ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN

Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung. Sie sind damit Anfang und Teil eines öffentlich zugänglichen digitalen Dokumentationszentrums. Darüber hinaus können, Einzelne, die sehr viele Materialien haben, ihre Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild versehen, zusammen mit der Redaktion als Beitrag erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einstellen. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel

Wir schaffen nicht mehr, auf jeden von euch von uns aus zuzugehen, d.h. Ihr müsst euch Ansprechpartner auf unserer Seite suchen. ( KONTAKTE) Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr weitere Möglichkeiten:

  1. Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selbst Ansprechpartner eures eigenen Heimes, so findet ihr am schnellsten andere aus eurem Heim.
  2. Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
  3. Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen

Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!

Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.

Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.

Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der “Initiative Verschickungskinder” (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen

Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.:     IBAN:   DE704306 09671042049800  Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de

Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen


Einen neuen Eintrag schreiben

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Mit * gekennzeichnete Felder sind erforderlich.

Deine E-Mail-Adresse ist durch diverse Mechanismen vor Spam geschützt. Falls Besucher mit dir Kontakt aufnehmen möchten, ist die durch eine verschlüsselte Email über unser System möglich!!!

Es ist möglich, dass dein Eintrag erst sichtbar ist, nachdem wir ihn überprüft haben.

Wir behalten uns vor, Einträge zu bearbeiten, zu löschen oder nicht zu veröffentlichen.

Antworten auf Einträge werden NICHT veröffentlicht! - Dazu ist das Forum gedacht!
Ruhl-Bady, Erich aus Oberursel (Taunus) schrieb am 06.09.2024
Meine Erfahrungen habe ich im Kapitel KINDERHEIMSCHERGINNEN in meinem Roman VATERFERN MUTTERSTILL (Verlag Kleine Schritte Trier) niedergelegt.

Hier ist das Kapitel:

Kinderheim-Scherginnen

Außer seiner Mutter, dem Kofferradio, einer warmherzigen und gelegentlich eine andere wahre Wirklichkeit schaffenden Tante hatte Leander eigentlich nur seine Krankheiten verlässlich an seiner Seite. „Es sind die Drüsen“, sagte der Lungenfacharzt gerne, als er die Besorgnisse der Mutter zu vergrößern verstand. Da gab es etliche Höhlen in Ohr und Kopf, über den Augen, hinter der Stirn und oberhalb der oberen Zahnreihe, die wollten sich offenbar gerne füllen mit allerlei Besatz, der dort nicht hingehörte. Der Hals tat weh oder das Ohr. Der Kopf drohte zu zerspringen, weil der Knochen über den Zähnen den Druck nicht mochte.

Dutzende Male und tapfer durchstreiften die Mutter und der kleine Sohn die kleine Stadt von Süd nach Nord, von einem Ende der Stadt, wo die Sozialwohnungen der Geflüchteten und Vertriebenen rasch aufgebaut worden waren, damit es nicht allzu viel Verdruss mit den Ur-Gatterstalern gab, in Stadtteil der Frischer Born hieß, wo es etliche Gründerzeitvillen oder mindestens stattliche Einfamilienhäuser gab. Ja, die vielen Flüchtlinge. Schlesien, Mecklenburg und Pommern und Ostpreußen – das passte nun wirklich nicht wirklich zu den stolzen Niedersachsen, die froh waren, dass der Krieg reichlich glimpflich an ihnen vorbei gegangen war. Einquartierungen der deutschen Landsleute – das musste dann auch mal ein Ende haben.

Vom Süden der kleinen Stadt also wanderten Mutter Lotte und Sohn Leander, gut eingepackt mit Schal und Pelzmütze, in den drei Kilometer entfernten Norden zum Facharzt. Der hörte sich dann stets die immer gleichen Klagen der Mutter an. Die Halsschmerzen, die enge Atmung, der geblähte Knochen überm Oberkiefer – das alles musste doch nun wirklich nicht sein, hatte sie denn nicht genug erleben müssen im fernen Pommern, in der zerbombten Stadt Stettin.

