Begegnungstag der NRW-Verschickungskinder in Dorsten am 14. Oktober 2023

Von Maria Dickmeis und Bastian Tebarth

„Wir können uns in unser Unglück hineinsteigern. Wir können es aber auch als Chance begreifen und daran wachsen“. So begrüßt Detlef Lichtrauter die ehemaligen Verschickungskinder im Dorstener „Treffpunkt Altstadt“.

Weit über hundert Betroffene sind zum 1. Begegnungstag des Vereins „Aufarbeitung Kinderverschickungen NRW e.V.“ angereist, nicht nur aus Nordrhein-Westfalen. Sie alle wurden zwischen 1950-1990 in Kinderkuren verschickt, viele erlebten dort Gewalt und Demütigungen. 

Detlef Lichtrauter, Foto: M. Millgramm

„Wir tragen das Glück in unseren Herzen“, sagt Lichtrauter. Die Stimme versagt ihm kurz. Aufbrandender Applaus ist ein deutlicher Kommentar der Community: Du bist nicht allein!

Vernetzen und stärken

Der Vorsitzende des AKV-NRW e.V. hat als 12-jähriger qualvolle Wochen in einer Einrichtung in Bonn-Oberkassel erlebt. Das war Motor für ihn, den Verein zu gründen. Wie er, haben die meisten Betroffenen im Saal schlimme, ihr Leben prägende Erfahrungen in der Kinderkur gemacht. Heute wollen sie sich vernetzen und Spaß haben.

Detlef Lichtrauter begrüßt als Vorsitzender des AKV-NRW e.V. die Teilnehmer:innen des ersten Erlebnistags der Verschickungskinder NRW, Foto: M. Millgramm

An diesem Samstagmorgen fließen Freudentränen. Es gibt viele berührende Momente. Warum dieses Treffen? „Der Begegnungstag macht möglich, dass wir uns als Gemeinschaft erleben, vernetzen, unterstützen“, beschreibt Lichtrauter den Sinn des Treffens auf Landesebene. „Niemand muss sich mehr allein und isoliert fühlen.“ Viele dachten ein Leben lang, die eigene schreckliche Erfahrung sei eine Ausnahme gewesen. Das habe sie ihr Leben lang begleitet. Sie suchten die Schuld für das Erlebte bei sich selbst. „Den Satz: ‚Ich hab’ gedacht, das ist nur mir passiert‘, den können wir spätestens ab heute endlich vergessen!“. 

1,8 Millionen Menschen wurden als Kinder aus NRW oder nach NRW in die „Erholung“ verschickt. Ein kleiner Teil von ihnen bekommt an diesem Samstag Gelegenheit, sich nicht mehr ganz allein zu fühlen. Manche zum ersten Mal.

Die stellvertretende Dorstener Bürgermeisterin ist gekommen, um die ehemaligen Verschickungskinder zu begrüßen. Christel Briefs ist CDU-Politikerin. Sie weiß die Anwesenden abzuholen. Als junge Erwachsene arbeitete sie auf der Nordseeinsel Langeoog als Zimmermädchen, berichtet sie. Heute wisse sie: Die „Kinderinsel“ war einer der „Tatorte“. Sie wünscht den Betroffenen, aus diesem besonderen Tag mit gestärkter Resilienz und „seelischer Widerstandskraft« nach Hause zu fahren.

Christel Briefs, Foto: M. Millgramm

Und genau das ist das Ziel für heute: Resilienz und Widerstandskraft fokussierten auch die Workshop-Angebote. 

Ein buntes Programm zum Empowern, Entspannen und Aufarbeiten

Erlebnispädagoge und Life-Coach Stefan Spiecker zeigt Wege zur Selbstfürsorge und zu mehr Wohlbefinden, inspiriert von der Positiven Psychologe. Kunsttherapeutin Claudia Dedden gibt Mutmachimpulse mit Kreiden und Farben. 

