Gestohlene Generationen

Bei den folgenden drei Themenbereichen über institutionelle Gewalt gegen Kinder, zeigt das Grauen beeindruckende Kontinuitäten zum Schicksal der Verschickungskinder: Schläge, immer wieder Schläge, (sexueller) Mißbrauch, Erbrochenes aufessen müssen, sadistische Brutalität, gepaart mit Zynismus für das andere Leben, das Kleinere, das Schwächere.

In dem australischen Spielfilm Long Walk Home (Originaltitel: Rabbit Fence Proof) der auf den Erinnerungen von Molly Craig, der Mutter von Doris Pilkington Garimara basiert, einer australischen Ureinwohnerin, die, wie bereits ihre Mutter, im Alter von vier Jahren in ein Erziehungsheim gebracht wurde. Diese Vorgehensweise war unter dem sogenannten General Child Welfare Law (engl. für „Allgemeines Kinderfürsorgegesetz“) von 1910 bis 1976 in Australien gang und gäbe und wurde unter dem Begriff Gestohlene Generationen zu einem Inbegriff für den Rassismus gegen Australiens Ureinwohner. Schätzungen der Kommission für Menschenrechte und Gleichberechtigung (HREOC) aus dem Jahr 1997 zufolge sollen davon insgesamt rund 100.000 Aborigine-Kinder und Mischlinge betroffen gewesen sein. Diese Kommission geht sogar davon aus, dass der heutige traurige Zustand des gesamten Aborigine-Volkes (Entwurzelung, Alkoholismus, Selbstzerstörung usw.) auf diese Gewaltaktionen der europäischen Einwanderer zurückzuführen ist und unterstellt damit den „weißen Herrschern Australiens“ letztlich einen Völkermord an den Ureinwohnern. Einer Empfehlung der HREOC, sich offiziell bei den Opfern und ihren Familien zu entschuldigen, kam die australische Regierung erst im Februar 2008 nach.

Auch im Buch Steinzeit der Schweizer Autorin Mariella Mehr schildert autobiographisch den Leidensweg eines Mädchens, dessen Mutter eine Jenische war, also zum Fahrenden Volk der Schweiz gehörte. Auch sie wurde, wie Molly Craig, ihrer Mutter entrissen, um zu einem anständigen Menschen gemacht zu werden. Die Torturen, die Mariella Mehr authentisch schildert, zu dem, was man ihr in Psychiatrien angetan hat, sind beim Lesen des Buches nur schwer auszuhalten. 

Und in der aktuellen arte-Dokumentation Misshandelt und umerzogen. Kanadas First Nations beschreibt, wie die indigene Bevölkerung Kanadas, die Native People, zum Opfer eines kulturellen Genozids wurden. Die Umerziehung war bis 1996 grausam: Kinder wurden ihren Eltern entrissen und in Internate gebracht. Viele starben dort an Krankheiten, litten unter Misshandlungen oder wurden sexuell missbraucht. Jetzt fordert eine Gruppe von Überlebenden aus Ontario eine Entschädigung für das angetane Unrecht. Auch die indigene Bevölkerung Kanadas wurde Opfer eines kulturellen Genozids. Zwischen 1980 und 2012 wurden in Kanada 1.181 indigene Frauen ermordet oder als vermisst gemeldet. Dass 24 Prozent aller Femizide in Kanada an indigenen Frauen verübt werden, ist eine Auswirkung der systematischen Diskriminierung der First Nations. Denn die indigene Bevölkerung wird auch 150 Jahre nach der kanadischen Unabhängigkeit von Großbritannien systematisch in Reservaten von der restlichen Bevölkerung abgeschottet. Der Indian Act, die sogenannte Indianergesetzgebung, durch die die Briten die indigene Bevölkerung unter Vormundschaft stellten, hat sogar weiterhin Bestand. Es beinhaltet auch das Ziel der „Zivilisierung“. In diesem Rahmen entstanden spezielle Internate, sogenannte Residential Schools, in denen indigene Kinder zu Christen umerzogen werden sollten. Bis 1996 waren diese Internate Schauplätze von Misshandlung und Missbrauch. Es starben dort rund 4.000 Kinder.

Alle drei Fälle spiegeln ein vorsätzlich durchgezogenes Programm abgrundtiefer Menschenverachtung. In Kanada lief das offizielle Programm bis 1996 und die Täter waren auch dort diesselben wie überall: Priester und Nonnen, ‘Missionare’ genannt, Ärzte, Psychiater und über all dem eine rassistische Staatsdoktrin gepaart mit einem Horrorkatalog aus Schwarzer Pädagogik.

Die offizielle Verlautbarung und damit Legitimation war stets dasWohl des Kindes; und hinter der Verlautbarung tat sich der Abgrund auf, da lag die Hölle offen, die verbrannte Erde, die verstümmelten Seelen, das zertretene Leben.

Alice Miller hat in ihren Büchern sauber und analytisch herausgearbeitet, daß Erwachsene, die Kindern, sprich Schwächeren, Grausamkeiten antun, nicht als Monster auf die Welt kommen. Monster werden gemacht. In den Entbindungsstationen der westlichen Welt, in denen kaum Aussicht besteht, von Wölfinnen getröstet zu werden (Jean Liefloff) nimmt die Katastrophe der Lieblosigkeit ihren Lauf. Die Verdrängung der erlebten Traumata tut ihr Übriges, um aus einst unschuldigen Kindern Monster zu machen. Das Befolgung des 11. Gebots ‘Du sollst nicht merken’ bezahlen die, die im späteren Leben den einst unschuldigen Kindern ausgeliefert sind. Denn endlich hat sich jemand gefunden, an dem man (unbewusst) all das auslassen kann, was man selbst erleben musste. Die Spirale der Gewalt setzt sich ungehemmt von Generation zu Generation fort.

Der einzige Ausweg für das einstige Opfer, das nicht zum Täter werden will, führt über den steinigen Weg der Aufarbeitung des Erlebten.

Seit Alice Miller 1979 ihr erstes Buch Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst schrieb, hat sich viel getan. Ihr Verdienst ist es, daß sie den Stein angestoßen hat, den Stein, der das Schweigen aufbrechen sollte. Die Traumatherapie befindet sich heute in einem deutlich fortgeschritteneren Stadium, es gibt einige neue Methoden und eine Reihe (hier ein Beispiel) empathischer Therapeuten.

Letztendlich basiert wohl ein Großteil des Leids der Welt auf den vielen unaufgearbeiteten Traumata, die fortlaufend einstige Opfer zu Tätern werden lassen. Wollen wir den Kreislauf durchbrechen, sind wir gut beraten, bei uns selbst anzufangen und genau hinzusehen. Hinzusehen und hinzuspüren, was wir erlebt haben und wie wir das so erinnern, dass wir Mitleid mit uns, als einstigem Opfer haben, und nicht in die Falle der Identifikation mit dem Aggressor tappen, die für das hilflose Kind nicht selten eine unbewusste und frühe Angstbewältigung darstellt.

Wir sind es der Welt und vor allem unseren Kindern schuldig, denn Geschehnisse, wie sie die genannten drei Beispiele zeigen, dürfen und sollen nie wieder vorkommen.

Thomas Bürklin 12.04.21

( mit kleinen Änderungen der Redaktion)

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