Pressemitteilung Diakonie
PK Bad Salzdetfurth
Vielen Dank, dass Sie alle zu unserer PK gekommen sind. Dieses Mal corona-bedingt digital, aber uns war es wichtig, dass wir die ersten Ergebnisse zu den Geschehnissen rund um das Kinderkurenheim Bad Salzdetfurth noch in diesem Jahr vorstellen. Das sind wir den Betroffenen und Angehörigen auch schuldig.
Das Thema begleitet uns nun schon seit fast genau einem Jahr. Wir sind immer noch entsetzt über die Vorkommnisse in den Kinderkurheimen. Als erster Verband in Deutschland haben wir eine exemplarische strukturierte Aufarbeitung veranlasst. Das hatten wir den Betroffenen, mit denen wir während des Jahres über auch immer wieder in Kontakt standen, versprochen. Dieses Versprechen haben wir gehalten.
Da die „Verschickungskinder“, wie sich die Betroffenen nennen, kein „Niedersachsen-Phänomen“ sind, war es uns wichtig, dass das Thema bundesweit auf die Agenda gesetzt wird. Träger war auch nicht nur die Diakonie. Häuser waren in privater und freigemeinnütziger Trägerschaft. Das haben ja auch Recherchen vieler Ihrer Kolleg*innen und des Vereins der Betroffenen gezeigt. Wir haben deshalb in den Gesprächen mit dem Sozialministerium und der Diakonie Deutschland darauf hingewiesen, dass es einer bundesweiten und trägerübergreifenden Aufarbeitung bedarf. Wir sind Frau Ministerin Dr. Reimann dankbar, dass sie sich des Themas angenommen und sich für eine gemeinsame Aufarbeitung bei den Vertretern der Sozialministerien der anderen Bundesländer eingesetzt hat.
Wir haben uns als Diakonie in Niedersachsen in den letzten Monaten intensiv mit dem Thema beschäftigt. Das war nicht einfach, denn Corona hat hier auch vieles erschwert, da z.B. Archive geschlossen waren.
Aber nun können wir erste Ergebnisse aus der Untersuchung über die Vorkommnisse in Bad Salzdetfurth vorstellen.
Wir gehen davon aus, dass Sie sich mit der Ihnen zugesandten Dokumentation vertraut machen konnten. Vermutlich ging es Ihnen wie uns: Den Bericht kann man nicht lesen, ohne emotional bewegt zu sein. Das betrifft insbesondere den schrecklichen Tod von Andre, aber auch das Sterben von Stefan und Kirsten und manch andere bedrückende Situation.
Schlussfolgerungen:• Offensichtlich sah man nach dem Ende des zweiten Weltkriegs bis Ende der 60er Jahre einen großen Bedarf, Kindern Erholung und eine gute (zumindest bessere als sonst) Ernährungslage in Gegenden mit förderndem Klima zu ermöglichen.• Der „Erfolg“ bemisst sich oftmals an der Gewichtszunahme. Das wird auch in der vorliegenden Dokumentation deutlich.• Die „Früchte der Wirtschaftswunderjahre“ ermöglichen Familien zunehmend, in Urlaub zu fahren. Die schulischen Anforderungen steigen und erschweren die Teilnahme an einer Kurmaßnahme außerhalb der Schulferien. In der Konsequenz nimmt die Nachfrage nach Kinderkuren dieses Formats ab.• Zumindest in der KHA gab es meist zu wenig qualifizierte und zudem häufig schlicht zu wenige Mitarbeitende. Diese wurden zudem schlechter bezahlt als in den Kindertagesstätten bei gleichzeitig schwierigeren Arbeitsbedingungen wie Wochenenddiensten etc. So gelang es nicht, eine angemessene Personalsituation zu etablieren. Darauf haben die aufsichtführenden Behörden immer wieder hingewiesen, sind aber nicht sanktionierend eingeschritten. Offensichtlich war man der Meinung, dass die Einrichtung nicht entbehrlich ist.• Die ersten beiden Todesfälle sind als Unglücksfälle einzuordnen. Die Staatsanwaltschaft stellt keine Fremdeinwirkung fest.• Pastor Hellinger als VV hat die beiden Todesfälle nicht unverzüglich gemeldet. Die Gründe für dieses Fehlverhalten kennen wir nicht. Die zwingend notwendige Anzeige erfolgt erst am 19.05 durch den neuen Geschäftsführer H. Bleck.• Auch wenn die Untersuchungen zum Totschlag des dreijährigen André ergeben, dass eine Aufsichtspflichtverletzung nicht nachgewiesen werden könne, bleibt ein Erschrecken. Nachtwachen waren damals offensichtlich nicht zwingend vorgeschrieben und die Kinder waren zwischen 21.15 h und 5.30 h nicht nur ohne Aufsicht, sondern auch ohne eine erwachsene Person, die helfen und trösten oder eben auch schützend eingreifen konnte.