Zensur im NDR?
Am 31.8. wurde breit bekannt: Leitende NDR-Mitarbeitende mussten gehen, unter anderem, weil sie 2021 einen schon fertig gedrehten Film über Brutalitäten in Verschickungsheimen, mit mehreren brisanten Zeitzeugen-Interviews, auf Wunsch der damaligen Trägerorganisationen, des DRK- Landesverbands in Kiel, noch vor der Ausstrahlung abgesetzt hatten, wie jetzt aus internem Briefwechsel bekannt wurde. 72 Mitarbeitende des NDR haben sich dazu in einem offenen Brief an ihren Chef gewandt und diesen an den STERN weitergereicht: sie schreiben von einem „Klima der Angst“, von „Politischen Filtern”, „Hofberichterstattung” und „Zensur“. Sie fordern “eine lückenlose und transparente Aufarbeitung aller Vorwürfe”. Siehe dazu: (hier jeweils zum Downloaden, die Berichte in der FAZ, im ZAPP, in der ZEIT, und im STERN…)
Dazu habe ich, Anja Röhl, eine Hintergrundinformation beizusteuern:
Zufällig weiß ich von diesem Film, ein dokumentarischer Film, für den mehrere Protagonisten mehrstündig interviewt wurden, der nie gesendet wurde. Ich war an ihm selbst beteiligt. Es ging um Verschickungsheime in Schleswig-Holstein. Konkret um ein DRK-Heim auf Wittdün/Amrum, wozu ein Zeitzeuge, Rolf Peters, den ich zu dem Zeitpunkt noch nicht kannte, ausführlich interviewt wurde. Nachdem der Film nicht gezeigt wurde, er dafür keine Begründung bekam, wandte der Interviewte sich an mich und ich interviewte ihn ausführlich für mein Buch: Heimweh-Verschickungskinder erzählen (Rolf), dass im Oktober 2021, im Psychosozial-Verlag erschien.
Als Betroffener einer besonders brutalen Behandlung, (DOWNLOAD des Interviews mit Rolf P.), die er sein ganzes Leben nicht vergessen konnte, hatte er sich schon 2014 an das DRK mit der Bitte um Aufarbeitung seines Falles gewandt. Er bekam einen sehr netten Brief von Herrn Seiters, mit der Zusicherung, er werde sicher Hilfe beim Landesverband finden. Danach wurde ihm vom Leiter des DRK Schleswig-Holstein in einem persönlichen Gespräch gesagt, er solle seine Briefe und Dokumente im Ofen verbrennen, dann hätte er „Ruhe“, er könne das auch gleich für ihn übernehmen, woraufhin der Betroffene erbost aufsprang, seine Papiere nahm und den Raum verließ. 2020 wandte er sich mit dem Anliegen an den NDR, das ungeheure Vorkommnis beizusteuern, dass ihm vom Leiter des DRK 2014 geraten wurde, seine traumatischen Verschickungs-Erlebnisse zu vergessen, und seine Dokumente über diese zu „vernichten“. Das Interview über seine Erlebnisse nahm einen breiten Raum in dem Film ein. Auch ich wurde für diesen Film lange interviewt und gefilmt. Viele Recherchen waren in diesen Filmbeitrag eingeflossen.
Dieser Film wurde nie gezeigt, zur Begründung schrieb der Direktor des Kieler NDR, Volker Thormählen mir am 23.3.21 in einer mail, es sei „in der Tat so gewesen“ sei, „dass sich „die Redaktion“ damals „gegen eine Veröffentlichung der von Herrn P. geschilderten Thematik“ entschieden hat“. (Der ganze Film war abgesetzt worden, nicht nur das eine Interview, indirekt enthüllt er hier, dass es nur um diesen einen Beitrag geht) Allerdings seien „die Kolleg*innen selbstverständlich bereit, mögliche neue Belege anzuschauen und zu prüfen“ Ich wurde dann weiter, an den Leiter des TV-Bereichs, Herrn Norbert Lorentzen verwiesen. Dieser schrieb mir, die Aussagen eines Betroffenen reichten in diesem schwerwiegenden Fall nicht aus, der Film bleibe weiter ungezeigt.
Kurz darauf habe ich, zusammen mit dem Betroffenen Rolf Peters, um ein Gespräch beim DRK Schleswig-Holstein gebeten, dass nach längerem Insistieren dann im August 2021 gewährt wurde. Dort hat der Leiter, Herr Gorissen zugegeben, 2014 den Satz mit dem Verbrennen der Dokumente gesagt zu haben, er meinte, er habe es damals ihm gegenüber „therapeutisch“ gemeint, damit er wieder zur Ruhe komme. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass man diesen Rat auch als Zeugnisvernichtungsversuch bewerten könnte. Er gab zu, dass man es so sehen könne, es so aber nicht gemeint gewesen war. Frau Annette Langner (DRK-Vorstand) war in diesem Gespräch auch dabei, Ich sprach sie darauf an, dass ein für uns sehr wichtiger NDR-Dokumentarfilm mit einem Interview meines Interviewpartners vor Ausstrahlung plötzlich abgesetzt wurde. Sie kannte den Vorgang, und behauptete, dass die Journalisten zu einseitige, „unverschämte“ “Verhörfragen” geschickt habe. Ich habe mir nachher die Fragen zeigen lassen, es waren ganz normale Fragen. Warum aber das DRK die Macht hat, einen NDR-Sendebeitrag abzusetzen, die Frage konnte sie mir leider nicht beantworten. Herr Peters betonte abschließend, er wolle keine Entschädigung, er wolle aber unbedingt, dass eine lückenlose Aufklärung der Vorfälle im DRK-Heim auf Amrum in Angriff genommen werde. Eine Aufklärung sei für St.Peter-Ording schon auf den Weg gebracht, wurde geantwortet. Er würde sich freuen, wenn dies auch für Wittdün-Amrum passiere, antwortete Herr Peters.
Im Interview des Betroffenen Rolf Peters, wie er es mir schließlich gab, und wie er es auch für den Film abgegeben hatte, geht es u.a. darum, dass sich in besagtem DRK-Verschickungsheim in Wittdün/Amrum, einer der Mitarbeiter als ehemaliger KZ-Aufseher geoutet, damit sogar angegeben und die Kinder mit dicken Dornenstrüngen blutig geschlagen hat. Während des Prügelns schrie und drohte dieser „Hausmeister“, dass er schon in Neuengamme den dortigen „Weicheiern“ Dampf gemacht hätte und er daher mit solchen Früchtchen wie ihnen (er meinte 8-jährige Kinder) mit links fertig werde. Seinem Freund wurde daraufhin der gesamte Rücken blutig geschlagen und aufgerissen. Auch war Herr P. am ersten Tag nackt ins Zimmer der Heimleiterin gezerrt worden, von ihr durch grobes Anfassen „begutachtet“, dann aufgrund von Rachitis-Merkmalen als „nicht arisch“ bezeichnet und anschließend entsprechend grausam behandelt worden. (Download: Interview) Rolf P. interessiert sich verständlicherweise selbst nach mehr als 60 Jahren noch für die Namen der damaligen Mitarbeitenden. Angeblich wüsste man die nicht mehr, wird ihm gesagt.
Ich habe dann dem Leiter des TV-Bereichs im NDR Kiel, Norbert Lorentzen und Direktor Volker Thormählen angerufen, und mitgeteilt, dass ich von Herrn Gorissen vom Kieler DRK-Landesverband in einem persönlichen Gespräch zu viert, ein Eingeständnis der fragwürdigen Unterredung aus dem Jahre 2014 bekommen hätte, womit die Glaubwürdigkeit des Rolf Peters belegt war. Das seien Rolf Peters und ich sofort bereit, eidesstattlich zu bezeugen. Es müsse schriftlich vorliegen, war die Antwort. Ich schrieb dieses auch der Redakteurin des Films, sie war sehr überrascht. Ich glaubte, der Film käme nun doch noch. Aber bisher ist er nicht gezeigt worden.
Nachdem jetzt herauskam, dass Frau Langners damalige Lebensgefährtin Mitglied im NDR-Rundfunkrat ist, scheint die Frage, die ich mir damals stellte, woher das DRK die Macht hat, einen fertigen Film zu verhindern, eventuell eine Antwort bekommen zu haben, ebenso bestätigen die 72 Angestellten mit ihren Vorwürfen der „Zensur“ und der „Hofberichterstattung“ meinen damaligen Eindruck. Inzwischen wurde vom DRK-LV SH im August 2021 eine Soziologie- und Pädagogik-Studentin (Betreuer Prof. Dr. Peter Graeff, Soziologie und empirische Sozialforschung an der CAU) beauftragt eine Studie/Masterarbeit über DRK-Verschickungsheime in Schleswig-Holstein zu erstellen. Diese Studie wird im Jahr 2024 veröfftnlicht, sie wurde 2023 abgeschlossen.
Wir freuen uns, dass der LV Schleswig-Holstein des DRK die Anregung des Rolf Peters, eine ernstzunehmende Aufarbeitung zu betreiben, mit diesem Schritt begonnen hat. Aber obgleich das „DRK-Heim Wittdün-Amrum“ in der Studie eine zentrale Rolle einnimmt, wurden die Informationen des Rolf Peters, der den Anstoß zu der Studie gegeben hat, erneut nicht berücksichtigt. Ich verstehe das nicht. Der einfühlsame Brief des Bundespräsidenten des DRK 2014, der Rolf Peters damals mit so viel Mitgefühl entgegen kam, wieso wird er nun, zehn Jahre später immer noch und weiterhin so bitter enttäuscht?
Rolf Peters ist am 25.2.24 achtzig Jahre alt geworden, wir gratulieren herzlich!
Anja Röhl
(1): zitiert aus öffentlichen Zeitzeugenberichten der Webseite: www.verschickungsheime.de