Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime
Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987
Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.
Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.
Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.
Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.
50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100: Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)
Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.
Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.
Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.
Das weiß ich noch ganz genau. Ich war 5 Jahre alt und fand es sehr interessant an einen Ort zu fahren, der das Wort "Schule" in seinem Namen hatte. Ich freute mich riesig, schließlich war ich noch nie in einem Kindergarten gewesen (geburtenstarker Jahrgang, keine Plätze) und hier sollte es nun ein großes Heim geben - extra für Kinder. Meine beiden älteren Geschwister waren bei mir im gleichen Zugabteil und ich ließ aufgeregt die Beine baumeln. Lauter Kinder, der ganze Zug war voller Kinder. Oh wie schön, dachte ich.
Wir kamen in Schulenberg an und wurden alle in einen Saal geführt. Nach und nach wurden die Kinder aufgerufen und mussten sich vorne an die Wand zu einem Fräulein stellen und dann abmarschieren. Wir Geschwister wurden getrennt. Ich war entsetzt, erschüttert, schockiert, tief traurig, so traurig, wie in meinem ganzen Leben nie zuvor. Ich war zuvor nicht einen einzigen Tag von meiner Familie getrennt - und nun lagen 6 Wochen ohne meine Geschwister, ohne meine Eltern, ohne jemanden, den ich kannte, vor mir - 6 lange traurige Wochen. Geweint habe ich nicht, dazu war die Situation zu hoffnungslos.
Wir bekamen unser Bett gezeigt, unseren Spind, unsere Koffer wurden ausgepackt, unsere Zahncremes und Hautcremes wurden eingesammelt. Ich legte traurig meinen Teddybär aufs Bett. Er bot mir nicht viel Hilfe, war er doch nur aus Stoff. Nur noch Gott war lebendig bei mir, leider lässt er sich nicht sehr gut umarmen. Mein Teddy lag still da und streckte die Nase in die Luft. Ich deckte ihn zu, deckte ihn auf, war traurig. Wir lernten das Betten machen. Zwei der Mädchen waren schon mal dort zur Kur gewesen. Sie waren sehr geschickt im Decke unterfalten. Ich nicht.
Von nun an konnte ich meinen Geschwistern nur noch aus der Ferne zu winken. Nicht mal beim Essen konnte ich sie sehen, da die Kleinen, zu denen ich gehörte (eine Gruppe 2-5 Jahre alte Mädchen ca. 12 und eine Gruppe 2-5 Jahre alte Jungen auch ca. 12 Kinder), von den anderen Kindern völlig abgeteilt im Speisesaal saßen.
Unser Fräulein hieß Fräulein Peter. Ich dachte, ich hatte mich verhört, schließlich war sie doch eine Frau und Peter eine Jungenname. Am nächsten Morgen beim aufstehen bat ich sie um Hilfe: "Fräulein Petra, können Sie mir bitte den Rock zu machen?". Damals hatte ich noch keine Angst vor erwachsenen Menschen. "Ich heiß nicht Fräulein Petra, sondern Fräulein Peter" kam es verärgert zurück. Ich schämte mich und war einsam.
In der Gruppenhierarchie, die sich bildete, landete ich ganz unten. Ich weiß nicht warum. Vielleicht, weil ich in der zweiten Woche eine infizierte Stelle an der Stirn bekam, weil ich ständig traurig war, weil ich keine bunten Strümpfe hatte (meine waren graubraun aus Wolle), oder weil ich nie Postkarten bekam, weil ich nicht klein und goldig war (die jüngsten waren zwei Jahre alt, ich schon fünf) - keine Ahnung? Ich trottete immer als letztes hinter den anderen her.
Der Tagesablauf war folgendermaßen: Aufstehen, waschen, Zähne putzen. Manche der Kinder benutzten kräftig Seife und erzeugten richtige Blasenberge im Waschbecken, sie wurden gelobt. Ich seifte mich sparsam mit den Händen ein, wie zuhause. Ein Fräulein kam zu mir und fragte: "Wozu ist der Waschlappen da?" ich antwortete "zum Waschen". "Na also" meinte sie. Ich verstand sie nicht, ich war doch noch beim einseifen und nicht beim abwaschen der Seife - egal, ich fühlte mich verkehrt, machte weiter, wie gewohnt.
