Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime
Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987
Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.
Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.
Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.
Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.
50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100: Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)
Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.
Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.
Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.
Ich bin Jürgen, 46 Jahre alt und ein ehemaliges, sogenanntes „Verschickungskind“. Ich schreibe diesen Bericht, um die Erlebnisse meines Kuraufenthaltes im Jahr 1985 für mich besser aufarbeiten zu können. Gerne teile ich mit Ihnen diesen Bericht in der Hoffnung, die Schicksale der damaligen Verschickungskinder ins Blickfeld der Öffentlichkeit zu rücken, auch um zum Nachdenken anzuregen, über Recht und Unrecht – insbesondere auch im Umgang mit Kindern. Niemand wird als Täter geboren – man hat immer die Wahl. Dieser Beitrag soll wachrütteln und helfen, Kinder künftiger Generationen in einer Heimunterbringung ein traumatisierendes Schicksal zu ersparen.
Mein Kuraufenthalt im Jugendkurheim St. Michael in Bühl bei Immenstadt begann am 08. Mai 1985. Im Vorfeld konnte ich zwischen zwei verschiedenen Kurheimen wählen. Mir gefiel das Kurheim in Bühl bei Immenstadt, weil das Hauptgebäude so eine anheimelnde Ausstrahlung hatte und eine beruhigende Gemütlichkeit ausstrahlte. Außerdem mochte ich die Berge immer schon gerne.
Als meine Eltern mit mir dann also nach Bühl fuhren, wurde meine Aufregung mit jedem Kilometer, den wir uns dem Ziel näherten, größer. Ein besonders mulmiges Gefühl hatte ich bei dem Gedanken, meine Eltern wochenlang vermutlich nur ab und an sehen zu können.
Im Kurheim angekommen erfolgte als Erstes die Aufnahme im Sekretariat. Im Anschluss schickte man uns in ein anderes Gebäude, in dem die Kindergruppen untergebracht waren. Wir wurden dort sehr herzlich von einer Kindererzieherin empfangen, die uns durch die Räume führte und einiges erklärte. Von meinen Eltern auf die Besuchszeiten angesprochen meinte sie, ein persönlicher Kontakt der Eltern zum Kind sei für das Kind eher als traumatisch zu bewerten und würde Heimweh auslösen. Ebenso würde es sich bei einem Telefonkontakt verhalten. Im Beisein meiner Eltern fühlte ich mich zwar noch sicher, aber nach dem gesagten, deutlich unbehaglicher. Am liebsten wäre ich mit meinen Eltern direkt wieder gegangen.
Kurze Zeit später meinte dann die freundliche Erzieherin, dass nun der Zeitpunkt des Abschieds gekommen wäre. Meine Eltern verabschiedeten sich von mir und gingen die Treppe in Richtung Ausgang nach unten und ich ging hinter meinen Eltern her, um sie nochmals zu umarmen. Funktioniert hat das leider nicht, weil mich die Erzieherin am Handgelenk festhielt und die Treppe nach oben zog. Mir kam das schon deutlich unfreundlicher vor und ich fühlte mich elend und verlassen.
Oben angekommen bin ich dann endgültig in Tränen ausgebrochen, würde ich doch sechs lange Wochen meine Eltern weder sehen noch sprechen können, wie mir die Erzieherin deutete und wurde dann in mein zugewiesenes Zimmer gesteckt, in dem sich schon mein ebenfalls weinender Zimmernachbar Marco befand.
Marco und ich haben bestimmt zwei Stunden lang aus Heimweh und Verlustangst einfach nur geweint. Niemand kam. Wir haben dann unsere Kleidung in die Schränke geräumt. Unser Taschengeld und andere persönliche Dinge wurden uns später von einer Erzieherin abgenommen.
Nach diesen zwei Stunden habe ich mir geschworen, keine einzige Träne mehr zu vergießen.
Beim Abendessen dann durfte man nicht aufstehen, bevor alles aufgegessen war. Egal ob man das Essen mochte oder nicht, man musste aufessen. Anschließend durften wir noch etwas spielen und mussten uns dann bettfertig machen, d. h. Unterwäsche ausziehen, Pyjama anziehen, Gesicht und Arme feucht abwischen und die Zähne putzen. Zuletzt noch auf die Toilette, denn das verlassen des Zimmers zur Schlafenszeit war bei Strafe verboten und dann ab ins Bett. Anschließend musste sofort das Licht gelöscht werden.
Die Erzieherin hat uns dabei schon vor dem Gang ins Bad verabschiedet und uns zur Ruhe ermahnt.
Am folgenden Morgen die gleiche Prozedur nur umgekehrt.
Vor dem täglichen Frühstück wurde dann von der Betreuerin festgestellt, ob jemand nachts ins Bett gemacht hat. War das so, wurde die Problematik in der gesamten Gruppe besprochen, was für den „Bettnässer“ sehr peinlich war, weil die anderen Kinder oft lachten und sich lustig machten.
