WITTLICH/EIFEL:

Einen sehr ausführlichen Artikel zum Einsatz sedierender Mittel und Arzneimittelprüfungen bei Verschickungskindern hat Sylvia Wagner mit Bernd Wiebel zusammen schon 2020 bei Sozialgeschichte online veröffentlicht, hier ein Ausschnitt, der sich auf das bekannte Medikament Contergan bezieht:

In einer Publikation aus dem Jahr 1960 über „klinische Erfahrungen mit Contergan bei tuberkulosekranken Kindern“ in der Heilstätte für Kinder und Jugendliche Maria-Grünewald in Wittlich/Eifel wird zunächst anschaulich der „Sinn“ der medikamentösen Sedierung in der Einrichtung geschildert:
„Eines der vordringlichsten Probleme, das in der Lungenheilstätte an den Arzt herangetragen wird, ist die Ruhigstellung des Patienten. Hier reichen gute Worte und psychologische Kenntnisse nicht aus, man braucht meist auch ein Medikament, das beruhigt ohne zu lähmen, entspannt ohne zu enthemmen und den Schlaf ohne Nachwirkungen fördert. Ferner stellt man an solch ein Medikament auch die Forderung, dass es ohne Bedenken über Monate gegeben werden kann und dass keine Gewöhnung eintritt oder sogar Suchtgefahr besteht. Auch Kinderheilstätten verlangen nach solchen Medikamenten, da man nicht ständig an die Vernunft der Kleinen appellieren kann, obwohl sie – einführende Ansprache vorausgesetzt – erstaunlich einsichtig und folgsam sein können. Aber wenn ein Kind ausgeruht ist und keine Schmerzen hat, sich subjektiv ausgesprochen wohl fühlt und trotzdem seine Liegekuren streng einhalten muss, kann man die dämpfende Wirkung eines Sedativums nicht entbehren.“

Dann wurden VERSUCHE beschrieben:
Weiter im Artikel von Wiebel/Wagner (Auszug):

“Contergan® wurde an 302 Kindern im Alter von zwei bis 14 Jahren geprüft. Bei 136 dieser Kinder betrug die Dauer der Verabreichung ein bis drei Monate, was wahrscheinlich auch ihrer Aufenthaltsdauer in der Einrichtung entsprach. 21 Kinder erhielten das Präparat zehn bis zwölf Monate lang. Die Wirkung des Contergans® wurde verglichen mit einem Barbiturat, also einem star-
ken Schlaf- und Beruhigungsmittel. Für den Vergleich erhielten zehn Jungen im Alter von zwei bis vier Jahren drei mal eine Tablette des Barbiturats täglich. Zudem wurden unterschiedliche Darreichungsformen von Contergan® (Tabletten und Saft) verglichen.60
Dokumentiert sind in der Publikation auch Nebenwirkungen, die durch die Verabreichung von Contergan® auftraten. Zu nennen sind hier: Schwindelanfälle, starke motorische Unruhe und Gewichtszunahme, die durchaus gewünscht war. In der Zusammenfassung wird geschildert, dass „auch bei eindeutiger Überdosierung“61 keine außer
den bereits erwähnten Nebenwirkungen auftraten. Zwanzig Kinder im Alter von zwei bis vier Jahren erhielten abends bis zu 200 mg
Contergan®, andere drei Mal täglich 100 mg. Eine Tagesdosis (ohne Altersangabe) entsprach 100 mg.”

Über diese Kinderheilstätte und diese Versuche gab es am 18.8.20 erneut eine Sendung in Report Mainz. Mit den früheren Enthüllungen von Sylvia Wagner, ist dies nun ein neuer Beweis, dass auch 1960 Verschickungen uU vielleicht deshalb so massenhaft propagiert wurden, um Probanden-Gruppen für Medikamentenversuche zusammenzubekommen. Denn nach unseren bisherigen Erfahrungen können wir nicht von einem Einzelfall ausgehen. Hier die Sendung: