Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime
Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987
Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.
Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.
Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.
Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.
50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100: Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)
Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.
Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.
Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.
Allerheiligen/Oppenau, Schwarzwald: Kinderkurheim, Caritas. 6 Wochen ca. 1962.
Glücksburg: Kindergenesungsheim St. Ansgar, von Ursulinen geleitet, Sandwigstraße 8.
6 Wochen November/Dezember 1964.
Mein Geburtsjahr ist 1954. Ich bin viermal verschickt worden, erstmals als Dreijähriger 1957 und erneut 1958 als Vierjähriger, beide Male nach Timmendorfer Strand, sehr wahrscheinlich in das Privatheim von Frau Düvel. Ca. 1962 (das genaue Jahr ist unbekannt) verschickte man mich zusammen mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester nach Allerheiligen im Schwarzwald. 1964 wurde ich mit einem Jungen aus einem Nachbarort nach St. Ansgar in Glücksburg verschickt.
Timmendorfer Strand 1957 und 1958.
Als ich 2009 erstmals vom Schicksal der Verschickungskinder hörte, habe ich umgehend begonnen, meine 4 Verschickungen zu rekonstruieren. Bis auf wenige Ausnahmen habe ich an alle 4 Aufenthalte keine Erinnerungen mehr.
Von einer freundlichen und zuvorkommenden Mitarbeiterin des Fremdenverkehrsamtes Timmendorfer Strand habe ich 2009 auf meine Anfrage hin Informationen und Materialien zugeschickt bekommen, u.a. Kopien von Fotos einer Werbebroschüre für das private Erholungsheim. Im Schriftverkehr mit der Mitarbeiterin habe ich dann durch den Hinweis von ihr, dass Kinder u.a. über die Knappschaft in das Heim verschickt wurden, die Einrichtung von Frau Düvel als „mein“ Kindererholungsheim identifiziert. Mein Vater war mit seiner Familie bei der Knappschaft versichert.
Laut einem undatierten Zeitungsartikel aus Timmendorfer Strand, den ich als Kopie von der Mitarbeiterin erhalten hatte, wurde das Haus (vor 2009) abgerissen, nachdem Frau Düvel, die das Heim mit kriegsbedingter Unterbrechung (1945 – 1948 als Lazarett für Kriegsblinde genutzt) seit 1939 geleitet hatte, mit 70 Jahren in den Ruhestand gegangen war. Zitat aus dem Zeitungsartikel: „Jungen und Mädchen im Alter zwischen vier und zwölf Jahren […] strömten selbst aus fernen Ländern, beispielsweise aus Japan, nach Timmendorfer Strand, um im Kinderheim Urlaub zu machen.“ Weiterhin ist zu lesen, dass „kleine Gäste aus fast allen europäischen Ländern beherbergt“ wurden. Von Frau Düvel geschätzte Zahl der Verschickungskinder seit der Gründung 1912: 20.000.
Bei den zwei Verschickungen nach Timmendorfer Strand erinnere ich mich nur an eine Begebenheit: Während eines Gruppenaufenthaltes am Meer wurde ich am Strand von der Erzieherin allein zurück ins Wasser geschickt, weil ich bei der Rückkehr der Gruppe aus dem Wasser mit der nassen Badehose in den Sand gefallen war. Ich sollte noch einmal ins (vermutlich sehr flache) Meerwasser eintauchen, um die Badehose zu „säubern“. Ich mag mich aus der Erwachsenenperspektive gar nicht in die damalige Situation emotional hineinversetzen, aber man kann sich denken, wie unendlich allein, verlassen und ausgeschlossen ich mich gefühlt haben muss. Als dreijähriges (und im folgenden Jahr als vierjähriges) Kleinkind in der Fremde, ohne Eltern und Geschwister und weitere vertraute Bezugspersonen, war ich sowieso schon, wie auch meine Mitbetroffenen, im übertragenen wie im Wortsinn „mutterseelenallein“. Ich muss mich, wie es in einem Verschickungszeugnis formuliert wurde, in den 6 Wochen „verraten und verkauft“ gefühlt haben, ohne dies damals als Kleinkind verbalisieren zu können.