Wir mussten uns alle mit der Zahnbürste in einer Schlange aufstellen und jeder bekam einen Klecks Zahncreme. Jeden morgen wurde laut verkündet von welchem netten Kind die Zahncreme war und welchen schönen Geschmack sie hätte. Die gute Kinderzahncreme, die meine Mutter extra in der Apotheke für uns gekauft hatte, bekamen wir nie. Einmal, als ich an der Reihe war, und meine Zahnbürste vorstreckte, nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte zu den beiden Fräuleins (irgendwie waren die immer zu zweit - und man selbst einsam alleine): "Ich möchte nach hause." Daraufhin wurde mir erklärt, dass ich sehr unartig wäre. Meine Geschwister wären viel artiger als ich, sie würden nicht nach hause wollen. Nach hause käme ich nur ganz ganz ganz alleine. Ich dachte, das klingt zwar jetzt sehr fürchterlich, ist aber eigentlich akzeptabel. Ich gab zu verstehen, dass ich auch unter diesen Umständen nach hause wollte. Ich wartete Tag für Tag, aber es geschah nichts.
Nach der Morgentoilette gab es Frühstück, Waldspaziergänge und Spielzeit im Spielraum, dann Mittagessen, Nachmittagsschlaf, Kaffeetrinken, wieder Waldspaziergänge (es gab viele Frösche dort) Spielzeit und Abendessen. Zur Toilette ging die ganze Gruppe immer gemeinsam und ich wunderte mich, dass das funktionierte, dass ich zum festgelegten Zeitpunkt musste. Manchmal wusste ich beim aufstehen gar nicht mehr, ob jetzt morgens war oder nachmittags, alles war so gleich.
In dem Spielzimmer gab es einen Kaufmannsladen. Kaufmannsladen-spielen war mein Traum. So hatte ich mir Kinderheim vorgestellt: Mit anderen Kindern und meinen Geschwistern Kaufmannsladen spielen. Das Fräulein hatte sogar kleine Päckchen mit winzigen Butter-Keksen, die sie den Verkäufern im Kaufmannsladen gab. Das dumme war nur, ich durfte niemals mitspielen. Verkäuferin spielen hätte ich super toll gefunden, aber ich durfte noch nicht mal einkaufen. Wenn ich mich dem Kaufmannsladen näherte, zeigten die anderen Mädchen auf mich und sagten: "Nee, Du nicht!" Leider war ich nicht mit Freundin dort oder Geschwistern, leider war ich ganz allein.
Morgens bildeten wir im Spielzimmer einen Stuhlkreis und es wurden Postkarten vorgelesen. Kinder die eine Postkarte bekommen hatten, waren sehr froh und wurden geliebt und gelobt. Ich bekam nie eine Postkarte im Stuhlkreis vorgelesen. Einmal hielt mich das Fräulein von meiner Schwester auf dem Flur an. Sie hatte eine Postkarte in der Hand und war sehr freundlich zu mir. Ich kannte sie nicht, aber sie wußte wer ich war. Sie sagte, etwas sehr schönes wäre passiert, ich hätte ein Geschwisterchen bekommen und solle raten, wie es heißt. Sofort sagte ich alle Namen, die mir einfielen, aber der richtige war nicht dabei. Die Postkarte selbst bekam ich nicht vorgelesen. Hätte ich gewusst, dass sie mit: "Meine lieben Kinder...." anfing, hätte ich sofort Rotz und Wasser geheult und nie mehr aufgehört zu heulen. So aber blieb ich stumm.
Im Spielzimmer gab es eine Liege. Manchmal lagen da ältere Kinder. Sie mussten "Liegekur" machen, weil sie unartig waren. Dabei mussten sie eine Stunde ganz still liegen. Später taten mir Leute leid, die sich in die Sonne legten, wie bei der "Liegekur". Die machten das, um braun zu werden. Diese Armen, gefangen in ihrem Schönheitswahn nahmen sie freiwillig so eine harte Strafe auf sich. Ich habe das nie gemacht, niemals "Liegekur" - niemals. In unserer Altergruppe wurde diese Strafe noch nicht angewendet.