Dort, beim Facharzt, gab es – wie wohltuend warm – blaues und rotes Licht auf die Kiefer- und Stirnhöhlenknochen. Schade, dass man dann durch die eiskalte Luft wieder nach Hause in die kalte Wohnung musste, so dass schon der kleine Knirps erkennen konnte: So funktioniert eine Therapie, deren Wirkung zuverlässig umgehend verpufft. Das erlebte er bei anderen medizinischen und seelischen Herausforderungen noch viele Male.

Gewiss: Für Leander barg die wiederkehrende gesundheitliche Instabilität einen Vorteil, einen erlebbaren, fast planbaren Vorzug. Denn, was er sonst nicht hatte, konnte ihm die Krankheit verschaffen: Aufmerksamkeit. Ätherisch aufgeladene Pasten wurden auf seiner Brust verteilt, mit Watte wurde okklusiv die Wirkung verstärkt und über Stunden bewahrt. Wichtiger noch: Aus dem Keller wurden Säfte zu Tage gefördert, die er sonst nie sah. Leckere Säfte. Später hörte er bei einer Ernährungsberatung, dass der Saft Muttersaft hieß. Wenigstens rückwirkend betrachtet, passend. Johannisbeersaft – von Mutter im Kartoffelkeller selbst entsaftet mit einem Monstrum, scheinbar aus dem Chemielabor entliehen – wurde am Krankenbett des Sohnes feilgeboten. Was sonst oft nicht gelang, funktionierte jetzt: Mutter brachte etwas, und Leander verspürte Lust, es anzunehmen. Es schmeckte ihm. Mutter zeigte sogar ein Lächeln.

Aber die Bakterien freuten sich, Leander immer wieder zuverlässig als Spielkameraden zu haben. Denn es gab es kein Übungsfeld für die Antikörperchen des Kindes in einem Kindergarten. Der war ja für den Knaben tabu, damit Mutter Abhilfe in ihrem Alleinsein geboten werden konnte.

Dr. med. Alfons Lüttergard, der angesehenste und einzige Hals-Nasen-Ohren-Mediziner und Lungenfacharzt der kleinen ordentlichen Stadt, entwickelte im Zeitablauf zunächst mit der Mutter, dann auch mit dem Vater einen Plan, wie dem kleinen untergewichtigen und infektanfälligen Knirps wohl geholfen werden könne. Nähe und Wärme, Bindungsbereitschaft von Mutter und Vater gegenüber ihrem Nachwuchs, die gab es nicht auf Rezept. Wohl aber eine in diesen Jahren gut in der Bundesrepublik verbreitete Maßnahme, die man für eine zielführende Methode der Krankheitsbekämpfung und vor allem der stählenden Menschwerdung hielt.

Spaßig fand Leander gut zwölf Jahre später, dass es der gleiche Arzt Lüttergard war, der der Bundeswehr in einem Attest empfahl, den just Volljährigen für tauglich zu erklären. Tauglichkeitsgrad: wehrdienstfähig, Stufe drei. Wegen der erheblichen Atemprobleme aufgrund der heftigen Allergien wurde unter der Nummer drei ergänzt: „Nicht im Frühjahr einberufen!“ Da war die Behörde fürsorglich, genauso wie beim Verhör, die Gewissensentscheidung auf Relevanz hin zu durchleuchten.

Leander, der kleine und untergewichtige Knabe, müsse in ein Kinderheim verschickt werden. So lautete der Beschluss und die kaum abweisbare Empfehlung des erfahrenen Lungenarztes. Hunderttausendfach habe sich in ganz Deutschland – damals meinte man damit „ganz Westdeutschland“ – die Verschickung bewährt, berichtete der Mediziner, die Kinder würden ihre Infektanfälligkeit durch Abhärtung und die sogenannte Luftveränderung überwinden, würden quasi über Nacht – genauer: Binnen sechs Wochen – stabil, geheilt, weniger mager, heiter, widerstandsfähig, kurzum: Pralle glückliche Kinder werden.

Mindestens glücklich genug, um die Vorzüge des Wirtschaftswunders ohne Hinterfragen zu genießen. Wie diese Abhärtung aussehen sollte, das wusste Leander damals noch nicht, als er alleingelassen im Beisein seiner Eltern im mit Desinfektionsmitteln geschwängerten Behandlungsraum des ehemaligen Stabsarztes stand und das Urteil über seinen weiteren Werdegang vernahm. Erwachsene denken oft, die Kinder, die kriegen nichts mit. Kriegen sie aber. Nicht zum letzten Mal wurde Leander Empfänger einer Entscheidung; er hörte sie und spürte gar nicht wirklich, dass es ihn selbst betraf.

