Kinderheim Seeschloss, in St. Peter-Ording – Schleswig-Holstein

Kinderheim Seeschloss, 70er Jahre,(Postkarte, Cramers Kunstanstalt KG, Dortmund)

Jörg R. aus Kirn – Zeugnis zum Verschickungsheim “Kinderheim Seeschloss” in St. Peter-Ording

Kinderheim: Seeschloss (1975)
Anschrift: Dünenweg: 13, St. Peter Ording
(heute Apartment Vermietung)
Heimleiter 1975: Hugo Kraas †1980 (Inhaberin war offiziell seine Frau Sünne Kraas †1997)
Dauer meines Aufenthalts: 5 Wochen

Vorwort

Ich weiß, dass viele Verschickungskinder sich nur an Bruchstücke ihrer Unterbringung erinnern können, was wohl auf eine Schutzfunktion des kindlichen Gehirns zurückzuführen ist. Da ich selbst noch vieles weiß, war es mir wichtig, diese umfangreichen Ausführungen zu machen, um das als Zeugnis für immer aufzubewahren.


Jörg R
.

Gewalt, Missbrauch, Krankheit, Vernachlässigung, Heimweh

Die „Diagnose“

An meine Zeit der „Kinderkur in Sankt Peter-Ording erinnere ich mich überwiegend noch gut. Vor allem, weil es mich als Mensch und mein Leben nachhaltig sehr beeinflusst hat. Ich hatte bis zu diesem Ereignis eine behütete Kindheit (Einzelkind) und genoss die Nestwärme in vollen Zügen. Ich war sehr lebhaft und auf frühen Super8-Filmen sieht man mich als Kleinkind stets tanzen und lachen. Das alles endete 1975 mit gerade erst 5 Jahren.

Ich hatte kurz nach meinem 5. Geburtstag im März 1975 starken Husten entwickelt. Da Medikamente wenig Linderung brachten, empfahl der zuständige Kinderarzt eine Kinderkur an der Nordsee. Diese wurde von der damaligen Kasse meines Vaters (er war Bahnbeamter), dem damaligen „Bundesbahnsozialwerk“ auch direkt genehmigt und es sollte dann von April bis Mai 5 Wochen nach Sankt Peter-Ording gehen, in das romantisch klingende Heim „Seeschloss“.

1975 waren solche Kinderkuren sehr „beliebt“ und viele Eltern, auch aus unserem Umfeld, nutzten die Möglichkeit, dem Kind für ein paar Wochen einen kostenlosen Abenteuer-Erholungsurlaub zu gönnen. Wenn die anderen das so machen, dann muss es also gut sein. So dachte man und es schien ja eine gute Sache zu sein.


Foto privat


Richtung Norden unterwegs


Foto aus historischem Filmausschnitt, 50/60er Jahre

Los ging es im April 1975 ab dem Übergabe-Bahnhof Saarbrücken. Meine Eltern überließen mich (gem. Anordung der Einberufung) den „lieben, netten Tanten“ am Bahnhof, die mich in das Abteil zu den anderen Kindern brachten. Ich hatte große Angst und es war mit gerade 5 Jahren das erste Mal, dass ich irgendwohin ging, ohne meine Eltern. Als sich der Zug in Bewegung setzte und die Eltern zum Abschied winkten, da brach ein großes Geheul und Geschrei im Abteil aus. Das waren die Tanten aber scheinbar gewöhnt, denn Sie wurden auf einmal richtig streng. Statt beruhigender Worte gab es Kommando “Klappe halten”.

Wir fuhren unendlich lange mit dem Zug. Mit heutigen Zügen fährt man bereits 14,5 Stunden. Die Nacht im Abteil, mit all den schluchzenden Kindern und genervten Tanten war furchtbar. Ich wollte nur wieder nach Hause. Aber der Zug entfernte sich unerbittlich von meiner Heimat und rollte nach Norden. Ich klammerte mich an meine Brotdose, mein Getränkeflasche und mein Kuscheltier. Schlafen konnte ich nicht.