Als wir im Spielzimmer waren, hörten wir einmal ein Kind vom Krankenzimmer her weinen. Die Fräuleins sagten es wären unartig. Man hörte auch einmal Geschimpfe dort. Ich glaube ein krankes Kind wurde auch mal von den Eltern abgeholt.
Einmal pro Woche gab es Sport in der Turnhalle. Wir mussten uns zum Beispiel nur durch Bewegen der Zehen von einer Turnhallenwand zur anderen vor bewegen. Einmal mussten wir uns alle ganz gerade hinstellen, und die Fräuleins gingen um uns rum und schauten, ob wir das richtig machten. Ich hatte keine Ahnung, wie man richtig gerade steht, zum Glück wurde ich nicht weiter beachtet. Ein Mädchen hatte einen Kugelbauch und ein anderes ein Hohlkreuz, sagten die Fräuleins.
Einmal pro Woche wurden wir gewogen und gemessen. Jedes Kind, das ordentlich zugenommen hatte, wurde gelobt. Ich habe in den ganzen 6 Wochen 2 Pfund zugenommen, und das obwohl ich keinen einzigen Bissen mehr gegessen hatte, als ich musste. Manchmal fing ich an zu würgen, wenn ich das Essen runterschluckte. Zur Strafe musste ich dann auch mal in der Ecke stehen mit dem Gesicht zur Wand. Das fand ich nicht sehr schlimm. Insgesamt stand ich 3 Mal in der Ecke. Ich war ja sowieso einsam. Die Ecke hatte Holzstreifen und ich spazierte mit dem Finger auf und ab. Ecke stehen fand ich jedenfalls sehr viel schöner als essen. Aufessen musste ich aber trotzdem immer, oft alleine in der Küche stehend an der Durchreiche. Dabei schaute ich dann sehnsüchtig zu den Töpfen und überlegte, wie ich es schaffen könnte, das Essen dort wieder hinein zu bekommen. Aber sie waren viel zu weit weg von mir. Unter der Durchreiche stand ein Eimer mit Wischlappen, aber ich traute mich nicht, das Essen dort zu entsorgen. Aufessen war ja damals normal, zuhause musste ich das auch, nur durfte ich zuhause bestimmen, wie viel auf den Teller kommt.
Da ich sowieso immer alles aufessen musste, gewöhnte ich mir an, die schrecklichen Dinge zuerst zu essen, und dann die besseren Sachen hinter her. Einmal gab es halbgare Kartoffeln. Sie wurden mitten während der Mahlzeit wieder eingesammelt - und dabei nicht gezählt!! Dummerweise hatte ich meine Kartoffeln schon runter gewürgt. Zu gerne hätte ich sie abgegeben in den großen Topf, und nichts zurück genommen. Gebrochen hat bei uns niemand, so schlimm und viel war das Essen dann auch wieder nicht. Manchen Kindern hat es immer geschmeckt. Meine Mutter fand, ich hätte mir diese dumme Würgerei im Kinderheim abgeschaut, aber ich glaube, es passierte von alleine, ich musste mir das nicht abschauen.
Nachts war unsere Mädchengruppe in zwei angrenzenden Schlafräumen untergebracht. Bei mir im Zimmer lagen auch zwei Mädchen, die das Heimleben liebten und schon zum zweiten Mal zur Kur waren. Sie waren befreundet oder sogar Cousinen und die Lieblinge der Erzieherinnen. In der ersten Woche abends beim zu Bett gehen zeigte eine von ihnen mit dem Finger auf mich und sagte: "Die macht bestimmt auch bald in die Hose". Ich schüttelte den Kopf, weil ich mir das überhaupt nicht vorstellen konnte. Aber leider behielt sie recht, nach 2-3 Wochen fanden sich in meiner Schlafanzughose hin und wieder und immer häufiger Bremsspuren. Ich versuchte es möglichst gut zu verbergen und stieg dann abends wieder in die Hose mit dem eingetrocknetem Dreck. Manchmal wurde es aber auch entdeckt. Dann durfte ich morgens alleine in den Waschraum und die Hose auswaschen, während die anderen Kinder noch draußen warten mussten. Das empfand ich nicht als harte Strafe, eher als Möglichkeit das ganze wieder selbst in Ordnung zu bringen und endlich wieder eine saubere Hose zu bekommen. Zuhause habe ich das natürlich nicht erzählt.