Und dann noch allein ins Meer geschickt zu werden, in die von Menschen nicht zu kontrollierende Urgewalt des Wassers, war das für die kleine Kinderseele überhaupt noch aushaltbar? Jedenfalls müssen meine Isolation in diesem Moment, mein Gefühl der Fremdheit, der Verlorenheit und des Verrats unermesslich gewesen sein.
Die von Thuiner Franziskanerinnen geleiteten Kindererholungsheime St. Johann und Antonhaus im Ortsteil Niendorf (Stichwort „Gedenkstein“) sind mir wohl erspart geblieben. Aber auch bezüglich des Deutschen Kindererholungsheimes sind hier auf dieser Website von Betroffenen schlimme Erfahrungen dokumentiert worden.
An Weihnachten 1979 schenkten meine Eltern meinen Schwestern und mir je ein persönliches Fotoalbum mit Fotografien aus der Kindheit und Jugend. Mein Album enthält 3 Fotos aus Timmendorfer Strand 1957/1958. Zwei davon zeigen mich inmitten einer fröhlichen Schar von unverkennbar älteren Mädchen – auf einem Klettergerüst bzw. auf einer Bank. Für das Zustandekommen dieses Motivs - ich als einziger Junge mit 10 bzw. 4 älteren Mädchen - habe ich keine Erklärung. Auf dem dritten Foto bin ich mit anderen Jungen und Mädchen sowie 3 Erzieherinnen auf dem Außendeck eines kleinen Schiffes abgebildet, das in der Ostsee unterwegs ist. Die Jungs sitzen für sich auf der einen Seite des Decks, die Mädchen, getrennt durch einen Gang, auf der anderen Seite. Von mir ist nur der Kopf im Vordergrund zu sehen, vor den Mädchenbänken und neben einer Betreuerin.
Inzwischen bin ich geneigt, diese fotografischen Dokumentationen meiner beiden Kuren in Timmendorfer Strand positiv für mich zu interpretieren. Vielleicht haben die älteren Mädchen mich kleinen Knirps zumindest in den beschriebenen Situationen ein wenig unter ihre Fittiche genommen, mich in gewisser Weise beschützt.
Allerheiligen/Oppenau ca. 1962.
Meine Anfrage 2009 beim Verkehrsamt Oppenau ermöglichte mir den Kontakt zur letzten Gesamtverantwortlichen des Heimes, die in der Leitung des Hauses vom Diözesan-Caritas-Verband Mainz unterstützt wurde. Die zu diesem Zeitpunkt hochbetagte Dame hat mir einen freundlichen Brief geschrieben und mir einige Fotografien u.a. vom Haus sowie Informationen zum Kindererholungsheim zugeschickt.
In der Zeit von 1947 bis 1972 wurden mehr als 25.000 Kinder aus den Diözesen Mainz und Trier sowie aus staatlichen und kommunalen Verbänden aus dem Rheinland und aus Nordrhein-Westfalen nach Allerheiligen verschickt. Anfangs standen 160, später 120 Betten für jährlich 8 sechswöchige Kuren zur Verfügung. Eine Gruppe musste immer von zwei Personen betreut werden, mindestens von einer ausgebildeten Erzieherin und ggf. einer Praktikantin. Die Mittagsruhe wurde von den Kindern in der Liegehalle verbracht. Die Funktion des Heimarztes wurde von einem Mediziner in Oppenau übernommen. Er untersuchte die Kinder am Anfang einer Kur, in der Mitte und am Ende.
Weiterführung des Heimes als Landschulheim 1978, seit 1990 wird die Einrichtung von der katholischen Laienmissionsorganisation ICPE (International Catholic Program for Evangelisation) genutzt.
Die Klosterruine Allerheiligen (ehemaliges Prämonstratenser-Kloster) und die Umgebung werden noch heute touristisch genutzt. Ein ehemaliges Hotelareal mit zwei Gebäuden wurde 1947 von der Caritas Mainz für das geplante Kindergenesungsheim gekauft. Die Allerheiligenkapelle, 1960 neu erbaut, spielte auch bei den Kinderkuren eine wichtige Rolle.
