Meine Erinnerungen vom Seehospiz Norderney 1971, 1973 und 1976
Ich bin Silke, eine von vielen Millionen ehemaligen Verschickungskindern und erzähle meine Geschichte:
1972Damals war ich 2 Jahre alt und ein völlig unbeschwertes kleines Mädchen. Wenn da nicht die Neurodermitis gewesen wäre. Meine Eltern sind mit mir von Arzt zu Arzt gefahren und leider hatten diese als letzte Lösung immer nur Cortison im Angebot. Manche Eltern haben in den Wartezimmern ihre Kinder von mir weggerissen, weil sie Angst vor Ansteckung hatten.
Damals war Neurodermitis noch nicht so bekannt wie heute.
Der Kinderarzt meinte dann, ich müsse mal zur Kur nach Norderney und meine Eltern haben aus lauter Verzweiflung zugestimmt. Auch den strengen Richtlinien im Haus, dass man keinen Kontakt aufnehmen oder mich besuchen darf, stimmten sie zu.
Sie bestellten Namensschilder aus Stoff für jede Socke und für jedes Kleidungsstück, was ich mitnehmen sollte. Meine Oma und Mama haben die halbe Nacht diese Schildchen eingenäht, denn die „Einberufung“ für den Kindertransport war da.
Eines Tages ging es zum Bahnhof nach Münster, wo ich (noch) glücklich auf dem Arm meiner Mutter war und lachte (es gibt einen Super-8-Film meines Vaters). Plötzlich kam eine Schwester mit Haube und fragte meine Eltern nach meinem Namen und als sie ihn bestätigten, rissen sie mich vom Arm meiner Mutter und stiegen in den Zug. Ich heulte lauthals, weil ich nicht wusste, was da mit mir geschieht und diese „Tante“, wie wir sagen durften zu allen Schwestern, weder je gesehen hatte noch kannte.
Meine Eltern blieben zurück am Bahnhof, in der Hoffnung, dass sie nach 6 Wochen ein gesundes Kind in ihre Arme schließen dürfen…
Aus diesen 6 Wochen wurden dann jedoch 17 Wochen.
Ich blieb über Weihnachten ohne Kontakt zu meinen Eltern und meinen beiden Schwestern. Als Mutter von zwei Kindern weiß ich, wie schlimm es wohl auch für meine Eltern gewesen sein muss. Diese Ungewissheit, wie es mir geht und nur ab und zu einen getippten Brief zu bekommen.
Das Ende der Kur wurde immer wieder durch Telegramme verschoben, weil ich angeblich krank war. Nach diesen 17 Wochen, von denen ich nichts mehr bewusst weiß, bin ich sehr artig zurückgekommen und habe zu meiner Mutter gesagt: „Tante auch mit in Tadt (Stadt)?“ Das hat ihr das Herz gebrochen; ich hatte sie in den „Tanten-Modus“ degradiert und sie war nicht mehr meine Mama für mich.
Auch heute mit 83 Jahren erinnert sie sich schmerzhaft an diese Zeit.
1973 mit 3 Jahren muste ich wieder ins Seehospiz.
Leider war meine Hautkrankheit nicht verschwunden und so durfte ich 1973 mit 3 Jahren noch einmal ins Seehospiz, dieses Mal für 12 Wochen. Auch davon weiß ich bewusst nichts mehr.
Zu guter Letzt ging es dann 1976 mit 6 Jahren noch einmal für 12 Wochen nach Norderney. Von dieser Kur habe ich noch einige Erinnerungen, die jedoch teilweise so schlimm sind, dass ich hier nicht alles aufschreiben kann.
Durch meine Neurodermitis wurde ich täglich mit Bandagen verwickelt, gebadet und ich weiß noch, wie ich gebettelt habe, dass die Tante doch bitte den Daumen nicht mit einwickeln soll, damit ich besser kratzen konnte. Leider ohne Erfolg, im Gegenteil, ich wurde sogar ans Bett gefesselt, damit ich mich nicht wund kratze in der Nacht. Natürlich alles zu meinem Besten.
Wir mussten immer alle gleichzeitig auf die Toilette gehen, und nur dann, wenn die „Tanten“ es gesagt haben. Auch nachts gingen die Neonröhren im Schlafsaal an und wir mussten sofort zur Toilette, ob wir wollten oder nicht. Ansonsten wurde gewaltsam nachgeholfen.
Der Ton der Schwestern war militärisch und eiskalt! Kein Mitleid, wenn man Heimweh hatte und weinte: „Hör auf zu heulen!“, höre ich noch die Schwester, als ich wieder einmal auf der Isolierstation lag, alleine im Zimmer, ohne Kontakt zu den anderen Kindern. Man wurde versorgt mit Essen und Trinken, aber ohne jegliche Wärme. Ich wusste nicht, ob meine Eltern mich jemals wieder nach Hause holen, oder ob sie mich schon vergessen hatten.