• Wir sind beschämt, dass ein Kinderkurheim in diakonischer Trägerschaft jahrelang mit derart eklatanten Mängeln geführt worden ist.• Die drei Todesfälle sind die Folge und Zuspitzung einer unhaltbaren Situation. Beschwerden über die dortigen Zustände gab es schon vorher. Es bleibt zu vermuten, dass viele Kinder Kälte, Strafen undDrangsalierungen erleiden mussten.• Die pädagogische Praxis damaliger Zeit entspricht nicht unseren heutigen Ansichten. Aber auch aus damaliger Sicht lässt sich in keiner Weise rechtfertigen, wie im KHA mit den Kindern in einer Kinderkur umgegangen wurde, die der Gesundung dienen sollte.• Erst die Praktikantinnen brachten reformpädagogische Ansätze in die Kinderheime ein. Sie waren diejenigen, denen die herbe Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklich auffiel und zu einer Beschwerde trieb. Ihnen gebührt aus heutiger Sicht unser großer Respekt!• Gleichwohl verwundert, wie wenig Beschwerden es damals gab: von Entsendestellen, von Eltern, von Ärzten. So manches Kind wird die Erfahrung gemacht haben, dass den Erzählungen aus den Wochen der Kinderkur nicht geglaubt oder aber das Geschehen nicht ernst genommen wurde. • Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Kinderkuren steht noch aus. Diese muss nicht nur pädagogische Fragen klären, sondern auch dringend eine Antwort auf die Frage finden, ob bei den Kurmaßnahmen wirklich allein das Wohl der Kinder im Blick war. Daran habe ich heute erhebliche Zweifel. • Die Akte aus dem landeskirchlichen Archiv dokumentier im Wesentlichen wirtschaftliche Fragestellungen, nicht die fachliche Beratung. Es bleibt zu hoffen, dass es diese gegeben hat und dass in dieser auch nachdrücklich auf eine kindgerechte Begleitung gedrungen wurde. Gleichwohl verwundert, dass man sich mit großer Mühe der wirtschaftlichen Stabilisierung widmet, aber die Geschehnisse um Stephan, Kirsten und André nicht fragend machen, ob es denn gut wäre, wenn die AKH ihren Betrieb fortsetzen sollte. Und es ist auf Grund der Presseberichte davon auszugehen, dass diese auch hier bekannt waren, wenngleich die Dokumente dergleichen nicht offenbaren.• Unsere Vorgängerorganisation hat – wie wir heute – nicht die Handhabe, die Schließung einer Einrichtung anzuordnen; das ist manchmal beschwerlich, aber nur sehr selten in den Auswirkungen so tragisch.• Wir finden es aus heutiger Sicht zynisch, dass die Einrichtung letztlich nur auf Grund der wirtschaftlichen Situation von den Verantwortlichen des Vereins geschlossen wurde. Die Einsicht vor Ort in die organisationale Mitverantwortungungeachtet rechtlicher Vorgaben am Tod eines Kindes scheint nicht hinreichend vorhanden gewesen zu sein.• Wir müssen uns vor diesem bewegenden Hintergrund auch heute fragen, ob derartige Gewalt, Demütigung, Drangsalierung von Kindern untereinander oder von Erziehenden auch heute noch in Kinderheimen und Kindertageseinrichtungen vorkommen können. • Heute sind verschiedene Maßnahmenverpflichtend:1. Personalschlüssel sind heute verbindlich.2. Eine adäquate Ausbildung ist unerlässlich. 3. Präventionsprogramme sind installiert. • Die Intervention der aufsichtführenden Instanzen greift (hoffentlich definitiv) nachhaltiger. Gleichwohl: Die bange Frage bleibt und muss uns mahnen, sehr aufmerksam und sorgfältig zu sein.• Die beschämenden Erkenntnisse über die damalige Zeit sind uns ein Ansporn, derartige Zustände zu verhindern, in Kinderheimen, Kitas und Schulen. • Zugleich sehen wir immer wieder, dass asymmetrische Beziehungen Geschehnisse ermöglichen, die uns schockieren und beschämen. Hier helfen nur vielfältige Maßnahmen der Kontrolle und Prävention, notfalls unmittelbare und auch bei kleinsten Anzeichen konsequente Aufklärung und ebensolche Ahndung von Fehlverhalten.
Wir bedauern zutiefst, was diese Dokumentation offenbart hat. Wir bitten alle Betroffenen, die ein solches Leid erlitten haben und die damit solange alleine gelassen wurden, um Entschuldigung.