Im Oktober 1962, Leander war fünf Jahre alt, begann jene Reise von Niedersachsen nach Westfalen. In der Nähe von Soest gab es ein Kinderheim, das sich nach der schönen Hansestadt Hamburg benannt hatte. Die Angestelltenkrankenkasse betrieb in Bad Sassendorf dieses Haus, in dem sich fünfzehn Frauen, die mal Tanten und mal Schwestern genannt wurden, die Aufgaben mit den zweihundert Kindern aus ganz Westdeutschland teilten.

Aufgabe der Tanten war es, die Kinder einzuschüchtern, sie anzubrüllen, ihnen ekelhaftes Essen aufzudrängen und überhaupt alles zu unternehmen, um die Kinder von zu Hause und ihrem Heimweh dorthin fernzuhalten. Die Angst und die unbedingte Anpassung, das war die Währung, mit der dort bezahlt wurde. Das war die Aufgabe der Klienten der Anstalt.

Viele Jahre später, als sich Leander umfassend mit der Entwicklung von Sprache und der Bedeutung von Worten befasste, war er immer noch nicht vollständig in der Lage, den Unterschied zu destillieren, der zwischen ge-schickt und ver-schickt lag. Vielleicht war es noch ehesten die Nähe zum Verschicken von Briefen und Postkarten. Die waren ja auch vor allem eins: Nach dem Versenden einfach weg, nicht aufs Wiederkommen programmiert. So war auch er ver-schickt und glaubte auch wirklich oft, niemals wieder zurückkehren zu dürfen.

Die Aufgabe der oftmals sehr kranken, hüstelnden, niesenden und weinenden Kinder war es, still und brav zu sein, die Maßnahmen zum Gesundwerden in ihr kleines Leben tapfer zu integrieren. Das dauernde Husten, das Weinen, das Flehen, endlich wieder nach Hause zu dürfen – ein bizarrer Teppich der Kälte, oft des Hasses war im Haus und vor allem in ihm ausgelegt.

Erst viele Jahre später, da war er schon vierzehn, fand Leander zufällig heraus, dass außer den erstaunlichen Maßnahmen – wie Erbrochenes aufessen und im Unterhemd in den kalten Ostwind vor die Tür gestellt werden – auch die Lüge ein tragendes Element dieses christlichen Hauses war. Leander war fünf, er konnte noch nicht schreiben. Jeden Sonntag innerhalb dieser unfassbar langen sechs Wochen setzten sich die Tanten im zum Glück leeren Speiseraum mit ihren Schützlingen an den Tisch, um Postkarten nach Hause an Mutti zu schreiben. Immer flehte Leander in den Postkarten, man möge ihn dort wegholen, die Tante möge schreiben, er wolle schnell heim. Darum hatte Leander gebeten.

Aber als Leander die Postkarten – in einem gelben Schuhkarton, von Mutter aufbewahrt und zufällig aus dem Wohnzimmerschrank gefallen – las, stand da nichts von seinen Sehnsüchten auf Heimkehr, auf ein Ende des schaurigen Aufenthalts. Da standen nur Lügen. Dass es dem kleinen Leander so gut gefalle, alle seien nett, es werde viel gespielt und viel gelacht. Nein, es wurde nicht viel gelacht. Es wurde nicht gelacht. Es wurde gelitten.

Immer, wenn Leander später einmal fror, dann war es das Frieren des Fünfjährigen, der zur Strafe für Nichtverzehr von fauligem Obst für eine Stunde im kalten Oktoberregen im Unterhemd vor die Tür gesperrt worden war.

Immer, wenn Leander später einmal schlecht schlief, dann sah er spätestens im Traum die klein-blaurotweiß-karierten Bettbezüge auf den Feldbetten, die in der Sporthalle von Haus Hamburg zum Zwecke des heilenden Mittagsschlafs aufgestellt waren.

