Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime

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Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987

Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.

Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.

Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.

Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.

50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)

Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.

Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.

Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.

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doris schrieb am 13.12.2019
8.12.19-12.12.19
Ein herzliches Hallo an alle, die den Mut haben, sich hier zu zeigen

Auch ich,
1955/56, damals 4+5 Jahre alt, heute 68 Jahre habe mich mein Leben lang mit dieser „Kur“ beschäftigen müssen. Report Mainz hat sie mir wieder vor Augen geführt und so bin ich auf diese Seite geraten.

„Schloss“ Friedenweiler, einer Kinderheilstätte im Schwarzwald unter Leitung des Monsignore Klotz mit Nonnen unter dem Dach der Caritas der Erzdiözese Freiburg. Zur gleichen Zeit hielten sich ca. 500 Kinder dort auf und insgesamt haben diese „Kuren“ ca. 30000 Kinder „genossen“

Ich bin Sozialpädagogin, psychoanalytische Kunsttherapeutin u. Traumatherapeutin. Diese Qualifikationen haben mir geholfen, mein frühkindliches Trauma teilweise zu lösen und damit zu leben. Und trotzdem holt es mich aktuell wegen meines Enkelkindes ein.
Ein Mädchen, 4 Jahre alt, bedacht darauf, die Liebe derer zu gewinnen, die es nähren, die für sein Überleben sorgen. Diese kleine Analphabetin, die nicht allein von A nach B fahren kann, weder Zeit noch Raum zu erfassen mag, führt mir deutlich vor Augen, in welch einer Welt so ein kleiner Mensch noch lebt:
eine Welt voller Unsicherheiten, voller Unwissen, Ungewissheiten, voller Angewiesen sein auf Erklärung für Unerklärliches, für Ängste; voll von zärtlichen Gefühlen, voll Spürsinn „Kindermund tut Wahrheit kund“; mit eisernem Eroberungswillen, voll von Fähigkeiten und Unfähigkeiten; ein Stehaufmännchen, gebeutelt von Erfolg, von Niederlagen, bedarf es eines wohlwollenden Schutzes durch erwachsene Menschen. Wie angewiesen ist dieses kleine Wesen auf Hilfe, wie abhängig von der Kraft, dem Einfühlungsvermögen, der Intuition und den weisen Entscheidungen der Riesen um es herum?!

Aktuell
Seit einiger Zeit mache ich mir Sorgen um die Ernährung meines Kindeskindes. Die innige Beziehung, die Paralellen ihres Alters, und dem Essensthema, zu meiner Zeit in der Kur damals, haben mich extrem belastet. Ich hatte Panik. Ich war verzweifelt.
Ich spürte seit Wochen sehr deutlich, die zunehmende Sorge und Angst um mein Enkelkind, eine Todesangst, es könne verhungern, eine Verlustangst auf die Zukunft gerichtet, das Kind könne so geschädigt werden, dass es später eine Essstörung entwickeln könne.

Ich suchte meine Hausärztin auf. Mein Blutdruck, sonst normal entgleiste und ich wurde notfallmäßig ins Krankenhaus geschickt. Es gibt keine körperlichen Ursache dafür, so dass die Diagnose lautet „essentielle Hypertonie“ eine vegetative „Bereitstellungs-krankheit“ u. o. ähnlich eines Konversationssymptomes als Ausdruckskrankheit be-zeichnet. Mein Herz ist unter hohen Druck geraten.

Damals, vor genau 65 Jahren geschah Folgendes:
Für mich liegt es auf der Hand, dass mein kindliches Trauma, durch die Liebe zu meinem Enkelkind und meine eigenen Esserfahrungen damals aktualisiert wurde:
Wie die Meisten hier berichten, sehe ich mich in einem riesengroßen Speisesaal, gefühlte Stunden vor dem dicken Milchreis sitzen. Zunächst an der Längsseite, dann als alle Kinder weg waren, alle Stühlchen leer, mein Teller voll, wurde ich umgesetzt, an das Kopfende des langen Tisches, nah zu den mit Küchengeschirr klappernden Nonnen, Sie liefen dort direkt hinter meinem Rücken hin und her in eine Küche. Ich hörte sie nur, wusste, dass sie mich immer im Blick hatten. Ich versuche noch heute jedes unbekannte Geräusch zu analysieren. Ist es gefährlich oder nicht. Zunächst erlebte ich so etwas wie ein Triumphgefühl, weil ich es schaffte, so lange still zu sitzen. Ich wollte stärker sein, als die Nonnen, die mich zwingen wollten zu essen. Ich schaffte es, ich träumte vor mich hin und war stolz, dass es tatsächlich nicht schwierig war, diese lange Zeit auszuhalten. Ich habe mich stark dabei gefühlt, den Brei so hartnäckig zu verweigern. Ich weiß nicht genau, aber ich glaube, ich schaute aus den großen Fenstern. Jedenfalls sah ich keine Nonne, kein Kind, sondern hörte nur die Räumgeräusche.

