Am Samstag, 21.11.21 wurde auf dem Kongress: Das Elend der Verschickungskinder 2021 die  BORKUMER ERKLÄRUNG der Verschickungskinder im großen Plenum mit 80 TN diskutiert, dann verabschiedet. Diese Erklärung ist inhaltliche Grundlage der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder“ für die nächsten zwei Jahre:

Borkumer Erklärung der Verschickungskinder 21.11.2021

Vom 18.-21.11.2021 trafen sich zahlreiche Verschickungskinder auf der Insel Borkum, früher Standort vieler Verschickungsheime. In solche Einrichtungen wurden deutschlandweit mehrere Millionen Kinder von den 1950er bis in die 1980er Jahre verschickt. Bei diesen so genannten Kindererholungskuren erlitten unzählige von ihnen schwerwiegende Misshandlungen, ignoriert oder geduldet von Trägern und zuständigen Behörden. Auf dem ersten Kongress der Verschickungskinder im November 2019 auf Sylt wurde eine gemeinsame Erklärung verabschiedet. Sie fordert die Anerkennung des erlittenen Leids durch Bund, Länder und Träger der sogenannten Kurheime, Mittel für wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschehnisse sowie Vernetzung und Selbsthilfe der Betroffenen.

Wir, die Teilnehmenden des Borkumer Kongresses der Verschickungskinder, bekräftigen die 2019 formulierten Forderungen und stellen dazu fest: Seit dem ersten Kongress auf Sylt hat sich unser Wissen über den Umfang und die Art der Misshandlungen und des Unrechts, das Kindern angetan wurde, erheblich erweitert. In unserer Initiative sind inzwischen mehrere Tausend Menschen aktiv und haben umfangreiches Material zusammengetragen. Berichte in allen Medien, Buchpublikationen sowie etliche Tausend Betroffenenschilderungen lassen mittlerweile erkennen, welche gewaltigen Dimensionen diese Kinderrechtsverletzungen hatten, wie schwerwiegend die Folgen bei der Mehrheit der Betroffenen bis heute sind und in welcher Weise Politik und Verwaltung durch Unterlassen und Wegsehen den Geschehnissen Vorschub geleistet haben.

Im Januar 2020 hat sich die Politik erstmalig mit unserem Anliegen befasst. Alle Bundesländer haben gemeinsam das Leid anerkannt und Aufarbeitung gefordert (Beschluss der Jugend- und Familienministerkonferenz vom 27.5.2020). Mehrere Landtage haben das Thema erörtert, in Baden-Württemberg tagt ein Runder Tisch und die Landesgruppe wird gefördert. Nordrhein-Westfalen plant einen Runden Tisch sowie eine finanzielle Unterstützung der Landesgruppe und eine umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung. Auch einige Träger von Kurheimen (Diakonie Niedersachsen, Rudolf-Ballin-Stiftung Hamburg, Deutsche Angestellten-Krankenkasse) haben Studien in Auftrag gegeben.

Für die Bundesregierung hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in einem Schreiben vom 22.1.2020 bestätigt, dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung notwendig ist. Aber erst ein Jahr später, am 12.1.2021, konnten wir in einem Gespräch mit mehreren Bundesministerien unsere Forderungen darlegen. Alle Anschlusstermine wurden jedoch abgesagt, wir wurden wieder und wieder vertröstet, seit mittlerweile fast zwei Jahren. Darüber sind wir empört – es erinnert uns an die Ignoranz und Gleichgültigkeit, mit der unsere Berichte zurückgewiesen wurden, als wir als verstörte Kinder von den Verschickungen nach Hause kamen.

Zahlreiche Abgeordnete des neu gewählten Deutschen Bundestags haben unsere Forderungen nach Aufarbeitung und Unterstützung bei Vernetzung und Selbsthilfe klar befürwortet. https://verschickungsheime.de/bundestagswahl-2021/ Deshalb appellieren wir heute an den Deutschen Bundestag und an die zukünftige Bundesregierung: Zeigen Sie, dass Ihnen das geschehene Unrecht, die Misshandlungen und das Elend der Verschickungskinder, nicht gleichgültig sind. Setzen Sie ein Zeichen, dass unsere Gesellschaft endlich nachhaltig wachsam wird gegenüber institutioneller Gewalt gegen Kinder und andere Schutzbedürftige. Tragen Sie dazu bei, dass unsere Forderungen zeitnah umgesetzt werden:

  • Eine bundesweit tätige Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung Betroffener und für die Unterstützung unserer Landes- und Heimortgruppen
  • Ein partizipativ ausgerichtetes wissenschaftliches Verbundvorhaben von einschlägig qualifizierten Forschungseinrichtungen, das die zahlreichen Erlebnisberichte auswertet und die Bürgerforschungsgruppen vor Ort bei ihren eigenen Recherchen und Aktivitäten (wie z.B. der Schaffung von Gedenkorten) begleitet. 
  • Ein Dokumentationszentrum, in dem die vielfältigen Zeugnisse der Betroffenen und die Rechercheergebnisse der Bürgerforschung archivgerecht aufbereitet und der Öffentlichkeit (auch in digitaler Form) zugänglich gemacht werden

Zur Realisierung dieser Forderungen sind angesichts der in den letzten zwei Jahren gewonnenen Erkenntnisse über den großen Umfang von Quellen und Zeugnissen für die nächsten vier Jahre Mittel in Höhe von ca. 6 Millionen Euro notwendig – koordiniert vom Bund, mit finanziellen Beiträgen von Ländern und Trägern. Dieser Betrag erscheint angesichts der vielen Millionen ehemaliger Verschickungskinder zunächst angemessen. Die Umsetzung sollte durch einen Beirat aus Betroffenen und Vertretungen von Bund, Ländern und Trägern begleitet werden.