Am nächsten Morgen erreichten wir Sankt Peter-Ording. Wir wurden am Bahnhof neu sortiert, jede Gruppe für ein anderes Heim. Dann kam unser Fahrer und nahm uns mit. Wir mussten mit den Taschen in einen engen Kombi einsteigen, Marke weiß ich nicht mehr, ich weiß aber, dass ich mit Gepäck und Kindern in den Heckbereich rein gequetscht wurde und dann fiel die Klappe laut zu. Wir wurden dann zum Kinderheim Seeschloss gebracht, das sich ca. 2 km vom Bahnhof Sankt Peter-Süd im Dünenweg 13. Dort angekommen, wurden wir im Hof in einer Reihe aufgestellt, und zuerst einmal vom Heimleiter Hugo Kraas inspiziert, ähnlich, wie man eine Truppe im Kasernenhof antreten lässt. Eigentlich war Frau Sünne Kraas die offizielle Heimleitung, denn Hugo Kraas hat eine „nicht unproblematische Vergangenheit“. (Siehe: Hugo Kraas – Wikipedia, bekannt auch im niederländischen Such-Portal: TRACESofWAR)

Kraas war 1975 erst 59 Jahre alt. Sein faltiges Gesicht und die stechenden Augen waren mir unheimlich. Alle Kinder waren sofort leise und von seiner Art eingeschüchtert. Danach wurden wir unseren „Tanten übergeben und durften in die Zimmer.

Gefangen im „Kinderparadies“


(Archivbild von Postkarte: Seeschloss Sankt Peter-Ording, Cramers Kunstanstalt KG, Dortmund)

Auf den Zimmern waren immer 5 Jungen. Es gab Kinder im Alter ab 5 Jahren. Die Jugendlichen waren in einem eigenen Gebäudeteil untergebracht. Schon am ersten Abend bekamen wir klare Kommandos von Herrn Kraas. Seine Frau spielte uns auf einer Heimorgel vor, was allerdings nicht sehr glücklich klang. Einige mussten daraufhin grinsen und prusteten lachend, bekamen aber dann  Ärger mit dem Heimleiter. Ich kann mich erinnern, dass Herr Kraas mit seinem militärischen Schritt an uns vorbei lief mit einem Stock in der Hand und die Kandidaten maßregelte. Er war immer korrekt gekleidet, äußerlich eine gepflegte Erscheinung, aber er besaß ein eiskaltes, unheimliches Charisma.

Was genau wir dort zu Essen bekamen, an das kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß aber, dass es stank. Manchmal war es übelriechendes warmes Gemüse, mitunter war da ein seltsamer chemischer Geruch, den ich bis heute nicht mehr gerochen habe, an den ich mich aber durchaus erinnern kann. Dazu warmer Kakao oder Milch.

Ich habe mich jede Nacht übergeben und lag morgens in einer sauren Masse getrockneten Mageninhaltes. Immerhin wurde meine Bettwäsche danach gewechselt, was ich heute im Nachhinein als ungewöhnlich nett empfand, nachdem ich gelesen habe, was anderen passiert ist.  

Ich hatte grausames Heimweh, aber uns wurde untersagt anzurufen und auch die Eltern hatten diese Anweisung erhalten. Kein Kontakt erlaubt „sonst kriegen die Kinder Heimweh und wir haben den Ärger“. Schlimmes Heimweh hatte ich doch schon! Aber jeder Tag bedeutete ja gutes Geld für die Heimkasse. Es gab also keine Möglichkeit meine Eltern zu informieren, dass ich abgeholt werden solle.

Selbst als ich hohes Fieber bekam, wurde ich lediglich „isoliert“ in einem eigenen Zimmer, das abgeschlossen wurde. Einzelhaft, sozusagen. Informieren konnte ich niemand. Schreiben konnte ich auch noch nicht, und die Tanten schrieben für uns alle Briefe an die Eltern.

Ich war also 5 Wochen AUSGELIEFERT! Ich versuchte daher mit selbst gemalten Bildern, die immer mit geschickt wurden um den „fröhlichen Jungen“ zu dokumentieren, den Eltern eine Botschaft zu vermitteln. Die verstanden diese jedoch nicht. Ein geschulter Psychiater hätte hier Alarm geschlagen.


Foto privat

Da sich die Tanten nur zeitweise um uns „Kleineren“ kümmerten, ergriffen im Laufe der Zeit die etwas älteren Kinder (7-10) unserer Gruppe die Initiative. Eines der Kinder in meinem Zimmer war besonders schlimm, er hatte, vielleicht auch durch den unerträglichen Druck dort, Neigungen zu Sadismus und Gewalt in sich oder dort entwickelt. Diese ließ der erst 8 Jahre alte Junge regelmäßig an mir aus. Ich wurde von ihm jeden Tag verprügelt, gequält, psychisch fertig gemacht – etwas, was ich ja bis dato nicht kannte. Die Tanten interessierten sich wenig dafür. Ihr Job war es lediglich anwesend zu sein, und gut wars.

