Verschickungskinder legen hier ZEUGNIS ab
Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH schmerzhafte Erfahrung mit der Verschickung in Kindererholungsheime, Kinderkurheime und Kinderheilstätten eingetragen, die in der Regel 6 Wochen Alleinunterbringung in einem weit entfernten Kurort zur Luftveränderung bedeuteten. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil einer Selbsthilfe von ehemaligen Verschickungskindern, die die Verschickungen in diese Kureinrichtungen schmerzhaft, angstvoll und gewalttätig erlebt haben. Die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Auch positive Erinnerungen können geschildert werden, es ist wichtig zu wissen, was den Kindern und wer ihnen mglw. geholfen hat. Auch diejenigen, die im Gebiet der „neuen Bundesländer“ (einschließlich DDR-Zeit) in die bisher 130 Kinderkurheime (Liste bisher noch unvollständig) verbracht worden sind, haben die Möglichkeit hier Zeugnis abzulegen.
Alle Geschichten dienen der Dokumentation, als Belegsammlung. Sie sind damit Anfang und Teil eines öffentlich zugänglichen digitalen Dokumentationszentrums. Darüber hinaus können Einzelne, die sehr viele Materialien haben, ihre Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild versehen, zusammen mit der Redaktion als Beitrag erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einstellen. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel
Diejenigen, die uns kontaktieren und Teil unseres Selbsthilfe-Netzwerks werden wollen: Wir organisieren uns in HEIMORTGRUPPEN zum Erinnerungsaustausch, und sind dann den Bundesländern zugeordnet. Gern könnt ihr mit anderne Heimortgruppen aufmachen oder in eine schon bstehende eintreten. Wir schaffen nicht mehr, auf jeden von euch proaktiv selbst zuzugehen, deshalb hier die folgenden Möglichkeiten:
- Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei vorstandsmitglied-fuer-vernetzung@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selbst Ansprechpartner eures eigenen Heimes, so findet ihr am schnellsten andere aus eurem Heim.
- Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
- Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen
Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!
Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.
Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.
Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der „Initiative Verschickungskinder“ (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und Genehmigung der Initiative Verschickungskinder e.V. oder des AEKV e.V. zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen
Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.: IBAN: DE704306 09671042049800 Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de
Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen
Ich bin Silke, eine von vielen Millionen ehemaligen Verschickungskindern und erzähle meine
Geschichte:
Damals war ich 2 Jahre alt und ein völlig
unbeschwertes kleines Mädchen. Wenn da
nicht die Neurodermitis gewesen wäre. Meine
Eltern sind mit mir von Arzt zu Arzt gefahren
und leider hatten diese als letzte Lösung immer
nur Cortison im Angebot. Manche Eltern haben
in den Wartezimmern ihre Kinder von mir
weggerissen, weil sie Angst vor Ansteckung
hatten. Damals war Neurodermitis noch nicht
so bekannt wie heute.
Der Kinderarzt meinte dann, ich müsse mal zur
Kur nach Norderney und meine Eltern haben
aus lauter Verzweiflung zugestimmt. Auch den
strengen Richtlinien im Haus, dass man keinen
Kontakt aufnehmen oder mich besuchen darf,
stimmten sie zu.
Sie bestellten Namensschilder aus Stoff für jede
Socke und für jedes Kleidungsstück, was ich
mitnehmen sollte. Meine Oma und Mama
haben die halbe Nacht diese Schildchen
eingenäht, denn die „Einberufung“ für den
Kindertransport war da.
Eines Tages ging es zum Bahnhof nach
Münster, wo ich (noch) glücklich auf dem Arm
meiner Mutter war und lachte (es gibt einen
Super-8-Film meines Vaters). Plötzlich kam
eine Schwester mit Haube und fragte meine
Eltern nach meinem Namen und als sie ihn
bestätigten, rissen sie mich vom Arm meiner
Mutter und stiegen in den Zug. Ich heulte
lauthals, weil ich nicht wusste, was da mit mir
geschieht und diese „Tante“, wie wir sagen
durften zu allen Schwestern, weder je gesehen
hatte noch kannte.