Manchmal schmierten Kinder ihren Kot an die Wand oder entleerten sich einfach auf einen Stuhl im Schlafzimmer. Sie mussten das dann weg machen, aber nie während wir dabei waren. Trotzdem wussten wir bescheid und wußten, wer böse war (natürlich waren die Ungeliebten die Bösen). Niemals hätte ich mich getraut nachts auf die Toilette zu gehen.
Einmal hat die Erzieherin abends eine Geschichte vorgelesen. Es handelte von einem Kind, dass Karussell gefahren ist. Es saß in einem kleinen Auto, und das ist plötzlich los gefahren, runter vom Karussell und durch die Welt. Danach hatte ich einen wunderschönen Traum: Ich hatte ein kleines Auto und meine ganze Familie kam mit dem großen Auto und wir sind alle nach hause gefahren. Die ganze Groß-Familie im großen Auto, ich mit meinem kleinen Karussell-Auto hinterher. Wir waren alle glücklich und ich war glücklich und selbstbestimmt.
Leider war es nur ein Traum, als ich aufwachte, war ich wieder im Heim.
Wie schon gesagt, wir waren in zwei angrenzenden Schlafräumen untergebracht.
Abends passierte Quatsch. Ich lag am Fenster in einem Zimmer mit ca. 7 Betten, nebenan waren ca. 4 Betten. Insgesamt waren wir 12. Einige Mädchen (besonders die Lieblinge der Erzieherinnen) waren mutig, sie liefen zur Tür des anderen Schlafraums, zogen sich die Schlafanzughose runter und zeigten den anderen Kindern ihren nackten Arsch in der Dämmerung. Plötzlich kamen die Erzieherinnen rein. Sie bezeichneten mich als Anstifter, und ich musste mitsamt Decke mitkommen. Sie brachten mich in das Badezimmer mit den vielen Waschbecken. Dort gab es im Nebenraum am Rand eine Rinne zum Füße waschen, mit Wasserhähnen. Sie war trocken und wir haben sie nie benutzt. Die beiden Fräuleins legten meine Bettdecke zur Hälfte in die Rinne, ich sollte mich hinein legen. Dann wurde ich zugedeckt, um die Nacht dann dort zu verbringen. Die Fräuleins waren beim zudecken erstaunlich freundlich und haben gar nicht mehr geschimpft. Ich fühlte mich wie Daniel in der Löwengrube - völlig unschuldig bestraft. Da lag ich nun alleine mit den Wasserhähnen in der Dämmerung. Ich stellte mir vor, wie die Wasserhähne langsam dunkel werden würden, und wie ich dann Angst bekommen würde, so völlig alleine im großen dunklen Waschraum. Ich betete zu Gott, dass ich bitte schnell einschlafen möge, bevor es dunkel würde. Ich stellte mir vor, dass es vielleicht doch Engel geben könnte, die sich um meine Schlafstätte stellen könnten, und schlief ein. Ich wachte erst wieder auf, als die Sonne zum Fenster rein schien und genoss die Wärme auf meinem Gesicht - puh geschafft, danke Gott - ich war glücklich, dass es überstanden war, und fühlte mich wunderbar wohl, so mit der warmen Sonne auf der Nase. Ein Fräulein kam zu mir und fragte mich, wie es mir in der Nacht ergangen war. Ich antwortete: "Endlich konnte ich mal richtig ausschlafen!" Dabei streckte ich mich und war etwas unsicher, weil ich gar nicht so genau wusste, was ausschlafen überhaupt bedeutete. Ich war froh, dass ich nicht geheult hatte. Ich durfte mich waschen gehen.
Tage später passierte wieder das Gleiche, die Lieblinge machten Quatsch, zeigten ihren nackten Arsch an der Tür, und die Erzieherinnen kamen rein. Diesmal wurde die dreijährige Tina ergriffen. Sie hatte ihr Bett unglücklicherweise gleich neben der Tür. Tina war auch unschuldig. Sie war noch viel zu klein, um überhaupt Quatsch zu machen. Tina wollte ihre Puppe mitnehmen. Das durfte sie aber nicht. Die Puppe musste liegen bleiben, sie wäre artig gewesen, nur Tina wäre böse. Tina ging weinend mit, die Fräuleins trugen ihre Decke. Da lag die Puppe nun auf dem Kopfkissen in der Dämmerung.