Mein Kuscheltier war das Einzige, was mich dort begleitete. Ich hatte innerlich damit abgeschlossen, jemals meine Eltern wieder zu sehen. An meinen Hasen klammerte ich mich also sehr. Wenn ich aber nicht gehorchte, bekam mein Hase die Folgen zu spüren, da man mich somit am besten treffen konnte. Es war auch das bösartige Kind meiner Stube, was sich da beteiligte. Am Ende riss man ihm den Mund heraus, die Nase, zerschnitt den Kopf, riss die Ohren ab. Dieses Plüschtier, was ich heute noch habe, hat vieles stellvertretend für mich erleiden müssen. Doch trotzdem hat man mich einmal nackt an einen Baum gefesselt und zurückgelassen. Auch solche Dinge sind da passiert.



Einer, der überlebte, aber sichtlich gezeichnet blieb, wie ich seelisch….(Foto privat)


Hin und wieder kam der „Doktor“. Ich kann mich daran erinnern, dass wir Jungen nackt in einen Flur gestellt wurden. Dann rief man einen nach dem anderen hinein. Ich weiß ab dem Moment nichts mehr, ich erinnere mich nur noch an den weißen Kittel und das Stetoskop.

Ich möchte dieses Kapitel „Doktoruntersuchung“ aufgrund von nicht verifizierbaren Indizien, die für einen Gewaltausbruch oder Missbrauch sprechen, an dieser Stelle beenden. Damit befasst sich meine Psychologin heute. Das ist das Dilemma nach so vielen Jahrzehnten irgendwelche Realitäten wieder zusammen zu setzen und zu belegen – Fast aussichtslos! Ein Schicksal, dass viele Verschickungskinder teilen müssen.

Nichts ist eindeutig beweisbar, Belege oder Aufzeichnungen sind rar.

Heimkehr

Fünf Wochen. Eine Zeit, die Kinder mit ihrem geringen Zeitgefühl als Ewigkeit erleben müssen. Fünf Wochen am Ende der Welt, wo das Land aufhört und das Meer beginnt. Weg von zu Hause, von den Eltern, vom Beschütztsein, von der Normalität. 5 Wochen Zeit für grausame Menschen, eine Kinderseele für immer zu zerstören, ja zu zerfetzen.

Meine Mutter rief schon vor dem offiziellen Abholtermin im Heim an und wollte mich direkt dort mit meinem Vater abholen. Es wurde ihr sofort untersagt „aus versicherungstechnischen Gründen muss das Kind wieder mit dem Zug zurück“ (O-Ton Heimleitung). Natürlich völliger Blödsinn, aber die „Obrigkeitshörigkeit“ verhinderte wohl weiteres Nachfassen.

An die letzten 2-3 Wochen meiner Kur kann ich mich nicht mehr erinnern, auch nicht an die Rückkehr. Was ich also hier berichte sind jetzt Aussagen meiner Eltern.

Als ich nach 5 Wochen endlich am Bahnhof Saarbrücken eintraf und aus dem Zug ausstieg, waren meine Eltern geschockt, welches Kind da zu ihnen zurück kam. Ich muss sehr verwahrlost ausgesehen haben, kränklich, dünn, blass und mit leeren Augen. Ich habe nicht mal gelacht, als meine Eltern mich in die Arme nahmen. Da war keine Emotion da, nur Leere!

Mein Vater sagte, dass er plötzlich kein fröhliches Kind mehr hatte. Ein gebrochenes, trauriges Kind war ich nach diesem Aufenthalt in SPO.

Als mein Vater im Heim anrief und nachfragte, was denn „da oben passiert sei“, da gab es nur die schnippische Antwort „Das Kind war halt krank, dafür können WIR doch nichts!“. Da es damals kein „Google“ gab oder irgendeine Kommunikationsvernetzung, war meinen Eltern nicht bewusst, dass ich kein Einzelfall war. Da hakte keiner weiter nach. Das war einfach schlecht gelaufen, so hieß es. 

Immerhin war der Husten weg, wobei ich nicht weiß, ob der nicht auch ohne dieses Martyrium sich gelegt hätte. Das wurde dann sozusagen als „Kurerfolg“ gefeiert.