Meine Eltern blieben zurück am Bahnhof, in der Hoffnung, dass sie nach 6 Wochen ein gesundes Kind
in ihre Arme schließen dürfen…
Aus diesen 6 Wochen wurden dann jedoch 17
Wochen, ich blieb über Weihnachten ohne
Kontakt zu meinen Eltern und meinen beiden
Schwestern. Als Mutter von zwei Kindern weiß ich,
wie schlimm es wohl auch für meine Eltern
gewesen sein muss. Diese Ungewissheit, wie es
mir geht und nur ab und zu einen getippten Brief
zu bekommen. Das Ende der Kur wurde immer
wieder durch Telegramme verschoben, weil ich
angeblich krank war. Nach diesen 17 Wochen, von
denen ich nichts mehr bewusst weiß, bin ich sehr
artig zurückgekommen und habe zu meiner
Mutter gesagt: „Tante auch mit in Tadt (Stadt)?“
Das hat ihr das Herz gebrochen; ich hatte sie in den
„Tanten-Modus“ degradiert und sie war nicht
mehr meine Mama für mich. Auch heute mit 82
Jahren erinnert sie sich schmerzhaft an diese Zeit.
Leider war meine Hautkrankheit nicht verschwunden und so durfte ich mit 4 Jahren noch einmal ins
Seehospiz, dieses Mal für 12 Wochen. Auch davon weiß ich bewusst nichts mehr.
Zu guter Letzt ging es dann mit 6 Jahren noch einmal für 12 Wochen nach Norderney. Von dieser Kur
habe ich noch einige Erinnerungen, die jedoch teilweise so schlimm sind, dass ich hier nicht alles
aufschreiben kann.
Durch meine Neurodermitis wurde ich täglich mit Bandagen verwickelt, gebadet und ich weiß noch,
wie ich gebettelt habe, dass sie Tante doch bitte den Daumen nicht mit einwickeln soll, damit ich besser
kratzen konnte. Leider ohne Erfolg, im Gegenteil, ich wurde sogar ans Bett gefesselt, damit ich mich
nicht wund kratze in der Nacht. Natürlich alles zu meinem Besten.
Wir mussten immer alle gleichzeitig auf die Toilette gehen, und nur dann, wenn die „Tanten“ es gesagt
haben. Auch nachts gingen die Neonröhren im Schlafsaal an und wir mussten sofort zur Toilette, ob
wir wollten oder nicht. Ansonsten wurde gewaltsam nachgeholfen.
Der Ton der Schwestern war militärisch und eiskalt! Kein Mitleid, wenn man Heimweh hatte und
weinte: „Hör auf zu heulen!“, höre ich noch die Schwester, als ich wieder einmal auf der Isolierstation
lag, alleine im Zimmer, ohne Kontakt zu den anderen Kindern. Man wurde versorgt mit Essen und
Trinken, aber ohne jegliche Wärme. Ich wusste nicht, ob meine Eltern mich jemals wieder nach Hause
holen, oder ob sie mich schon vergessen hatten.
Manchmal kamen allerdings Briefe von zu
Hause, die mir dann vorgelesen wurden oder zu
Weihnachten auch ein Päckchen. Auch ich
durfte Briefe nach Hause schreiben, bzw. die
„Tanten“ haben sie für mich verfasst: „Hier ist
es jetzt sehr schön, die Sonne scheint schon
richtig warm und wir gehen jetzt länger
spazieren als sonst.“
An Spaziergänge an die Nordsee kann ich mich
auch erinnern. Schön warm weiß ich allerdings
nicht...
Manchmal wurde gebastelt. Ich habe einen
Kalender mit nach Hause gebracht mit 12
gestalteten Seiten. Jede Woche eine Seite…
Das war mein ganzer Stolz.
Ich habe oft gefroren, vor allem, wenn wir in Unterwäsche und barfuß im Flur in einer langen Schlange
vor dem Arztzimmer stehen und warten mussten, bis wir zu ihm zur Behandlung durften. Es gab
regelmäßig Spritzen, ich weiß nicht, wofür oder wogegen sie waren. Danach mussten wir alle auf einer
Turnbank stehen, bekamen eine Schutzbrille aufgesetzt und wurden mit „Höhensonne“ von vorne und
von hinten bestrahlt. Vielleicht so ähnlich wie heutzutage die Balneo-Phototherapie, wo man erst in
die Badewanne mit Salzwasser oder Ölbädern steigt und danach mit UVA-Strahlung bestrahlt wird.