Plötzlich, nach dem ewigen Stillsitzen wird es Schwarz in meinen Kopf, wie als wenn ich auf ein schwarzes rechteckiges Blatt Papier sehe. Mein ganzer Kopf war davon ausgefüllt. Was war mit mir geschehen? Ich habe absolut keine Erinnerung.
Ich nahm ein Siegesgefühl aus dieser Situation mit.
Was, wenn es eine Täuschung war?

Schon als Baby, so berichtete meine Mutter mir später, habe ich keinen Griesbrei oder dicken Milchreis gegessen, habe ihn ausgespuckt. Zu Hause wurde ich liberal erzogen, niemals gezwungen und ich durfte meine Meinung sagen.

Ich blieb die ganze Kindheit über eine Träumerin, die aus der Realität ausstieg, wenn es schwierig wurde. Die Abwertung, weil ich oft so viel vergaß oder sogar konfus wurde, Fehler machte, wenn ich bewertet wurde, folgte regelmäßig. Bewertungssituationen wurden ein riesiges Thema, immer mit der Gefahr, eines Blackouts. Ich verkroch mich in Büchern und konnte wegen der Bewertungsangst nicht so viel Kapital daraus schlagen, wie es meinem Wissensstand eigentlich entsprach. Ich bin im Leben, wenn irgend möglich, Prüfungen und jeglicher Bewertung aus dem Weg gegangen, vor Angst, im entscheidenden Moment nur noch Schwarz zu sehen.

Dieses Schwarz im Kopf ist mir als 6/7jährige zum ersten Mal aufgefallen, als ich eine Ente oder später einen Wunschzettel malen wollte. Ich dachte, ich müsste doch im Kopf sehen, wie das aussieht, aber da war nichts, nur Schwarz. Mir kam das irgendwie nicht richtig vor, es war mir auch ein bisschen unheimlich. Dann habe ich gedacht, ich muss eben alles besser anschauen, dann würde sich dieses missliche Schwarzsehen vielleicht geben.
Die Gefahr der Blackbox aber blieb.
Viel, viel später, in der Mitte meines Lebens, als ich zeichnen lernte, kehrten die Bilder zurück und heute habe ich ein ausgezeichnetes Scenen-, Bild- und Filmgedächtnis.

Es erscheint nun plötzlich logisch, was wahrscheinlich nach meiner Essensverweigerung geschah. Mir fehlte bis vor ein paar Tagen, einfach die Vorstellung, dass es so etwas wie einen Zwang zum Aufessen von Erbrochenem gab. Und nun kommt es mir vor, als hätte mir genau diese Info, dieses eine Puzzleteil zu meiner Eßscene gefehlt. Mein Kampfgeist, mein Mut, der weitgehend auf der Strecke geblieben ist, kehrt nun zurück, ich möchte wissen! Und für die Anerkennung meiner leidvollen Erfahrung kämpfen.

Herzlichen Dank Anja und allen, die hier schreiben.

In diesem „Schloss“ geschahen nach meiner Erinnerung noch mehr seltsame Dinge, so dass ich sexuelle Gewalt nicht ausschließen kann, z.B. gab es Auswahlsituationen. Man konnte als Kind „auserwählt“ werden, „auserwählt sein", von einem alten Mann. Dieses Wort „auserwählt“ hat sich mir durch beide Kuren dauerhaft eingeprägt, ohne dass ich es mir näher erklären konnte. Ich habe auch ein Bild von dem Mann im Kopf (grau und von schlanker Statur, wie ein gefühlt gütiger Opa). Ich sehe und spüre noch immer, wie ich an seiner Hand inmitten der großen Kindermenge, in dem wunderbaren „auserwählten Zustand“ umherlief. Das fühlte sich so an, als wenn alles um mich herum leuchtete, hell und freundlich.

