es sei was Gutes für uns und ich glaube nicht, dass sie wussten, oder sich hätten denken können, wie wir dort behandelt wurden.
Ohje jetzt war ich hier voll im Romanmodus, vielleicht kann ich das mit in meinem Buch verwenden, wenn ich an dem über meine Geschichte irgendwann mal weiter schreiben sollte....
Vielleicht schreibe ich hier nochmal, wenn ich mich meinen Vorurteilen stellte und den Ort Ruhpolding besuchte, ich würde mich jedenfalls freuen, die Hölle Ruhpolding von einer anderen Seite kennenzulernen (und jetzt schaue ich tatsächlich mal ob es dort vielleicht ein Hotel mit Sauna oder eine Therme oder sowas gibt, denn die negativen Erfahrungen dort dürfen doch nicht ein ganzes Dorf in meiner Erinnerung in solch ein schlechtes Licht rücken, so viel Macht möchte ich dem Böse nicht geben...)