Verschickungskinder – Einführung ins Problemfeld

Verschickungskinder sind Kinder, die in ihrer Kindheit allein in weit entfernte Kindererholungsheime oder Kinderheilstätten auf Empfehlung eines Arztes zur gesundheitlichen Erholung „verschickt“ wurden. Das bedeutet, dass die Eltern diese Kinder an einem Bahnhof abliefern mussten, wo sie von fremden „Tanten“ begleitet, in Sonderzügen in entfernte Kurorte verbracht wurden. Die Reisen fanden einzeln, nie in vertrauten Gruppen statt, die Betreuerinnen, waren ungelernte Schwestern, Nonnen, Kinderpflegerinnen, selten Kindergärtnerinnen, die oft sehr große Kindergruppen, ohne jede Spiel- und Betätigungsmaterialien, in großen Betten- und Ess-Sälen betreuen mussten. Da sie das oft überforderte, und die Arbeit unter noch vielen anderen schlechten Bedingungen stattfand, war die Behandlung der Kinder oft von reiner Zweckbestimmung, von lauten, knappen Anweisungen, von Kälte und Härte geprägt und ging mit einer Reihe von weiteren, Gewalt erzeugenden Bedingungen einher.

Das „Elend der Verschickungskinder“ war seit 50 Jahren kein Thema für Psychologie, Soziologie, Medizin oder Sozialwissenschaften, es war schlicht nicht bekannt. Seit sich aber 2019 die ersten 85 Verschickungskinder mit ihren schmerzvollen Geschichten an die Öffentlichkeit gewandt haben, ist ein Dammbruch erfolgt, weit über 15.000 Menschen, die als Verschickungskinder im Vorschulalter, Kleinkindalter und Schulalter Kälte, Demütigungen und rigide Strafen in weit von den Wohnorten entfernten Kinderkureinrichtungen erlitten haben, haben das ihnen auferlegte Schweigen aus ihrer Kindheit gebrochen, haben an einer Fragebogenaktion teilgenommen, konnten ihre Erinnerungen verifizieren und haben erstmalig erlebt, dass sie nicht allein mit diesen Erlebnissen waren.

Wissenschaftler, die im Auftrag ehemaliger Träger Prüfungen unternehmen sollten und vielleicht gern in Akten nachweisen wollten, das den Träger nur wenig Schuld trifft, kamen zu Ergebnissen, die sie selbst erschreckten, die Aussagen der Verschickungskinder mussten bestätigt werden, in historischen Büchern empfahlen damalige Protagonisten, hochgeachtete Klinikleiter und wissenschaftliche Balneologen all das, was die Verschickungskinder gequält hat: Briefzensur, Elternbesuchsverbot, Verlängerungen besonders bei kleinen Kindern, monatelange Trennung von den Eltern bei Kindern unter 2 Jahren. Sie empfahlen Tabletten gegen das Bettnässen, was sie selbst hervorriefen, denn es gab strikte Toilettengehverbote, sie forderten das „Auffüttern“ der Kinder, da das das Kurerfolgskriterium war, was zum schmerzhaften Zwangseinfüttern von Nahrung führte, sie rieten zu zuchthausähnlichen Strafen und machten Dosierungsversuche mit Medikamenten wie Husten- und Brechmitteln, die die Pharmakonzerne großzügig vergüteten.

Nachweislich wurde an Verschickungskindern sogar Contagan getestet, bevor es auf den Markt kam, wie die Pharmazeutin Dr. Sylvia Wagner jüngst herausfand. Es gab innerhalb von 30 Jahren ca. 12 Millionen Verschickungen. Bäderärzte „untersuchten“ 200 Verschickungskinder an einem halben Nachmittag und verdienten so jährlich nebenbei bis zu 250.000 DM, und die Kinderkurorte füllten sich die Kassen mit der Kurtaxe von bis zu 400.000 Verschickungskindern pro Ort. Das erklärte Ziel der Heimbetreiber und ärztlichen Protagonisten war es 1964, jedes Jahr jedem Kind in Deutschland einen Verschickungsaufenthalt zu „ermöglichen“.

Die Verschickungskinder wurden durch die Gesundheitsämter in den Schuleingangsuntersuchungen „rekrutiert“, durch Verträge mit den Heimen waren die „Entsendestellen“ in den Wohnorten der Kinder an die Kinderkurheime gebunden und mussten diese wie Ware „liefern“, auch wenn, wie in einem Falle auf Borkum, die Nordsee bei 20 Grad minus zugefroren war. Und bisher 20 Kinder starben durch „Unfälle“ wie es in den Akten heißt. Verschickungskinder stürzten aus vollgestopften Zügen, sie ertranken, weil eine Aufsicht mit 43 Kindern baden ging, Kleinere starben an Auszehrung, weil sie aus Kummer essen und trinken verweigerten, oder an Nebenwirkungen von Medikamentenversuchen. Ein Kind wurde zu Tode geprügelt, ein Kind wurde mit der Drohung, es im Ofen zu verbrennen vor einen Koksofen geschleift, es gab Stehstrafen in kalten Fluren, Trinkentzug, Prügel, Strafspritzen, das alles ist auf unserem Zeitzeugenportal: Verschickungskinder erinnern sich öffentlich.

Die Forschung ist noch in den ersten drei Millimetern des Problemfeldes: Hunderte von erschütternden öffentlichen Berichten von Zeitzeugen finden sich auf: www.verschickungsheime.de und www.anjaroehl.de, lesen Sie, bilden Sie sich ein eigenes Urteil über das Problemfeld der Verschickungen und das „Elend der Verschickungskinder“, helfen Sie uns, das Thema weiterhin in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Denn noch lange sind nicht alle Verschickungskinder, denen Leid angetan wurde, erreicht und haben verstanden, dass sie nicht schuld und nicht allein damit waren! Besuchen Sie unseren jährlichen Fachkongress, wo umfassend und aktuell zu diesem Thema berichtet wird, machen sie dieses Thema überall bekannt! Danke!

Ähnliche Beiträge