„Wie Gefühle und Gedanken durch körperlichen Ausdruck und Sinne positiv beeinflusst werden können und uns eine veränderte Sicht auf Probleme eröffnen“,  das erleben Teilnehmer:innen des Workshops „Raus aus der Grübelfalle“, geleitet von der Projektkoordinatorin des NRW-Projektes und Hypnosystemischen Trainerin Maria Dickmeis. „Leider war die Zeit knapp, weil unsere Gruppe so groß war“, bedauert nicht nur ein Betroffener, der dabei war.

Maria Dickmeis, Foto: M. Millgramm

Bei Tanzpädagogin Gabriela Jüttner geht es mit Kreistänzen rund. Positive Energie und Spaß erleben Tanzbegeisterte in ihrem Workshop. Er bewegt auch innerlich. Eine Teilnehmerin fasst es so zusammen: „Wir sind vom ‚Ich fühle mich fremd in der Gruppe‘ bis zum ‚Wir sind eine fröhliche bewegliche Gruppe gekommen‘“. Eine andere ist den weiten Weg von Buxtehude nach Dorsten gefahren, um teilzunehmen. Ihre Erfahrung: „Es tat gut, erst einmal auf diese körperliche Art, die anderen kennen zu lernen und nicht direkt in die Problemgespräche reinzugehen“.

Kreistanz vor dem Treffpunkt Altstadt, Foto: D. Lichtrauter

Berührende Momente 

Die Tanz-Gruppe bewegt sich auch auf die Nicht-Tänzer:innen zu. Ihr Motiv: Ansteckend sein, andere an ihrer Begeisterung teilhaben lassen. Man trifft sich auf der Wiese vor dem „Altstadt-Treff“ und ehrt mit Tanz das Organisationsteam unter Leitung von Michaela Stricker für die Vorbereitung dieses bewegenden Begegnungstages.

Das Organisationsteam des Erlebnistags, vordere Reihe v.l.n.r.: Michaela Stricker, Jutta Redecker, Regina Konstantinidis, Detlef Lichtrauter, hintere Reihe v.l.n.r.: Michael Millgramm, Maria Dickmeis, Bastian Tebarth. Foto: Eva Marmann

Umfassende Tipps und mutmachende Ratschläge

Historikerin Carmen Behrendt weiß um die Fragezeichen, wenn es um Recherche in Archiven geht. Sie begleitet besonders die, denen diese Orte der Aktenordner Rätsel aufgeben oder gar Angst machen. Sie motiviert mit umfassenden Tipps und vor allem praxisnahem Input. Auch dieser Workshop ist -wie alle anderen – komplett ausgebucht. Nicht nur eine Teilnehmerin ist anschließend hoch motiviert, mit der Recherche der eigenen Verschickungsgeschichte zu starten. 

Gestalttherapeut Nando Belardi macht Mut, eine Selbsthilfegruppe zu gründen und zu leiten. In einem Crashkurs erfahren die Teilnehmer:innen, was nötig ist, damit  Betroffene in der Gruppe ein Zuhause finden, aber auch, was in schwierigen Situationen zu tun ist.  Das nimmt die Unsicherheiten.

“We Will Rock You”

Eine definitiv positives Statement für die Zukunft der NRW Verschickungs – Community setzen die „musikalisch Hochbegabten“ des Cajón-Workshops von Profi-Musiker Detlef Lichtrauter. Am Ende des Tages präsentieren sie auf der Bühne des großen Saals den Queen-Song „We Will Rock You“.

Die positive Energie ist im Raum greifbar.

Die Cajón-Trommelgruppe bei der Abschlussveranstaltung des Erlebnistages in Dorsten, Foto: M.Millgramm

„Solch ein Tag darf gerne wiederholt werden, damit die „Seelen“ immer mehr heilen können!“ steht auf einem der Feedback-Bögen zum Tag. 

Impressionen vom Erlebnistag 

Christel Briefs und Detlef Lichtrauter, im Hintergrund der Leiter des Treffpunkt Altstadt, Christian Joswig, Foto: M.Millgramm
Das WDR-Team der Lokalzeit Dortmund bei der Arbeit, Foto: M.Millgramm