Zweck der Sporthalle: Mittagsschlaf. Von eins bis drei. Mittagsschlaf. Damit die Kinder gedeihen. Und Schlaf bedeutete auch wirklich Schlaf, da gab es keinen Pardon. Leander war mittags um eins oft nicht müde, eher war er hungrig, vielleicht wollte er mit seinen Insassenkameraden reden, fragen, wie es ihnen denn geht, was ihre Wünsche wohl seien.

Jedenfalls lag er brav auf dem Feldbett mit der Nummer 7 – diese Zahl hatte er sich eingeprägt – und kniff die Augen zu. Er störte nicht, er gab keinen Laut von sich, atmete flach – so wie er es von seiner Bronchitis gut kannte, damit sie sich nicht allzu stark aufbäumte und das Giemen hörbar wurde.

Er sprach nicht, flüsterte nicht, lachte und kicherte nicht mit seinen Feldbettnachbarn, die auch alle so um die fünf bis acht Jahre alt waren. Nein, er gab keinen Laut von sich und hoffte, die strenge Tante würde bei ihrem Schlafkontrollgang ihre Kontrolle bewahren. Sie bewahrte sie nicht. Ein Dutzendmal wurde Leander während des verordneten Mittagsschlafs der über hundert Kinder kasernenhoftauglich angebrüllt, von jener Schwester, deren Namen er leider später nicht mehr erinnern konnte. Das war wohl besser so.

„Ich habe gesagt, dass hier geschlafen wird, verdammt noch mal, nicht, dass die Augen zugekniffen werden. Ich sehe das. Ich sehe das ganz genau. Glaub nur nicht, dass du mich anlügen kannst.“ Sowas sitzt. Und es förderte weder damals noch später Leanders Gesundheit. Die Schlafanordnung hielt ihn fern davon, wohlig müde zu werden.

War das Brüllen, diesmal sogar von Frauen, noch immer das gleiche Brüllen wie jenes des Bösmenschen aus Braunau? War das immer noch so nah an der Oberfläche, zu kurz her? Der Krieg und die Herrenmenschenherrschaft waren doch schon siebzehn Jahre vorbei. War das nicht lange genug? War es nicht.

Im Oktober 1962 – es waren drei der als umfassend heilsam versprochenen sechs Wochen verstrichen – kamen Mutter und Vater für einen Nachmittag zu Besuch, der Mercedes rollte über den Kies der Hofeinfahrt des Hamburg-Heims. Der hämmernde Diesel war dem Leander ein vertrautes Geräusch, das er bereits durchs gekippte Fenster des oft erschreckenden Speisesaals hören durfte.

Vater kommt zu Besuch, Mutter ist dabei. Gewiss haben sie die Postkarten gelesen, die die Tanten an den Sonntagen nachmittags nach dem Großen Geschlafe mit den Kinderinsassen verfassten. Leander war natürlich vom Authentischen dieser Karten ausgegangen. Gefleht hatte er, man möge ihn nach Hause holen, gejammert und geweint.

Kalt war es ja bereits zu Hause. Aber im Vergleich zu dieser erkalteten Abgeschiedenheit im Angesicht der rieselnden Saline und der Gewissheit der stets geschlossenen Türen – verglichen mit Haus Hamburg in Bad Sassendorf war es kuschelig warm in der winzigen Wohnung in Bad Gatterstal, froh für jedes gute Wort von Mutter war Leander und dankbar für jeden seltenen Blick des Vaters, der seine Wärme nur aus Versehen und Überforderung verbarg.

Ein langer Aufenthalt. Ein langer Entzug der Heimat. Sechs Wochen. Solche sechs Wochen rauschten sechzig Jahre später in den zwanziger Jahren des 21. Jahrhunderts – zu Beginn der Zeit der Großen Pandemien – für Leander und seine liebe Frau rasend hart und schnell wie ein eisig kantiger Sandsturm vorbei. Sechs Wochen; die dauerten bei guter innerer Führung in den Zeiten der Pandemie gewiss nicht länger als zweieinhalb Tage, aus Sicht der gereiften Seele gesehen.