Am Frühstückstisch stand dann für jeweils vier Kinder eine große, sehr heiße Metallkanne mit Deckel, in der sich ein roter, ungesüßter Früchtetee befand. Zu essen gab es je eine Scheibe Vollkornbrot und das absolute Highlight für Kinder: eine Grapefruit. Weshalb ich mich so genau daran erinnere? Weil es sechs Wochen lang jeden Tag genau das gleiche Frühstück gab: Jeden Tag der gleiche rote Früchtetee, jeden Tag das gleiche schwarze, trockene Vollkornbrot und jeden Tag die saure Grapefruit! Und jeden Tag dachte ich beim aufstehen mit schaudern an das baldige Frühstück, das man aufessen musste um vom Stuhl aufstehen zu dürfen. Das Brot wurde beim kauen immer mehr, konnte aber mit dem faden, ungesüßten Tee hinuntergespült werden. Deutlich schwerer viel mir das täglich mit der Grapefruit, deren sauer-bitterer Geschmack in mir großen Ekel hervorrief.
Bei den anderen Mahlzeiten der gleiche Ablauf. Meist war etwas dabei, was zumindest nicht schmeckte oder gar Ekel hervorrief. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir da ein sauer eingelegter kalter Hering in einer warmen Tomatensauce, den ich noch nicht einmal „riechen“ konnte. Aber alles jammern half nichts: Wollte ich aufstehen, musste ich den Fisch essen, was ca. 1 ½ Stunden gedauert hat, denn ich wollte mich keinesfalls übergeben.
Sämtliche Mahlzeiten mussten von uns Kindern in der Küche im Hauptgebäude abgeholt werden. Man ging dazu im Gruppenhaus zwei Etagen in den Keller, ein dunkler, schon fast unheimlicher Vorraum mit Gruselcharakter, von dem ein hell erleuchteter Tunnel abzweigte, der ins Hauptgebäude führte. Dort befand sich die Küche im Kellergeschoss. Bei der Küche angekommen, wurde das Essen vom Küchenpersonal auf einen Metallwagen gestellt, den man dann durch den muffigen Vorraum der Küche in den Keller des Gruppenhauses zurück schieben musste, um die Speisen dann in einen Speiseaufzug zu laden.
Ungefähr in der Mitte des Tunnels führte links eine Türe in einen Bäderbereich. Dort waren Badewannen untergebracht und ebenso ein Ruheraum.
Zwei bis dreimal die Woche mussten wir baden. Beim einlaufen lassen des Badewassers wurde dabei immer nur das heiße Wasser aufgedreht. Man musste sich vor der Erzieherin nackt ausziehen und in das heiße Badewasser steigen. Mir schmerzten immer sofort die Beine bei Berührung des Badewassers. Auf meine Bitte, kaltes Wasser nachlaufen lassen zu dürfen, weil das Badewasser zu heiß sei, hieß es lapidar, das gehört so und ich solle mich nicht so anstellen und ins Wasser setzen, was ich dann für jeweils ca. 20 Minuten tun musste. Zum abschrubben musste man dann aufstehen, das Wasser wurde abgelassen und man wurde minutenlang mit dem Schlauch mit eiskaltem Wasser abgeduscht.
Anschließend ging man in den angrenzenden Ruheraum in dem Redeverbot herrschte.
Die Tage verbrachten wir vormittags mit Schulunterricht, den ich als sehr interessant und aufgrund einer freundlichen Lehrerin als angenehm empfand, nachmittags mit spielen im Spielzimmer, mit Schwimmen im hauseigenen Pool oder mit Wanderungen. War die gesamte Gruppe besonders brav, durften wir sogar zwei- bis dreimal unter Aufsicht in einen Fernsehraum im Kellergeschoss, ausgestattet mit einer Wohnwand, Tisch, Ohrensessel und Fernseher um uns eine Sendung wie zum Beispiel „Verstehen Sie Spaß“ mit Kurt Felix anzusehen. Das war ein absolutes Highlight.
Im Spielzimmer gab es eine Spielecke mit Holzklötzchen. Ich fand, um mit Holzklötzchen zu spielen, wäre ich eigentlich schon zu groß. In Ermangelung anderer Dinge baute ich dennoch einen Turm aus den Klötzchen und ließ ihn anschließend umstürzen. Sofort kam eine der Tanten und ermahnte mich energisch, indem sie lautstark durch den ganzen Raum rief, ich solle die Holzklötzchen nicht umwerfen, damit sie nicht kaputt gingen.
Ich habe dann nicht mehr mit den Klötzchen gespielt.
Im selben Raum gab es eine Leseecke mit allerlei Büchern. Ich griff nach einem Buch mit schwarzem Einband. Es handelte von einem Mord (oder ähnlichem) in einem Schlachthof. Die Handlung war in schwarzen Schattenbildern schemenhaft illustriert. Ich las gebannt und schockiert vielleicht 1 Kapitel. Das genügte. Von dieser Lektüre in der Kinderbücherecke bekam ich ca. 1 Woche Albträume, in denen ich die Handlung des Buches immer wieder im Traum durchlebte.
