Liebe Frau Dr. O. / Ministerialrätin

im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Glinkastraße 24, 10117 Berlin

am 25.10.21 per mail geschickt

Betrifft: Fachaustausch zum Thema “Verschickungskinder”

Nachdem wir uns schon 2019 erstmals an Ihr Haus, das Bundesministerium für Familie, (BMFSFJ) gewandt haben, da sich, nach unserem ersten öffentlichen Kongress, im November 2019, plötzlich Hunderte von Betroffenen von Kassenverschickungen aus den Jahren 1949 – 1983, und ausklingend bis in die 90iger Jahre, an uns (den Verein Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V./ Initiative Verschickungskinder mit inzwischen zahlreichen Heimort- und Landesgruppen) gewandt haben, dies sowohl mit Beratungs-, als auch mit intensivem Informationsbedarf, haben inzwischen Tausende von Menschen mit uns Kontakt aufgenommen.
Uns liegt allein ein Datenpool vor, mit über 5000 ausgefüllten Fragebögen mit bis zu vier Seiten Freitext, mit oft sehr ausführlichen Schilderungen von Erniedrigungen, Demütigungen, Gewalt und Kindesmisshandlungen, die in diesen Häusern von Seiten des Personals und der Heimleitungen passiert sind. Das Ganze wird nun mehr und mehr auch durch erwachsene Zeitzeugenschaft gestützt, ehemalige Praktikantinnen melden sich mit erschütternden Briefen bei uns(auf: www.verschickungsheime.de dokumentiert).

Schon 2019 haben dazu ForscherInnen aus drei Universitäten mit uns Betroffenen zusammen ein Bürgerforschungskonzept entwickelt, für das wir Unterstützung brauchen, dazu benötigen wir Gelder für eine Bundes- und in den betroffenen Ländern, Landes- Beratungsstellen mit SozialarbeiterInnen und HistorikerInnen, die dieses historische Phänomen mit unseren Betroffenen zusammen aufarbeiten können. Unser Anliegen sind Gedenksteine und Ausstellungen in den betreffenden Kurorten, die die dortigen Gemeinden aufrütteln, ihrer Vergangenheit nachzugehen und vieles mehr, was wir Ihnen in einem Vortrag unserer Forschenden (Prof. Marc Thiessen, Hannover, Prof. Dr. Anke Spieß, Oldenburg, Prof. Dr. Birgit Behrensen, Cottbus u.w.) bei dem damals verabredeten Folgetermin ausführlich vorlegen wollten.

Unser Anliegen der seriösen Aufarbeitung in Verbindung mit den Betroffenenaussagen zu unterstützen und mit uns respektvoll und ernsthaft umzugehen, wäre ein kleiner Beitrag von Anerkennung und Hilfe, die Sie leisten können, damit sich die jetzt aufgebrochenen Wunden der vielen Menschen (8-12 Millionen) schließen können. Das ist notwendig zur Heilung der Wunden, die die Betroffenen heute noch spüren,

Die Betroffenen, die sich inzwischen in Landes- und Heimortgruppen zusammengeschlossen haben, brauchen die Einsicht in die Akten der Heime, der Jugendämter, der Überprüfungsbehörden dieser Kindererholungsstätten, um dazu beizusteuern, dass dieses düstere Kapitel in der Geschichte des Medizin-Sozialwesens in dieser Phase der ehemaligen Bundesrepublik gründlich aufgearbeitet werden kann. Die Mehrheit unserer Betroffenen wollen keine persönliche, individuelle Entschädigung, darauf kommt es ihnen nicht an, sie wollen eine Verantwortungsübernahme seitens der Politik des Bundes, der Länder und der Wohlfahrts-Institutionen, sie wollen mithelfen, dass die Wahrheit ans Licht kommt, und die 50 Jahre vergessenen Taten aufbearbeitet werden. Dafür bitten wir um Unterstützung! Dieses würden wir gern mit Ihnen an einem Runden Tisch zu diesem Thema besprechen. So ein Runder Tisch muss einberufen werden, und dort müssen wir in Vertretung für die Tausenden, die sich an uns gewandt haben, und mit unserer daraus erwachsenen Expertise, teilnehmen. Forschende, die mit uns in Kontakt stehen, werden seriösere Zahlen aufweisen können, als mit uns nicht in Verbindung stehende, denn Betroffene mit ihren Zeugenaussagen, wenden sich zu Tausenden an uns, weil sie zu uns Vertrauen haben, daher wird eine Forschung ohne uns nicht möglich sein!

Mit diesem Anliegen wandten wir uns nun erstmals mit einem Gesprächsanliegen an Ihr Haus 2019, dann 2020. Es fand dann ein erstes Gespräch im Januar 2021 mit uns statt, wo uns ein konkretes Angebot in einem Nachfolgegespräch für in vier Wochen in Aussicht gestellt wurde. Seitdem sind wir immer wieder vertröstet worden. Landesparlamente haben schon reagiert, Landessozialminister von Niedersachsen, Schleswig-Holstein, NRW und Baden-Württemberg, sowie Bayern unterstützen unser Anliegen, dass es Hilfe und Regelungen vom Bund für dieses Problem geben muss. Es liegen uns auswertbare Statistiken vor. Wir haben sie in einem anerkannten sozialwissenschaftlichen Institut nach historischen Veröffentlichungen anfertigen lassen. Daraus ergeben sich eindeutig nachprüfbare Belege für nicht zeitgemäße Grausamkeiten an Klein-, Vorschul- und Schulkindern in diesen Kinderheilstätten in Kurorten, die der Erholung dienen sollten.