In der 2. Kur erinnerte ich mich gleich an diese Auswahlsituation, im Jahr zuvor. Es gab mir Sicherheit, weil ich wusste, worum es ging. Anders, als beim ersten Mal musste ich mich abmühen, drängeln, um in die Nähe des Mannes zu gelangen. Mit fragendem Blick an seiner Seite, strich er mir zwar übers Haar und es war, wie eine Hoffnungsschimmer, aber ich merkte, er erkannte mich nicht wieder. Er erwählte ein anderes Kind und ich war sehr enttäuscht. Nicht wiedererkannt zu werden, bedeutete wieder ganz allein, verlassen zu sein, in einer riesigen Kindermenge zu verschwinden. Ich war 5 Jahre. Dieses „Auserwählen“ scheint mir, geschah bei der Ankunft. Schwester Cortona, die mich auf ihrem Arm mit Lügen von meinen Eltern entführte, ich schrie und war nicht zu trösten, führte mich bei der 1. Kur diesem alten Mann zu, sozusagen als Trost.
Harmlos?

Vor ein paar Jahren machte der von mir befragte Wirt der Gastwirtschaft in Friedenweiler uns gegenüber zwielichtige Andeutungen über den, er nannte ihn Monsignore und erzählte, es sollen nach seinem Tod ca. 1973 bei der Räumung der Wohnung Kinderfotos, Pornos u.... gefunden worden sein. Das machte mich stutzig und hat mich bis heute nicht mehr losgelassen.
Gerede – Gerüchte?

Meine Recherche
Dieser Monsignore war der Anstaltsdirektor Ferdinand Klotz, von 1922-1971 im „Schloss“ Friedenweiler, Geistlicher, auch Geheimkämmerer des Papstes. Besonders ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstkreuz. Ein Bild habe ich leider noch nicht gefunden, um meine Erinnerung zu überprüfen. Ich könnte aber versuchen es zu malen.

Seltsam
Unter anderem ist mir das Mädchen, Astrid, in Erinnerung geblieben, welches ich durch einen gemeinsamen Krankenhausaufenthalt in unserer Heimatstadt kannte.
Ich beobachtete dort, Astrid lag links neben meinem Bett, wie die Eltern das Kind während eines Besuches beschimpften und ihm die Schuld an seiner Krankheit gaben. Ich hatte Astrid in mein Herz geschlossen, sie war ein besonders zartes, liebes Kind und ich war richtig empört über solche Eltern. Astrid tat mir total leid, gleich als die Eltern weg waren, lief ich auf die andere Seite ihres Bettes, dahin, wo vorher die Eltern standen und tröstete sie. Ich erklärte ihr, dass sie auf keinen Fall schuldig sein könne, und ich fände, die Eltern seien schuld und böse. Ich hatte den Eindruck, sie konnte mir nicht wirklich glauben. Ich habe ganz verzweifelt versucht, sie zu überzeugen, weil ich es ganz verkehrt fand, so beschimpft zu werden.
Astrid traf ich in der 2. Kur wieder, sie hatte Asthma, es ging ihr in der Kur nicht gut, aber wir konnten auch spielen. Eines Tages suchte ich Astrid im Heim, sie war plötzlich verschwunden, doch ich fand sie nicht mehr.

Ein paar Jahre später, ich war ca. 12Jahre, traf ich die Eltern, und fragte sie, wie es Astrid ginge. Sie sagten mir, sie sei in dem Heim gestorben. Ich war schockiert und erzählte es gleich meiner Mutter, die das gar nicht glauben konnte, dass ich die Eltern erkannt habe. Ich sah die Eltern zuletzt, als ich 4Jahre war. Aber diese Momente mit diesem Mädchen hatte ich nie vergessen. Sie wirkte mit ihren blauen Augen, den blonden, leicht gelockten Haaren, mit diesem hellen, weißen Gesicht, wie ich mir einen Engel vorstellte, wunderschön.
Auf jeden Fall würde ich gerne auch darüber genauer recherchieren.

