Zweiter Kongress zu einem verdrängten Kapitel der Nachkriegsgeschichte

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Im November 2019 konstituierte sich auf Sylt die „Initiative Verschickungskinder“, 70 Betroffene stimmten eine Erklärung ab, auf deren Grundlage sich eine Initiative gründete, die inzwischen in mehreren Bundesländern, und sogar im Ausland Landesgruppen unterhält. Die Initiative besteht aus Menschen, die ihre  in der Regel 6 bis 8-wöchigen Kindererholungsheim-Kuren traumatisch erinnern. 

In den Wirtschaftswunderzeiten, den 50-90er Jahren wurden allein in Westdeutschland Zehntausende von Klein- und Vorschul-Kindern, jedes Jahr in Sammeltransporten, ohne ihre Eltern, bei striktem Besuchsverbot und Briefzensur, in „Kindererholungsheime und Kinderheilstätten“ „verschickt“, (nach Zahlen der Bundesbahn (nach: Bundestag, kleine Anfrage 1973) eine halbe Million pro Jahr), meist, obgleich sie kerngesund waren, vorgeblich aber, weil sie zu dünn, zu schwach, kränklich waren, manchmal, weil sie tatsächlich krank waren. 50 Jahre später melden sich nun Menschen mit Schreckenserinnerungen an diese Aufenthalte. Sie erinnern ein System der Angst: Strenge, harte Schwestern, unsinnige Vorschriften, schweigend an ihnen hantierende Ärzte, Tabletten, Spritzen, Isolierstationen (zB: Haus Bernfried, Bonn-Oberkassel). Drakonische Strafen fürs Weinen, Erbrechen, Einnässen. Erniedrigungen, Demütigungen (zB Sylt, Amrum, Norderney, Borkum, Schwarzwald, Bad Sachsa, Scheidegg, Schönau, Allgäu u.w.). Auch das Wegnehmen aller Kuscheltiere, Verbot eigene Kleidung zu tragen, Ausgeben einer Nummer, ein Appellplatz, Schwestern mit Hunden und Peitschen, Haare scheren, ist vorgekommen (zB.Murnau am Staffelsee). Da der „Kurerfolg“ durch Gewichtszunahme belegt werden sollte, wurden die Kinder gradezu gemästet, man zwang sie zT die ganze Nacht vor dem Mittagessenteller zu sitzen (noch 1973 in Idar-Oberstein passiert), oder man zwang ihnen das Essen samt dem auf den Teller Erbrochenen mit Gewalt ein (wie zahllose Betroffene berichten). All diese Erinnerungen haben Betroffene aus eigenem Antrieb  im letzten Jahr der „Initiative Verschickungskinder“ zugesandt und unter ZEUGNIS ABLEGEN zur Veröffentlichung freigegeben.

Eine ganze Medizin-Industrie hat daran verdient. Die Kurorte, wie Bad Reichenhall, Wyk auf Föhr, Sylt, Amrum, Bad Sassendorf, Bad Sachsa, Mittelberg/Oy, Bad Rothenfelde, Scheidegg, Schönau und 350 weitere,  in denen es jeweils bis zu 30 solcher Kinderheime gab,  haben zu Zeiten, wo die Erwachsenen-Kurindustrie noch brach lag (bis ca. 1978) Millionen an diesen Kinderverschickungen verdient.

Den Menschen, die sich nun nach Jahrzehnten mit dem Aufbrechen ihrer Erinnerungen konfrontiert sehen, wurde in ihrer Kindheit nicht geglaubt, wenn sie zaghaft versucht haben, davon zu erzählen. Sie konnten oft auch keine Worte finden, um das zu erklären, was ihnen selbst unerklärlich erschienen war. Manche Eltern haben sich beschwert, da ihre Kinder „kranker aus dem Kinderheim zurückkamen, als sie hingefahren waren“, (aus der Beschwerdeakte Bad Friedrichshall), dies wurde in dem Fall zynisch mit dem Hinweis auf die erfolgte Gewichtszunahme abgewiesen. 

Es gab insgesamt ca. 1400 Kindererholungsheime und -heilstätten, es ist an der Zeit, diese Verbrechen an den Kinderseelen öffentlich zu machen. Die Bädermedizin und die Kurorte wussten bisher nur Positives über diese vergangene Ära zu berichten. 

Wir als Betroffene fordern:

  1. Lückenlose Aufklärung, Zugang zu den Archiven für unsere Bürgerforschung, keine Vernichtung von Verwaltungs- und Heimakten zu diesem Thema, 
  2. Unterstützung durch Bereitstellung von HistorikerInnen und ArchivmitarbeiterInnen in den Bundesländern, um die ca. 1400 Heim-Verwaltungsakten zu finden, zu sichten und auszuwerten 
  3. Unterstützung bei der Aufarbeitung durch die Finanzierung von selbstverwalteten Landesbüros, die als Anlaufstelle für Betroffene zur Beratung, Vernetzung und selbstbestimmter Recherche dienen sollen.    
  4. Verantwortungsübernahme der Nachfolge-Träger und Verwaltungen für diese Verbrechen an unschuldigen Kindern 

Unsere erste Forderung im vorigen Jahr war die Anerkennung des Leids der Verschickungskinder, diese wurde uns im Frühjahr 2020 durch die Landes-Sozialministerkonferenz offiziell ausgesprochen.  Jetzt müssen diesem Bekenntnis Taten folgen. Wir, die Betroffenen der „Initiative Verschickungskinder“ wünschen uns von den Medien eine intensive Aufmerksamkeit für dieses vergessene Thema. Wir stehen Ihnen hiermit durch Vermittlung von Interviews für eine aufklärende Berichterstattung zur Verfügung. Helfen Sie uns, das Thema weiterhin bekannt zu machen. 

Mit der Bitte um Kontaktaufnahme zur intensiveren Berichterstattung, verbleibe ich

Anja Röhl, Bundeskoordination „Initiative Verschickungskinder“