Das Phänomen Kinderverschickung muss aufgearbeitet werden, es verdichtet sich der Verdacht, dass über die Gesundheitsämter und Ärzte in einem Zeitraum von weit über 30 Jahren, eine Medizinindustrie betrieben wurde, weniger zur Erholung der Kinder, als als Geschäftsmodell und zu Forschungszwecken. Erste Aktenfunde weisen darauf hin, enthüllen zahllose Pannen. Hier exemplarisch die Dokumentation der Diakonie Niedersachsen, die sich als erste Institution sich mit der dezidierten Analyse ihrer Hausakten beschäftigt hat: .https://verschickungsheime.de/neue-studie-der-diakonie-niedersachsen/, Ergebnis Ihrer Beschäftigung war eine Entschuldigung und der Apell an den Bund, seitens der Diakonie Niedersachsen, Verantwortung auch bundesweit zu übernehmen.

Nachfolgegespräche, die wir am 12.1.21 aus Ihrem Hause zugesagt bekommen haben, haben bis heute nicht stattgefunden. Sie schrieben uns dann am 23.6.21 einen neuen Brief, in dem Sie uns zusicherten, dass Sie im August 2021 erneut auf uns zukommen würden “um einen konkreten Gesprächstermin nach Möglichkeit Ende August 2021 mit uns abzustimmen”. Jetzt haben wir den 26. Oktober und noch keinerlei weitere Nachricht aus Ihrem Hause. Wir sind nicht nur enttäuscht und bestürzt, wir sind verärgert, denn wir fühlen uns respektlos behandelt. Man würdigt offenbar in Ihrem Hause nicht nur unser Anliegen nicht, nimmt es nicht ernst, vertröstet uns mit Versprechungen, die nicht eingehalten werden, sondern man spricht uns auch unsere wissenschaftliche Expertise ab, indem man uns als reine Laien – “Betroffene” abtut, die man billig vertrösten kann und über deren Aussagen man sich zuerst mal woanders irgendwo “sachlich” informieren müsste.

Unsere bisherige Forschungsarbeit, das Zusammentragen von über 5000 Zeugenaussagen aus allen Teilen des Landes der ehemaligen BRD, sowohl aus See-, also auch aus Salz- und Alpenbädern, die uns freiwillig zugekommen sind, ist nach standardisierten internationalen Kriterien in einem Wissenschaftsinstitut seriös angelegt worden. Begleitet durch FachwissenschaftlerInnen. Sie muss ernst genommen werden. Wir haben mit dem Erstellen von zahllosen Statistiken aus historischen Quellen, wertvolle Grundlagenarbeit geleistet, daran kann mit weiteren Forschungen angesetzt werden, aber die Betroffenen, die hier allesamt “Mitforschende” sind, brauchen Unterstützung ihrer ehrenamtlichen Forschungs- und Recherchearbeit! Das Anschieben zahlloser selbst organisierter Gruppen zur Recherche und Selbsthilfe, ständige Rund-um-die-Uhr-Beratung Hunderter Betroffener pro Woche, das alles braucht ebenfalls Unterstützung und Hilfe.  Die Aufarbeitung eines Phänomens, was einer ganzen Generation Kinder über 30 Jahre angetan wurde, ist keine Aufgabe von einer Selbsthilfegruppe, oder eines einzelnen Vereins, da muss die Politik reagieren! Die Politik hat dieses Phänomen später einmal historisch-geschichtlich zu verantworten.

Wir führen Ende November unseren dritten Fachkongress mit zahllosen Forschenden in Verbindungen mit mehreren Universitäten zum Thema durch, der wird von der Presse ausführlich dokumentiert werden. Bisher haben wir über 80 Anmeldungen. Wir würden uns freuen, von Ihnen bis dahin zu einem Gespräch per Zoom gebeten zu werden, wo unsere Forschenden Gelegenheit zur Stellungnahme und zum Vortragen ihrer Ergebnisse bekommen können und dann dort schon eine konkrete, unbürokratische Sofortlösung  zur Unterstützung von Ihnen angeboten wird.

Die Betroffenenzahlen steigen, wöchentlich füllen bei uns etwa 200 Menschen unseren Fragebogen vollständig aus, und schicken uns bis zu vier Seiten Freitext mit dezidierten Schilderungen erlittener Grausamkeiten, wie man sie sonst nur aus Zuchthäusern kennt. Wir möchten ungern auf dem Fachkongress immer noch mit leeren Händen seitens des Bundes dastehen. Das wäre auch eine sehr ungünstige Botschaft an die Presse.

Wie lange müssen wir noch betteln, um auch nur die kleinste Unterstützung zu bekommen? Bitte hören Sie uns an, setzen Sie sich mit unserer Thematik auseinander, geben Sie uns Gelegenheit den von uns ermittelten Forschungsstand und unsere fundiert überlegten, seriös ausgearbeiteten Forderungen nach Unterstützung anzuhören! Und: Handeln Sie!

Wenn Sportbünde etwas fordern, dann geht das in einer Woche, dass es Geld gibt, hier wartet eine ganze Generation ehemaliger Verschickungskinder seit zwei Jahren auf einen Runden Tisch,auf ein konkretes Angebot erster Unterstützung unserer Arbeit aus Ihrem Hause. Während wir in der Zeit Beratung und Recherche für Tausende inzwischen mit über 139 aktiven Menschen ehrenamtlich über viele Stunden täglich leisten!.

Mit freundlichen Grüßen und in der Hoffnung, dass Sie sich endlich zu einer Lösung, einem Angebot an uns durchringen können.

Anja Röhl