Von meinem sechswöchigen Aufenthalt in Allerheiligen habe ich nur eine Erinnerung: Ich wurde dorthin mit meiner ein Jahr jüngeren Schwester verschickt. Nach der Ankunft standen wir zwei Hand in Hand vor einer oder mehreren Betreuerinnen. Ich habe es so in Erinnerung, dass unsere Hände durch einen harten Schlag getrennt wurden und ich so meine Schwester, meinen einzigen Halt in der Fremde, verlor. Alles andere aus den 6 Wochen ist wie bei allen meinen 4 Heimaufenthalten komplett gelöscht.
Meine Mutter habe ich vor sehr vielen Jahren, als mir der Name des Ortes der Verschickung in den Schwarzwald nicht mehr eingefallen war, danach gefragt. Die Antwort kam prompt: „Allerheiligen“. Als ich sie fragte, wie es dort gewesen sei, sagte sie nur: „Nicht gut.“
Glücksburg 1964.
Sechswöchiger Aufenthalt mit einem Jungen aus einem Nachbardorf im November/Dezember im von Ursulinen (katholischer Frauenorden) geleiteten Kinderkurheim St. Ansgar, das 1950 vom Ursulinenkonvent aus dem ehemaligen Liebenthal, Niederschlesien, übernommen, renoviert und neu eingerichtet wurde. Das Gebäude wurde 1999 abgerissen.
Auf meine 2009 getätigte Anfrage bei der Stadtverwaltung Glücksburg hin, schickte mir das Bürgerbüro u.a. Kopien einer Broschüre über St. Ansgar von 1968 mit Fotos vom Gebäude und den Räumlichkeiten sowie Informationen über das Heim. Es wurden 120 Kinder, je zur Hälfte Jungen und Mädchen im Alter von 5 bis 14 Jahren, aufgenommen, Mädchen auch älter als 14 Jahre. Für die 120 Kinder, die nach Altersstufen in Gruppen eingeteilt wurden, standen lediglich 8 Badezellen und 1 Brausebad zur Verfügung. In der Broschüre ist auch zu lesen, dass als Teil des Kurverfahrens „je nach Bedürfnis Medikamente und zusätzliche Stärkungsmittel“ eingesetzt wurden. Mitzubringen hatten die Kinder u.a. „das Diözesan-Gesangbuch“. Neben der Oberin waren eine Jugendleiterin, Kindergärtnerinnen und Krankenschwestern für die Betreuung der Kinder zuständig.
Weiterhin liegen mir Kopien von Fotos mit dem Gebäude St. Ansgar von 1954, 1958, 1990 und 1998 vor. Eine von einem Verschickungskind 1962 beschriebene Ansichtskarte vom Speisesaal von St. Ansgar beschaffte ich mir über einen Ansichtskartenversand. Der verschickte Junge hatte für seine Eltern seinen Platz im Speisesaal markiert. Offenbar gab es also zumindest in dieser Zeit fest zugewiesene Plätze bei den Mahlzeiten.
Der freundliche Mitarbeiter vom Bürgerbüro schickte mir auch Kopien einer weiteren Broschüre mit Fotos und knappen Informationen sowie Kopien von 6 weiteren Fotos von Küche, Wäscherei, Schlafsaal und Aufenthaltsräumen zu. Die Broschüre und die 6 Fotos stammen aus der NS-Zeit: auf einem Foto in der Broschüre steht die Hakenkreuzflagge im Mittelpunkt („Blick vom Spielplatz am Hause“). Auf einem der 6 Fotos ist in einem Aufenthaltsraum u.a. ein Bücherregal zu sehen, 2 Bücher liegen auf einem Tisch. Den Titel des einen Buches konnte ich mit Hilfe einer Lupe und einer Recherche in der Deutschen Nationalbibliografie identifizieren: Adolf Hitler spricht. Ein Lexikon des Nationalsozialismus. Leipzig: Kittler, 1934. Dem Inhaltsverzeichnis des Eintrages in der Bibliografie ist zu entnehmen, dass es sich nicht um ein klassisches Lexikon von A – Z handelt, sondern um eine Sammlung von Hitler-Zitaten zu verschiedenen Themen.