Wir mussten die Haare über Kopf im Waschbecken waschen, die Seife brannte in den Augen „...sei nicht so zimperlich...“, ich glaube es war auch kaltes Wasser, und dann wurden meine langen Haare brutal gekämmt, egal wie es ziepte. Ich habe immer geweint. Mir waren solche Verhaltensweisen völlig fremd!

Im Schlafsaal des Heimes wagte ich nicht, mich im Bett zu bewegen, weil draußen die schwarzen Wächterinnen standen. Ich fühlte mich, wie in Gefangenschaft, alles war verschlossen. Ich wusste, ich komme hier nicht raus.
Ich weiß nicht, ob wir bedroht wurden, aber ich fühlte, die ganze Atmosphäre war total beängstigend. Ich hatte auch irrsinnige Angst, aus dem Bett zu fallen, denn die Betten standen frei im Raum in Reih und Glied. Es gab kein Entkommen und ich glaubte, ich sähe meine Eltern niemals wieder.
Ich hatte mitangehört, dass es keine Päckchen, keine Briefe und vor allem keine Besuche geben darf. Ich erlebte mich total von der Außenwelt abgeschnitten. Mit diesem Wissen lag ich da, völlig ausgeliefert und ohnmächtig, ohne jemanden, der mir helfen konnte. Es war ganz, ganz schrecklich!

Ich litt zu Hause noch lange unter Albträumen, in denen ich verfolgt wurde.
Wieder bei den Eltern, habe ich aus Angst nicht gewagt, meine Arme und Hände über die Bettkante hinauszubewegen. Trotzdem lief ich nachts schreiend auf die Straße, ein nachträglicher Fluchtversuch? Ich hatte lange Angst vor dem Soldaten unter meinem Bett. Er lag dort mit dem Gewehr im Anschlag.
Einige Zeit danach drückte ich manchmal meine Nagelbetthaut von allen Fingern so fest an die Ecken der Glasplatte des Nachttisches, bis diese sehr weh taten. Erst neuerdings kam mir die Idee, dass dieses Verhalten evtl. dazu gedient hat, mich aus einem dissoziierten Zustand in die Realität zu holen.
Noch heute betreibe ich eine Extrempflege meiner Fingernägel, wenn ich durch Umwelterfahrungen ausgelöst, in konfuse Gefühle hineinrutsche, die ich nicht in Worte fassen kann, oder die ich noch nicht verstehen und deuten kann. Ich sage dann immer, „ich bin huschig“, verlege Dinge oder bin ganz abwesend.
Ich bin dann innerlich davon getrieben, mir Wissen und Erkenntnis anzueignen, um die Situation, das Ereignis einordnen zu können oder das Verhalten des Menschen mir gegenüber zu verstehen. Es ist fast, wie ein Zwang und kostet viel Zeit, da ich es auch häufig verschriftliche. Das wundert mich jetzt gar nicht mehr, denn ich habe als Kind überhaupt nicht begriffen, was da in dem Heim alles konkret falsch lief.