Manchmal kamen allerdings Briefe von zu Hause, die mir dann vorgelesen wurden oder zu Weihnachten auch ein Päckchen. Auch ich durfte Briefe nach Hause schreiben, bzw. die „Tanten“ haben sie für mich verfasst: „Hier ist es jetzt sehr schön, die Sonne scheint schon richtig warm und wir gehen jetzt länger spazieren als sonst.“
An Spaziergänge an die Nordsee kann ich mich auch erinnern. Schön warm weiß ich allerdings nicht…
Manchmal wurde gebastelt. Ich habe einen Kalender mit nach Hause gebracht mit 12
gestalteten Seiten. Jede Woche eine Seite…
Das war mein ganzer Stolz.
197X mit Y Jahren ……. Überschrift
Ich habe oft gefroren, vor allem, wenn wir in Unterwäsche und barfuß im Flur in einer langen Schlange vor dem Arztzimmer stehen und warten mussten, bis wir zu ihm zur Behandlung durften. Es gab regelmäßig Spritzen, ich weiß nicht, wofür oder wogegen sie waren. Danach mussten wir alle auf einer Turnbank stehen, bekamen eine Schutzbrille aufgesetzt und wurden mit „Höhensonne“ von vorne und von hinten bestrahlt. Vielleicht so ähnlich wie heutzutage die Balneo-Phototherapie, wo man erst in die Badewanne mit Salzwasser oder Ölbädern steigt und danach mit UVA-Strahlung bestrahlt wird.
Auf dem Gelände gab es eine Wäscherei, wo die Wäsche gewaschen wurde. Dort rauchte oft der Schornstein. Wir dachten jedoch immer, nun wird wieder ein unartiges Kind verbrannt. Wie bei Hänsel und Gretel. Also bloß nicht auffallen, immer artig sein und möglichst wenig auffallen war die Devise.
Weil, wer möchte schon in den Ofen gesteckt werden? Da ich es auch in den Zeitzeugen-Berichten anderer gelesen habe, gehe ich davon aus, dass die Schwestern uns diese Strafe angedroht haben.
Viele berichten ja von Horrorgeschichten beim Essen. Dass sie immer aufessen mussten und auch ihr Erbrochenes essen mussten. Das Essen habe ich zum Glück nicht in so schlechter Erinnerung. Ich bin und war aber schon immer ein unkomplizierter Esser und habe wahrscheinlich immer brav alles aufgegessen.
Das Heimweh, die Kälte der Schwestern und die nächtlichen „Attacken“ sind mir bis heute in schlimmster Erinnerung…
Wenn ich heute Abschiedsszenen im Fernsehen sehe oder unsere 4.-Klässler, die ihren letzten Tag in der Grundschule feiern und Abschiedslieder singen, laufen mir die Tränen über die Wangen und ich kann nicht sagen, warum mich das so mitnimmt, obwohl nicht einmal meine eigenen Kinder dabei sind. Ist eben auch ein Abschied…
Als Erwachsene
Als Erwachsene musste ich mein Referendariat als Grundschullehrerin abbrechen, weil ich jeden Sonntag bei Aufbruch von zu Hause dachte, ich komme nie wieder nach Hause zurück. Ich war eine gute Lehrerin, jedoch konnte ich vor lauter Heimweh keinen klaren Gedanken fassen. Meine Ausbildung habe ich später noch beendet.
Ich bin ein Mensch, der es immer allen recht machen möchte, harmoniebedürftig ist und das Wort „Nein“ nicht im Vokabular hat. Ich kümmere mich gerne um andere Menschen und vergesse leider mich selbst meistens dabei.
Das Arztzimmer im Erker, der rote Backstein, diese Ortgänge von Gebäude zu Gebäude, der Spruch im Innenhof: „Und vergiss nie, was er dir Gutes getan hat!“
Nein, vergesse ich bestimmt nicht…insgesamt 41 Wochen isoliert als kleines Kind mit bösartigen Schwestern. Wie könnte ich das vergessen?
Ich bin schon öfter nach Norderney mit einer Freundin gefahren und jedes Mal zieht es mich zum Seehospiz, bzw. zur Seeklinik, die von außen noch genauso aussieht wie damals.
Heute ist es eine Mutter/Vater-Kind- Einrichtung und man hört fröhliches
Kinderlachen, wenn man am Gartenzaun steht.
Meine Freundin kann es meist nicht nachvollziehen, dass ich mich immer wieder
quäle. Ich stehe davor und mir laufen die Tränen herunter, ich zittere und habe einen Stein auf der Brust. Ich weiß nicht, warum ich mir das antue. Vielleicht, weil ich endlich einen Haken an dieses Trauma und die schrecklichen Erinnerungen machen möchte!!!
Nach mittlerweile 50 Jahren….
Es ist mittlerweile 50 Jahre her und ich wünsche mir, dass wir ehemaligen Verschickungskinder erhört werden, denn wir sind noch da und die dunklen Schatten der Vergangenheit haben unser Leben geprägt bis heute.
Ich wünsche mir eine Art Wiedergutmachung, eine Traumatherapie, und Träger, die sich nicht vor ihrer Verantwortung drücken, sondern zu den Schandtaten der Vergangenheit stehen.
Danke für den tollen Einsatz der vielen Ehrenamtlichen des Vereins Verschickungskinder e.V.!!