Aber für Leander als Kind vergingen sechs Wochen langsam. Sie vergingen immer langsam, auch, weil der Vater verlässlich fern war, von Montag sechs Uhr bis Freitag fünf Uhr nachmittags. Nun, in Bad Sassendorf, konnte diese klebrige Wegstrecke durch die Zeit also noch gesteigert werden in ihrer Zähigkeit.

In Bad Gatterstal lebte er umhüllt von einem Mehltau-Mantel. In Bad Sassendorf lebte er zusätzlich in einem Bleikorsett, nach unten verstärkt mit Eisenkugeln, damit die innere Freude nicht auf die irrwitzige Idee kommen möge, frei zu hüpfen oder gar zu tanzen.

Diese sechs Wochen während der Kubakrise 1962 waren für den kleinen zarten Leander die erste persönliche unterbewusste Verknüpfung mit Krieg und Elend, jenes, das es zu vermeiden gelte.

Jeder einzelne Tag dieser sechs Wochen unter dem Kommando der Schwestern und Tanten im Verschickungsheim in Westfalen erschien ihm wie eine Woche, eher wie ein Monat. Keine Freude, keine Glanzpunkte, kein Hangeln von Spiel zu Spiel, keine heiteren Gespräche, kein freies Singen, kein Tanzen, nur stilles Erleiden der Anordnungen. Ein Tag, an dem er nicht geschimpft wurde, an dem er und die anderen nicht zerbrüllt wurden, war bereits ein besonderer Tag.

Es entstand eine jener umfassenden Verwechslungen: Das Ausbleiben von Trauer und Druck, das war bereits Glück. Es trainierte früh die Fähigkeit zur Contenance. Möglicherweise war das der verdeckte Auftrag, den die Sozialminister und Krankenkassen dieser Tage an die Verschickungsheime erteilt hatten. Vielleicht war das Quälen der Kinder nur ein Nebeneffekt. Sich unterordnen – das war schon einmal Tausend lange Jahre richtig, warum sollte das nun in einer freiheitlichen demokratischen Republik plötzlich anders sein.

Zurück zum Besuch der Eltern, dort im Haus Hamburg. Leander hatte also die kindliche Hoffnung, aus dem Besuch in der zeitlichen Mitte des Aufenthalts in Bad Sassendorf würde ein Heimholen nach Bad Gatterstal werden. Man – in diesem Falle, die Eltern – glaubte ihm nicht. Die Lügenpostkarten hatten gewirkt. Trauer oder gar Empörung konnte er nicht mobilisieren. Und er hatte schon damals die Fähigkeit, still zu leiden, so etwas, das er zwanzig und dreißig Jahr später gerne als „Mäßigung“ bezeichnete. Gelegentlich war er regelrecht stolz auf diese Umdeutung, auf diese fatale Verwechslung. Man sah seinem Gesicht jahrzehntelang nicht an, was sich hinter dem Pokerface verbarg. Es war selten Zorn, meistens Enttäuschung, was man hätte entdecken können.

Im Oktober 1962 gab es eine Krise in der Welt. Kuba stand im Zentrum des Interesses der Weltmächte. Später erfuhr Leander, wie brisant, wie unfassbar knapp der Planet vor dem Ausbruch des Dritten und vermutlich Letzten Großen Kulturbruchs gestanden hatte. Und als alles Flehen nichts nutzte, er an Mutter und Vater zerrte, die wieder in den Mercedes einstiegen, da hörte er den Vater sagen: „Du musst schön artig sein und auf die Tanten hören, damit du schön gesund wirst.“ Dieser Satz war belastend für Leander. Nicht belastend, sondern verstörend jedoch war jener Satz, den der Vater kurz danach beim Einsteigen an die Mutter richtete.

Drinnen im Auto lief das Autoradio. Nachrichten des Nordwestdeutschen Rundfunks. Das Thema war Kuba. Was der Präsident der USA wohl nun als nächstes machen werde, war eine der Fragen. Vater sagte zu Mutter – er war sicher davon überzeugt, der kleine Sohn würde es nicht hören: „Hoffentlich bricht kein Atomkrieg aus.“ Und dann fuhren die Eltern los, Leander weinte, winkte und blickte, er hatte gute Übung darin, in den Auspuff des 180-er Diesel.