St. Ansgar hat also eine NS-Vergangenheit. Auch im Deutschen Kindererholungsheim in Timmendorfer Strand lief der Betrieb in den unseligen Jahren der Nazi-Diktatur weiter. Inwieweit die Verschickungsheime der „Gleichschaltung“ unterlagen, ist z.B. in der Studie „Kur oder Verschickung?“ von Hans-Walter Schmuhl am Beispiel der Kinderheime der Deutschen Angestellten Krankenkasse DAK nachzulesen. Auf das Buch und weitere Publikationen zum Thema wird auch auf dieser Website hingewiesen. Darüber, dass die langen Schatten der menschverachtenden Nazi-Ideologie bis in die Kinderkurheime der 1950er und 1960er Jahre reichten, z.T. mit dem gleichen Personal, wird z.B. auch auf verschickungsheime.de auf der Seite „Mögliche Einflüsse der NS-Zeit auf Verschickungsheime“ informiert.
Auch heute steht in der Glücksburger Sandwigstraße 8 wieder ein „Haus St. Ansgar“: lt. Website des Instituts St. Bonifatius lebt dort eine „kleine geistliche Zelle“ der katholischen Pfarrei Flensburg mit 4 Mitgliedern.
Lt. den beiden Broschüren aus der Nazi-Zeit und von 1968 war das Kindererholungsheim St. Ansgar im Besitz des „Gemeinnützigen Vereins für Kinderhilfe e.V. Sendenhorst“. Über diesen Verein konnte ich nur einen Eintrag im Historischen Archiv des Erzbistums Köln (Bestandsangaben über die Deutsche Digitale Bibliothek aufrufbar) ermitteln: der Bestand des Diözesan-Caritasverbandes Köln enthält u.a. eine Niederschrift der Konferenz der katholischen Anstalten der Kindergesundheitsfürsorge aus der Zeit zwischen 1937 und 1984. Es handelte sich also um einen Verein, der sich aus dem katholischen Weltbild heraus der Kinderhilfe verschrieben hatte.
Ich habe nicht einmal eine Erinnerung daran, dass der mir bekannte Junge aus einem Nachbardorf mit mir in Glücksburg gewesen ist. Es gibt eine Erinnerung, die ich keiner der 4 Kuren eindeutig zuordnen kann: Ich befinde mich tagsüber allein in einem großen Schlafsaal im Bett. Wie schon bei der Badehose-Episode in Timmendorfer Strand ist auch diese Erinnerung an ein erzwungenes Ausgeschlossensein ein Bild der Verbannung, des in der Welt Verlorenen, des schuldig Gewordenen. Was noch einmal eine Steigerung war innerhalb des von der Außenwelt sowie so schon abgeschotteten geschlossenen Systems der Heime mit ausschließlich Kindern und Personal. Aus Zeugnissen von Mitbetroffenen weiß ich, dass zu den Strafmaßnahmen auch gehörte, dass man von seiner gerade mit Aktivitäten befassten Gruppe ausgeschlossen wurde und sich u.U. für Stunden in sein Bett im ansonsten leeren Schlafsaal legen musste.
Im Nachlass meiner Mutter habe ich nach ihrem Tod 21 Karten und Briefe meiner Mutter, von der restlichen Familie und weiteren Verwandten sowie von Schulfreunden gefunden, die mir 1964 nach Glücksburg geschickt wurden. Weiterhin 8 Briefe, die ich als Zehnjähriger nachhause geschrieben hatte. Ich bin meiner Mutter sehr dankbar, dass ihr die Glücksburger Briefe so wichtig waren, dass sie sie zu ihren persönlichen Unterlagen genommen hat und werde sie wie einen wertvollen Schatz hüten.