Als ich mit 38 Jahren das erste Mal allein verreiste, weckte mich ein entsetzliches Angstgefühl, das Herz schlug mir bis zum Hals. Senkrecht im Bett sitzend sah ich diesen bedrohlichen Soldaten im Türrahmen stehen, das Gewehr auf mich gerichtet. Minutenlang hielt ich diesen Soldaten für Realität. Ich konnte nicht fassen, dass er keine Realität sein sollte, so klar und farbig, von Feuer umhüllt stand er da, so deutlich, wie das übrige Zimmer.
Dieses Bild dieses Soldaten hat mich immer wieder beschäftigt, weil ich es mir nicht erklären konnte. Jedenfalls nicht mit Verlustangst. Beim Schreiben wird mir erst bewusst, dass dieses Bild die reine Todesangst symbolisiert!
Vor ein paar Tagen erhielt ich nun Post von Wolfgang Schrader, der mir schrieb, er sei mit 10 Jahren in diesem „Schloss“ gewesen. Er drückte seine Wut auf dieses „Schloss“ auch in einer Bildersprache aus. Er schrieb, es habe auf ihn wie ein Gefangenenlager gewirkt.
Da ich erst 4 Jahre alt war, so erklärt es sich mir jetzt, habe ich diesen Umstand vor allem gefühlt und dafür scheint der Soldat als Ausdruck zu stehen, für Todesängste, die ich dort ausstehen musste.
Ich bin sehr dankbar für Wolfgangs Rückmeldung, da sie mir eine Gewissheit gibt, dass ich die Situation richtig erfasst habe. Eine Flucht war nicht möglich. Ich erinnere mich an den Raum in dem das Aufnahmegespräch mit der Nonne Cortona stattfand. Meinen Eltern wurde jeglicher Kontakt untersagt, weder, wie ich schon oben erwähnte, dürfe es Briefe oder Päckchen geben, noch Besuch. Meine Mutter war darüber entsetzt, aber die Nonne argumentierte, dass diese Regel zum Schutze der Kinder seien, die nichts von zu Hause bekommen würden. Beinahe hätte meine Mutter mich wieder mit nach Hause genommen. Doch dann erschlich sich die Schwester Cortona mein Vertrauen, indem sie mir versprach, meine Lieblingstiere, die Rehe im Garten zu zeigen und wieder zu meinen Eltern zurück zu bringen. Mein Vater reichte mich auf ihren Arm. Aber dann, als ich mit ihr auf der gewendelten Treppe durch ein Fenster in den Garten schauen konnte, merkte ich, dass es keine Rehe gab. Ich war völlig irritiert und durcheinander. Ein Durcheinander, dann ein riesiges Gewusel von Kindern. Das war völlig wirr. Danach war die Scene mit dem Monsignore. Ich bemerkte, dass alle Türen hinter mir ins Schloss fielen. dass die Schwester Cortona mich an den Monsignore übergab, der mich dann ja „auserwählte“. Die Nonne verschwand hinter einer Tür, die ich nicht öffnen konnte und durfte. Ich habe dann oft davor gestanden. Diese Schwester, die mich auf dem Arm mit einem falschen Versprechen entführte, sah ich nie wieder.

Meine Eltern wurden unerreichbar. Ich hielt sie dann nach und nach für gestorben, ich meine noch heute diese furchtbare Resignation darüber zu spüren. Ich habe davon ein Gefühl zurückbehalten, dass es alles immer dunkler wurde, auch in mir. Später erzählte ich, ich sei dort seelisch gestorben.

Immer wieder habe ich Schwierigkeiten zu erkennen, ob Menschen mir ehrlich und vertrauenswürdig begegnen: zum Teil blieb ein gesundes Misstrauen, zumindest Fremden gegenüber und vor allem Kirchenmenschen, aber in nahen Beziehungen werde ich erst nach und nach gewahr, wenn ich ausgenutzt, belogen oder betrogen werde. Es fällt mir schwer, Schein, manipulatives Verhalten, Verschleierung, und Halbwahrheiten eindeutig zu identifizieren. Spontan erfasst mich eher eine naive Glaubwürdigkeit oder ein diffuses Gefühl, von Unstimmigkeit. Das hat zu tragischen Weichenstellungen in meinem Leben geführt. Dieses darzustellen, wäre hier nicht der geeignete Ort, aber der wird sich sicher auch noch ergeben.

Unerklärliches, konfusen Erleben in Worte zu fassen, zu begreifen oder eine Aufklärung dafür zu finden, hat mich bis heute viel Zeit und Energie gekostet. Sehr oft haben sich diese diffusen Zustände auf Verlust- und Todesängste bezogen, die sich in Träumen und in Tagebüchern konkret ausdrücken.
Ich habe aber auch ganz unbewusst, ohne dass ich es mir vorgenommen hätte wichtige Bilder gemalt. Sie beziehen sich z.B. auch auf sexuelle Gewalt und nackte Nonnen, für mich bisher nicht erklärbar. Einen Sinn könnten sie im Zusammenhang mit meiner Kur machen, ich weiß es aber noch nicht.