Der Atomkrieg, der brach durch die Verkettung glücklicher Zufälle dann doch nicht aus. Atomkrieg und das Androhen mit Menschenmassenvernichtung, das war auch später etwas, das Leander nicht gut fand. Wie kam es zum Krieg der deutschen Herrenmenschen, wie zur Tötungsorgie gegenüber einem Dutzend Staaten, gegenüber anders Denkenden, anders Gläubigen, wie zum Zertreten eigener Landsleute? Das war eine Frage, die ihn politisch und historisch, vor allem aber tief in seinem Herzen sein Leben lang bewegte. Die andere Frage war: Wie eng und unabweisbar sind Lust an Unterdrückung und Sklaverei mit dem Einmünden in einen Großen Krieg verknüpft?

Vater Heinrich ging in neuer Gewohnheit und eigentlich zum Zwecke der Rehabilitation wöchentlich sonntags in die evangelische Kirche von Bad Gatterstal, um dem Pfarrer Nord zu lauschen, Mitglied der Bekennenden Kirche und ein Freund Pastor Martin Niemöllers.

Sohn Leander war – nur drei Jahre nach seiner Kriegsdienstverweigerung – stolz darauf, mit Pastor Martin Niemöller in Wiesbaden und Frankfurt am Main im Vorbereitungskomitee für die großen Friedensdemonstrationen Ende der siebziger Jahre, Anfang der achtziger Jahre gesessen zu haben. Leander und seine Mitstreiter, meist junge Gewerkschafter, waren ziemlich beeindruckt von der Vitalität des Pastors, der ein Freund des großen Dietrich Bonhoeffer gewesen war. 85 Jahre alt war Niemöller, als Leander ihn kennenlernen durfte. Der Pastor kam fünf Minuten vor Beginn der Tagung ins Haus der Gewerkschaftsjugend, nahm wie selbstverständlich drei Stufen auf einmal nach oben, überholte Leander und seinen Freund Horst – mit dem Zuruf: „Los, Jungs, lasst uns anfangen, wir haben nicht viel Zeit.“

Mit den ersten Demonstrationen in Wiesbaden, zwanzigtausend Leute waren es wohl, begann es 1977. Und die dreihunderttausend westdeutschen Menschen mit offenem Geist und der Sorge um die Erhaltung des Friedens, die in Bonn im Oktober 1981 auf der Hofgartenwiese gegen Raketen aller Art demonstrierten, sie vermochten es, dem jungen Leander Glücksmomente zu verschaffen, Geborgenheit, Zuversicht, Angstverminderung, ja echte Heiterkeit. Er spürte, auf der richtigen Seite zu sein, wie ein paar Jahre zuvor, als er sich für den Zivildienst und gegen den Kriegsdienst entschieden hatte.

Aber die großen Demonstrationen, umrahmt von Musikern und Literaten, leisteten mehr, als nur am Ende des Schlafs der Vernunft beteiligt zu sein. „Vom Schrei nach dem Frieden ist die Luft hier ganz schwer. Ja, wo kommt denn der Frieden her?“ rief André Heller, der Künstler aus Wien, den wachen und freundlichen alternativen Bundesbürgern und Bundesbürgerinnen auf der Bonner Hofgartenwiese zu.

Es war Konsens dieser herzlich Vernünftigen in Bonn, der Frieden komme nicht nur vom bloßen Fordern, nein, er komme vom eigenen Tun. „Wenn in unseren Seelen die Mörderwaffen ruh’n. Wenn wir Gewalt verweigern in Sprache, Not und Streit. Wenn wir als Haltung lieben, Zeit unserer Lebenszeit“, empfahl der große österreichische Künstler.

Die Freude in den Gesichtern der vielen Gleichgesinnten, ihre Buntheit und Weltoffenheit, ihre Herzlichkeit, ihr Mut und ihre Demut – sie vermochten die Kälte der elterlichen Sozialwohnung und mehr noch die Eiseskälte der beiden zehrenden Kinderheimaufenthalte mit Wärme und mit einem Geschmack von Zukunft zu vertreiben.
... Diese Metabox ein-/ausblenden.
Kontakt Wunsch: Kontakt: Über die Initiative