Auf dem Gelände gab es eine Wäscherei, wo die Wäsche gewaschen wurde. Dort rauchte oft der
Schornstein. Wir dachten jedoch immer, nun wird wieder ein unartiges Kind verbrannt. Wie bei Hänsel
und Gretel. Also bloß nicht auffallen, immer artig sein und möglichst wenig auffallen war die Devise.
Weil, wer möchte schon in den Ofen gesteckt werden? Da ich es auch in den Zeitzeugen-Berichten
anderer gelesen habe, gehe ich davon aus, dass die Schwestern uns diese Strafe angedroht haben.
Viele berichten ja von Horrorgeschichten beim Essen. Dass sie immer aufessen mussten und auch ihr
Erbrochenes essen mussten. Das Essen habe ich zum Glück nicht in so schlechter Erinnerung. Ich bin
und war aber schon immer ein unkomplizierter Esser und habe wahrscheinlich immer brav alles
aufgegessen.
Das Heimweh, die Kälte der Schwestern und die nächtlichen „Attacken“ sind mir bis heute in
schlimmster Erinnerung…
Wenn ich heute Abschiedsszenen im Fernsehen sehe oder unsere 4.-Klässler, die ihren letzten Tag in
der Grundschule feiern und Abschiedslieder singen, laufen mir die Tränen über die Wangen und ich
kann nicht sagen, warum mich das so mitnimmt, obwohl nicht einmal meine eigenen Kinder dabei
sind. Ist eben auch ein Abschied…
Als Erwachsene musste ich mein Referendariat
als Grundschullehrerin abbrechen,
weil ich jeden Sonntag bei Aufbruch von zu Hause
dachte, ich komme nie wieder nach Hause
zurück. Ich war eine gute Lehrerin, jedoch konnte
ich vor lauter Heimweh keinen klaren Gedanken
fassen. Meine Ausbildung habe ich später noch
beendet.
Ich bin ein Mensch, der es immer allen recht
machen möchte, harmoniebedürftig ist und
leider das Wort „Nein“ nicht im Vokabular hat.
Ich kümmere mich gerne um andere Menschen
und vergesse mich selbst meistens dabei.
Das Arztzimmer im Erker, der rote Backstein,
diese Ortgänge von Gebäude zu Gebäude, der
Spruch im Innenhof: „Und vergiss nie, was er dir
Gutes getan hat!“
Nein, vergesse ich bestimmt nicht…insgesamt
41 Wochen isoliert als kleines Kind mit
bösartigen Schwestern. Wie könnte ich das
vergessen?
Ich bin schon öfter nach Norderney mit einer
Freundin gefahren und jedes Mal zieht es mich
zum Seehospiz, bzw. zur Seeklinik, die von
außen noch genauso aussieht wie damals.
Heute ist es eine Mutter/Vater-Kind-
Einrichtung und man hört fröhliches
Kinderlachen, wenn man am Gartenzaun steht.
Ich stehe davor und mir laufen
die Tränen herunter, ich zittere und habe einen
Stein auf der Brust. Ich weiß nicht, warum ich
mir das antue. Vielleicht, weil ich endlich einen
Haken an dieses Trauma und die schrecklichen
Erinnerungen machen möchte!!!
Es ist mittlerweile 50 Jahre her und ich wünsche mir, dass wir ehemaligen Verschickungskinder erhört
werden, denn wir sind noch da und die dunklen Schatten der Vergangenheit haben unser Leben
geprägt bis heute. 12 Millionen Kinder! Und kaum jemand weiß etwas über diese Zeit…
Ich wünsche mir Aufarbeitung, eine Art Wiedergutmachung, eine Traumatherapie, und Träger, die sich nicht vor
ihrer Verantwortung drücken, sondern zu den Schandtaten der Vergangenheit stehen. Teilweise geschieht dies ja schon.
Danke für den tollen Einsatz der vielen Ehrenamtlichen des Vereins Verschickungskinder e.V.!
