Seehospiz Norderney, auf der Insel Norderney – Niedersachsen

Alte Postkarte: Kunstverlag H. Storms M.-Gladbach, 50er Jahre

Goodwill Sp.,
Jahrgang 1964,
zum Zeitpunkt der Verschickung: 9 Jahre alt
ca.: September 73 bis Januar/Februar 1974
Grund: wg. Asthma für 6 Monate in Norderney.
Heim: Seehospiz Norderney

Meine Erinnerungen, sie kommen nur hin und wieder, und da als Bildfetzen:
Ich sehe mich mit nacktem Oberkörper im Flur stehen. Die erste Nacht im Bett habe ich leise geweint, damit es niemand mitbekommt. Ich sehe mich im Waschraum, das Wasser ist kalt.

Ein Mädchen mit offenen Ekzemen am ganzen Körper, war nachts komplett verbunden, am Bett festgebunden.
Ich sehe die Halle unten mit der Nachtschwester bei der Eingangstür.

Ich sehe mich und andere neben mir in Zeichensprache „reden“, weil wir nicht sprechen
durften.

Ich sehe den Briefkasten im Gemeinschaftsraum, vor dem wir alle standen, als Schwester
Ruth ein Mädchen voll ins Gesicht geschlagen hat, weil sie ihren Eltern geschrieben hat, dass
in diesem Heim Kinder geschlagen werden.
Viele Türen sind noch zu, nur schwarze Löcher, was die komplette Erinnerung an Norderney
betrifft.

Wir hatten damals einen Ausbruch geplant, dazu sogar Essen gesammelt. Gottseidank fiel mir
in letzter Minute ein, dass wir unsere Pässe nicht hatten.
Die hätten uns totgeschlagen, wenn sie uns erwischt hätten, vor allen Dingen Schwester Ruth.
Es gab nur eine junge Schwester, welche die kleinen Zettelchen mit Botschaften (welche
wir Kinder untereinander geschrieben hatten) eingesammelt hat und sie mir zum
Abschluss in den Koffer gesteckt hat. Am Tag meiner Abreise hat sie mir dann den Hinweis
gegeben.

Ergebnis des Erholungs-Aufenthalts:

Ich war noch kränker als vorher, mein Asthma war eigentlich erst weg als ich von zu Hause
ausgezogen bin. Habe mich ein Leben lang wie ein Fremdkörper in meiner eigenen Familie
gefühlt. Ich lasse bis heute nicht viel Nähe zu, ich bin leicht beziehungsunfähig und halte nicht viel
von Ärzten. Ich bin schon immer am Überlegen, wie ich da wieder zu Tür raus komme, ehe
ich überhaupt durch die Tür rein bin. Bis auf die Wohnungstür ist keine einzige Tür in meiner Wohnung geschlossen.
Egal wo ich bin ich muss immer direkt wissen wo sich die Toilette befindet.

Anzeige erstattet

Mein Vater ist damals mit mir zum BKA Düsseldorf gefahren und hat Anzeige erstattet. Es
gab daraufhin eine Untersuchung in Norderney. Bei den Mädchen, deren Namen ich
genannt habe, haben die Ärzte nachher zugegeben, dass sie regelrecht Angst vor den
Schwestern hatten. Sie durften die Kinder nie nackt sehen. Bei vielen war der Hintern blau
und grün geschlagen.

Ich selber habe auch einen Brief an Dr. Franzel geschrieben, indem ich die Namen der
geschlagenen Mädchen genannt habe, ebenso wie die der Schwestern, welche zugeschlagen
haben. In dem Brief stand auch, dass irgendetwas in die Luft gesprüht wurde, was ich nicht
vertragen habe. 90% bin ich mir sicher, dass ich mit Atisol behandelt wurde.

In meiner Akte befand sich neben meinem Brief an Dr. Franzel auch die Dokumentation von
Prof. Dr. Dr. Siegwart Horst, er muss zur selben Zeit wie ich da gewesen sein. 
In der Dokumentation von Dr. Nicole Schweig (Diakonie) bin ich das Kind, welches auf Seite
128 erwähnt wurde. Am Abend vor meiner Abreise bekam ich Windpocken und durfte dann
noch 2 Wochen länger bleiben, allerdings in einer Einzelzelle. Das war im Nachhinein meine
beste Zeit. Ich war alleine und draußen auf dem Flur stand ein Schrank mit Büchern gefüllt. 
Zurück nach Hause kam ich dick und fett. Meine Mutter muss sich wohl furchtbar
erschrocken haben als sie mich bei der Fähre abgeholt hat. 

Zuhause bin ich dann für Wochen nachts mit hohem Fieber und Herzrasen stundenlang um
unseren runden Küchentisch gelaufen. Meine Eltern haben mich laufen gelassen. 

Durch meinen Sohn beschäftige ich mich jetzt mit meiner Norderney Vergangenheit. Es war
eine große Erleichterung festzustellen, dass ich nicht die einzige war, die dort gelitten hat.
Erschreckend das ganze Ausmaß, das Zulassen dieser Zustände von den Eltern und die
Autoritätshörigkeit gegenüber den Ärzten. Die Kinder wurden allein gelassen während -und danach.

An diesem Text wird noch gearbeitet, es gibt noch viele Dokumente, sie werden in den nächsten Tagen eingepflegt

Zur Veröffentlichung freigegeben

Mit freundlichen Grüßen 
Goodwill Sp.

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