Ich kam als eingeschüchtertes mucksmäuschenstilles, fügsames Kind nach Hause, voller Ängste davor, Fehlern zu machen und negativ bewertet zu werden. Ungefähr bis zum 16. Lebensjahr war ich wie mundtot. Ich sei wie ausgewechselt gewesen, sagte meine Mutter und sei krank nach Hause gekommen.
Ich habe zwar überlebt, konnte mich aber nie mehr meiner Mutter vertrauensvoll anschließen. Unser seit der Kur gestörtes Verhältnis, denn sie hat ebenso unter den Folgen gelitten wie ich, hat uns ein Leben lang begleitet. Sie glaubte mir damals, da sie meine Reaktionen ja auch erlebte und war der Meinung, dass es ein großen Fehler gewesen sei, mich wegzuschicken. Diese Schuldgefühle haben sie bis zu ihrem Tod 1996 begleitet. Sie konnte sich als Laie aber nicht konkret vorstellen, wie lebensbestimmend, verhaltensprägend derartige Gewalterfahrungen in der frühen Kindheit auf den Lebensverlauf wirken würden und wie schwer es ist, die daraus resultierenden Schlussfolgerungen, Einstellungen und Einschränkungen zu korrigieren oder ganz zu überwinden. Das war vielleicht auch gut für sie.

Traumatisierte Kinder erleiden nicht nur ihr Trauma, was schon schlimm genug wäre, sondern müssen mit den folgenden Ängsten und Beeinträchtigungen lernen, umzugehen, entwickeln daraus Notverhaltensweisen, „ernten“ von der Umwelt im weiteren Lebenslauf, oft viel Unverständnis und Kritik oder werden abgewertet. Das zeigt sich z.B. in solchen Äußerungen, wie : „...wenn man nur will, ...dann kann man auch...“ oder „...was wühlen sie denn nur immer in der Vergangenheit rum...“ „...das sind doch alles alte Kamellen...“ „...muss das sein, dass du dich so aufregst...“ usw.

Ich musste mich mit diesem Vergangenen auseinandersetzen, sonst hätten meine Gefühle mich in Panik und Schrecken versetzt. Ich habe viel Energie dafür einsetzen müssen, damit diese Vergangenheit mir mein Leben nicht verdirbt, verdunkelt, mich total kaputt macht, damit ich meine Ängste im Griff behalte und steuern kann, damit ich nicht krank werde und niemand anders, z.B. meine Kinder darunter leiden müssen.

Ich hoffe, es wird deutlich, in welchem Zusammenhang meine Todes- und Verlustängste bezüglich meiner Enkelin aktualisiert wurden. Ich musste leidvoll erfahren und weiß darum, wie nachhaltig frühkindliche Erfahrungen das Leben prägen können. Ich habe versucht, das Beste daraus zu machen, indem ich lernte, das Kind, was jeder einmal war, zu verstehen, mich einzufühlen und ihm zur Seite zu stehen. Und das hat mich ebenso bei meinen Kindern geleitet, wie bei meiner Enkelin.

Nun versuche ich, Informationen zu bekommen, weil ich noch sehr klein war und vor allem das Meiste als Gefühl gespeichert habe. Ich habe zwar bildliche Erinnerungen, Scenen, Worte, aber es sind Bruchstücke. Ich möchte Gewissheit, recherchieren, möchte wissen, ob ich mit meiner Wahrnehmung als kleines Kind die Realität erfasst habe, wie unmenschlich sie durch die Nonnen und den Monsignore gestaltet wurde. Einfach zerstörerisch!

Ich würde gerne ein Zwillingspärchen finden, die mit mir bei der 2. Kur ein Zimmer bewohnt haben. Ich würde gerne so etwas wie einen Aufruf starten. Weiß aber noch nicht genau wie. Es wäre ein Geschenk, sie zu finden.
Und ich habe den Weihnachtswunsch, dass mir ein Buch mit Bildern und Dokumenten gelingen möge.
Und vielleicht kann mein Bericht auch ein bisschen helfen oder anregen.

Liebe Grüsse an alle,
von den Eltern gerufen Mäuschen, von den Nonnen geändert in Dorle
Doris
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2 Kommentare

  1. Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja

  2. Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
    diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
    Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
    Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
    Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
    für den Rest des gesamten Lebens.
    Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
    Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
    in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
    Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
    Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
    Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
    Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!

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