Ich muss noch oft an Tina denken. Schade dass ich nicht den Mut hatte, Dich heimlich in der Rinne zu besuchen, aber ich habe mich ja noch nicht mal aufs Kloh getraut. Ich wusste ja als einzige von den Kindern, wo Du warst. Schade dass ich nicht aufgestanden bin und gesagt habe: "Ich will mit!" oder "Das ist nicht fair!" oder "Tina ist unschuldig" Schade, dass ich so so viel Angst hatte. Es tut mir leid. Tina und ich, wir waren die einzigen in der Gruppe, die so bestraft wurden.
Tina hatte Ohrringe, als sie einen verlor, weinte sie fürchterlich, weil das Ohren stechen so weh getan hatte. Mehr weiß ich nicht von Tina.
Einmal pro Woche wurde abends geduscht und Haare gewaschen, das war schön, denn es gab Harwaschmittel, das nicht in den Augen brannte. Das hatten wir zuhause nicht.
Beim Abschlussabend ging mein gebastelter Krepp-Rock kaputt und ich musste in Unterhose essen. Zwei blöde Fräuleins standen hinter mir, zeigten mit dem Finger auf mich, tuschelten und lachten, sie fanden das irgendwie goldig - mich in der Unterhose, ich fand sie doof.
Oft schien die Sonne und einmal haben wir auf einer Lichtung ein Singspiel gemacht: "Drei mal drei ist Neune, Du weißt ja..." das war schön. Sonntags gab es Eis, das war auch schön. Aber der Abschlussabend, als Sketsche vorgeführt wurden und Tänze und wir danach nach hause durften, das war das allerschönste. Alle waren gut gelaunt und fröhlich, die Kinder und die Fräuleins.
Es war wunderschön wieder zuhause zu sein. Meine Mutter hatte neue Kleider für uns genäht und alles war aufgeräumt. Ich hatte eine niedliches kleines Geschwisterchen bekommen, die Sonne schien und alles war wunderbar. Wir haben alles zuhause erzählt und gegenseitig mit der Anzahl der Strafen angegeben; ich als jüngste hatte die meisten kassiert. Wir protzten auch damit, wer am meisten zugenommen hatte, und meine Mutter meinte, wir könnte gerne wieder abnehmen. Meine Eltern haben nie wieder irgendein Kind irgendwohin verschickt. Nicht mit der Kirche, nicht mit der Arbeiterwohlfahrt nicht aus guten Gründen - gar nicht.
Vor der Verschickung hatte ich keine Angst vor erwachsenen Menschen, danach immer, besonders wenn ich alleine mit ihnen in einem Raum war.
Immer wenn ich eine Kindertagesstätte von innen sehe, diesen Linolfußboden, die kleinen Stühle diesen Erzieherinnen-Tonfall höre, muss ich weinen. Es fällt mir schwer Kinder in den Kindergarten zu bringen ohne in Tränen auszubrechen, selbst wenn diese ganz fröhlich sind. Erzieherinnen gegenüber bei denen ich Kinder abgeben muss, bin ich sehr skeptisch. Wenn Kinder im Erzieherinnentonfall reden, tun sie mir unendlich leid. Jede Begegnung mit Erzieherinnen oder Erziehern ist sehr belastend und stressig für mich und ich muss aufpassen, keine Feindseeligkeiten zu zeigen. Manche Erzieherinnen sind aber sehr sehr nett zu den Kindern und auch zu mir, irgendwie gibt es heutzutage aber auch doofe und nette Erzieherinnen. Man sollte mit einsamen Kindern - und viele Kinder in den Einrichtungen sind einsam - jeden Tag - man sollte mit ihnen noch viel viel netter umgehen. Jedes böse Wort ist schon zu schlimm. Heute hörte ich in den Nachrichten, dass einem Kind Essen eingeflößt wurde und die Staatsanwaltschaft ermittelt. Ist schon erstaunlich, was man damals als normal empfunden hat.

Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja
Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
für den Rest des gesamten Lebens.
Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!