Sehr vage erinnere ich mich an eine Schifffahrt, mit der ich ein Gefühl positiver Aufregung verbinde. Die Briefe offenbaren, dass wir zwei Ausflüge nach Dänemark – ins Ausland! – gemacht haben. Einmal mit einem kleinen Dampfschiff, das in der Broschüre abgebildet ist, einmal mit dem Bus. Der eine Ausflug führte uns nach Sonderborg, der andere zu Schloss Gravenstein, der Sommerresidenz der dänischen Königsfamilie. In einem Brief an die Eltern erzähle ich ausführlich von einem Museum in Sonderborg, das wir besucht haben und von einem „Schattenspiel der großen Mädchen“ sowie einem Marionettentheater über die Bremer Stadtmusikanten, das wohl von einigen Jungen gestaltet wurde.
In fast allen Briefen schreibe ich, dass es mir gut geht. Und ich erzähle von meinen ausschließlich positiven Erlebnissen: es sei „sehr schön“ in St. Ansgar und das Essen sei „sehr gut“. Das Heim sei „sehr schön eingerichtet“. Ein Beleg dafür, dass die Kinder angehalten waren, nur Gutes nachhause zu berichten? Oder entsprach das, was ich geschrieben hatte, tatsächlich meiner damaligen Wahrnehmung?
In einem meiner Briefe (alle mit blauer Tinte geschrieben) ist in schwarzer Tinte ein grammatikalischer Fehler korrigiert. Meine Mutter schreibt mir in einem Brief, dass die Oma eine Karte von mir erhalten hätte, die gar nicht von mir selbst geschrieben worden wäre, und dass sie sich deshalb Sorgen machte, dass ich krank sei. Was ich in meinem Antwortbrief verneine und mitteile, dass ich nichts von einer solchen „falschen“ Karte weiß. Belege dafür, dass alle ausgehenden Briefe der Kinder gelesen und ggf. Negatives eliminiert wurde oder gar Briefe einbehalten und vom Personal neu geschrieben wurden? Aus Zeugnissen von Betroffenen ist bekannt, dass kein Brief das Heim verlassen durfte, der nicht kontrolliert und ggf. zensiert wurde.
Aus den Briefen weiß ich auch, dass eine „Frl. Petra“ die Betreuerin meiner Gruppe war. Von meinen Eltern wurde ich in den Briefen ermahnt, „Frl. Petra immer Freude zu machen“ und dass ich mich „an die Ordnung halten“ soll, dann hätte ich selbst „viel Freude“. In einem anderen Brief erzähle ich, dass ich für Vater Manschettenknöpfe bastele. Dies verbindet sich mit der vagen Erinnerung an Emaille-Arbeiten in unserer Gruppe.
Ein Satz aus einem Brief meiner Mutter, der mir gut gefällt: „Du kleiner Kerl bekommst allerhand zu sehen“. Noch ein bemerkenswerter Satz eines Freundes, der den von den Verantwortlichen beabsichtigten Zweck der Kinderverschickungen in entlarvender Weise auf den Punkt bringt: „Werde ja reichlich dick.“
Über eine weitere positive Erinnerung kann ich bei meinen 4 sogenannten Kindererholungen berichten, allerdings auch nur eine sehr vage: Es werden Briefe und/oder ein Päckchen (in einem der aufgefundenen Briefe ist von einem Nikolauspäckchen die Rede) von zuhause verteilt, bei mir verbunden mit einem wohligen und herzerwärmenden Gefühl.
Das, was ich in den 24 Wochen bei 4 Kuren in 3 Heimen im Alter von 3 bis 10 Jahren erlebt habe, ist nahezu vollständig in meinem Bewusstsein gelöscht. Die wenigen Ausnahmen habe ich in meinem Bericht aufgeschrieben. Nach einem psychischen Zusammenbruch als 22jähriger begann ich meine erste Psychotherapie. Noch heute konsultiere ich in großen Abständen einen Psychotherapeuten.
Dankbar bin ich meinen Leidensgenossen und -genossinnen, die auf dieser Website Zeugnis abgelegt haben. Ich fühle mich mit ihnen in dem, was uns bei den Verschickungen widerfahren ist, verbunden. Das hilft.

Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja
Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
für den Rest des gesamten Lebens.
Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!