Meine Kindheit war ab dem Zeitpunkt geprägt von großer Stille, Ängstlichkeit, vielen Alpträumen. Gleichzeitig war ich innerlich wie getrieben, konnte mich auch in der Schule nicht konzentrieren, „das Stillsitzen fällt ihm schwer“ stand oft im Verhaltenszeugnis.



Foto privat


Die langfristigen Auswirkungen

Ich konnte niemals richtig mit meinen Eltern über meine traumatischen Erinnerungen sprechen. Meine Eltern wussten wohl instinktiv, dass irgendwas Schlimmeres passiert war, aber ich glaube, man wollte das auch nicht weiter vertiefen. „Hinter sich lassen und abhaken“. Leider konnte ich das nicht. Viele Jahrzehnte bildeten sich gewisse Charakterzüge an mir heraus, die ich heute mit 53 Jahren auf dieses Kindheitserlebnis beziehe:

  • Große Angst allein zu sein (Panik)
  • Enorme Probleme mit dem Selbstvertrauen (Selbstachtung“)
  • Große Verlustangst
  • Klammern an „Bekanntes“, nichts verändern wollen
  • Angst irgendwo „fremd“ zu sein
  • Große Menschenansammlungen meiden, Angst vor „Enge“
  • Albträume, bis hin zu Todesangst in der Nacht
  • Körperliche Nähe zulassen
  • Ständige innerliche Anspannung und Unruhe
  • Probleme in der Partnerschaft
  • Gefühlt ungeliebt und wertlos zu sein

Die „Therapie“

Als 2019 ein TV Beitrag lief über das Leid der Verschickungskinder, wurde ich enorm getriggert. Ich war erschrocken, dass ICH nicht einfach nur „Pech hatte“, sondern dass es Millionen von damaligen Kindern betraf! Und die seelischen Auswirkungen ähnelten genau meinen. Das war also der Schlüssel. Ich beschloss daher mir professionelle Hilfe zu holen, um endlich mein Leben zurückzugewinnen, dass ich mit 5 Jahren in Sankt Peter-Ording zurückgelassen habe.

Neben einer psychologischen Therapie, wurde ich auch 2020 aktives Mitglied der Verschickungskinder Sankt Peter-Ording (unter der „Initiative Verschickungskinder“). Wir waren zusammen im Juni 2021 vor Ort und besuchten die ehemaligen Stätte der Heime. Auch gab ich dort dem Schleswig Holstein Magazin ein Interview zusammen mit einem Mitbetroffenen und wirkte in der Doku von Thilo Eckoldt „Was ist damals geschehen“ mit, die im Oktober 2021 im NDR lief.

Die ständige Konfrontation mit dem Geschehenen, das offene Reden, das „Outen“, all das hilft mir sehr und ich kann immer mehr das Geschehene einordnen und abarbeiten. Heute… Nach 48 Jahren!

LEBE MIT DEM DRACHEN UND VERMEIDE IHN NICHT ZU WECKEN,
ODER ABER BESIEGE DEN DRACHEN FÜR IMMER UND SEI ENDLICH FREI!

Jörg
Stand: 31.07.2023


Vita zu Jörg:

Jörg hat Fachabitur für Wirtschaft, arbeitete 30 Jahre als Marketing Fachkraft in der chem. Industrie, seit 2021 als Business Development Manager in der Elektroindustrie. Nebenberuflich ist er Geschäftsführer einer eigenen Medienagentur seit über 23 Jahren und führt einen Ringerverein, wo er einst als Sportler aktiv. Jörg engagiert sich weiter ehrenamtlich für „Förderverein Lützelsoon Hilfe für Kinder in Not e.V. & Soonwaldstiftung“. Von 2011-2020 wurden ihm aufgrund eines schweren Burnouts und einer einhergehenden depressiven Erkrankung Psychopharmaka verschrieben, bis auf psychotherapeutischem Weg endlich die unmittelbare Verbindung zu den traumatischen Kindheitserlebnissen diagnostiziert werden konnte. Seit Abschluss seiner psychologischen Hilfe in 2020 benötigt er keine Medikamente mehr und ist nun seit 2021 in der Initiative Verschickungskinder als Ansprechpartner für das Heim Seeschloss (SPO) sehr aktiv. Jörg liebt die See und auch den wunderschönen Ort „Sankt Peter Ording“, auch wenn ihm dort viel schlimmes angetan wurde.

INFO: Hier noch weitere Infos: Ein von der Redaktion eingefügter Artikel und noch einer

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