Ich hatte fürchterliches Heimweh und zählte jeden einzelnen Tag, bis mich meine Eltern endlich wieder abholen würden.
Einziger Trost war der wöchentliche Brief an meine Eltern, den ich auf dem Zimmer schreiben durfte, aber im unverschlossenen Umschlag der Betreuerin übergeben musste. Was nicht passte, wurde von ihr passend gemacht. So hieß es zum Beispiel auch, man solle nicht schreiben, wenn man Heimweh hat, oder es einem schlecht ging, weil sich die Eltern dann schlecht fühlen würden. War man nicht artig weil man für irgendein Vergehen bestraft wurde, weil man z.B. nach dem zu Bett gehen noch mit seinem Zimmernachbar gesprochen hat, wurden einem von den Betreuerinnen häufig Schuldgefühle eingeredet. Sie sagten beispielsweise, an der nun folgenden Strafe bist du selbst schuld. Würden die Eltern davon erfahren, müssten sie sich schämen.
Ich jedenfalls hab dann lieber nichts von Strafen in meinen Briefen erwähnt.
Manchmal waren der Antwort unserer Eltern auf unsere Schreiben auch Süßigkeiten beigepackt, die aber von den Betreuerinnen nicht an die adressierten Kinder weitergegeben wurden, sondern unter allen Kindern aufgeteilt wurden.
Ich erinnere mich an ein seltsames Gespräch mit Marco, denn mir war aufgefallen, dass er nachts immer mal wieder aus unserem Zimmer verschwunden war und erst am frühen Morgen wiederkehrte. Auf meine Frage, wo er denn immer sei, antwortete er lapidar, wenn er „zu laut“ war, durfte er im Erd- oder Kellergeschoss in einem Zimmer mit einem großen Bett schlafen. Dieses Zimmer habe ich nie gesehen. Ich weiß nicht, ob Marco tatsächlich in dem besagten Zimmer war, oder ob er eine Geschichte erfand, um mir nicht sagen zu müssen, dass er des Nachts bestraft wurde, zumal Marco nie „zu laut“ war. Der Gedanke an eine Existenz dieses Schlafzimmers treibt mir allerdings noch heute das Schaudern über den Rücken.
Ähnliches, was Marco erlebte, sollte allerdings auch mir widerfahren.
Einmal bis zweimal jede Woche lief die gesamte Gruppe mit zwei Betreuerinnen von Bühl nach Immenstadt. Die ca. 2 Kilometer lange Strecke verlief entlang einer Eisenbahntrasse. War man die Woche über brav (und auch nur dann), bekam man einmal in der Woche das von den Eltern zur Verfügung gestellte Taschengeld (entweder 2 DM oder 5 DM) ausbezahlt und konnte sich im Beisein der Tanten etwas kaufen.
Der Weg führte uns am Ortsausgang von Bühl an einer Telefonzelle vorbei. Nach etwa drei Wochen Aufenthalt in Bühl kam ich auf die Idee, die Gelegenheit zu ergreifen um meine Eltern zuhause anzurufen, was ja verboten war. Ich bekam also mein Taschengeld ausgehändigt, die Gruppe lief los in Richtung Immenstadt und ich lies mich immer weiter zurückfallen und schlich mich in einem unbeobachteten Moment in die Telefonzelle und rief meine Eltern an. Das Telefonat hat allerdings nur etwa 2 Minuten gedauert, denn es fiel auf, dass ich verschwunden war. Ich wurde beim telefonieren entdeckt und aufgefordert, das Gespräch sofort zu beenden.
In der darauffolgenden Nacht stürmte eine Nachtschwester ins Zimmer, Marco und ich lagen bereits in den Betten. Sie kam auf mein Bett zu, griff fest mein linkes Handgelenk, zerrte mich aus dem Bett und hinter sich her aus dem Zimmer hinaus. Mein erster Gedanke war: Die Tante ist echt gemein, ich hab doch nichts getan. Ich war total erschrocken und hatte fürchterliche Angst. Sie zog mich über den Flur die Treppe hinunter und ich versuchte barfuß mit ihren Schritten mithalten zu können. Ich weiß noch wie ich dachte, vielleicht müsse ich nun auch in diesem Schlafzimmer mit dem großen Bett übernachten, von dem Marco berichtete. Ich war zuerst verblüfft, als der Weg uns nicht in ein Schlafzimmer sondern nur in das Foyer im Erdgeschoss führte. Heute bin ich froh, nicht in dieses Zimmer gebracht worden zu sein, sollte es tatsächlich existiert haben. Mir wurde dadurch eventuell viel erspart. Im Foyer angekommen stellte sie mich in eine Nische an der Treppe und sagte zu mir, ich sei an allem schuld und dürfe mich deshalb nicht bewegen, müsse an genau der Stelle stehen bleiben und dürfe nicht einschlafen bis sie wieder käme, sonst würde alles noch viel schlimmer werden. Auf meine Frage, was ich denn getan hätte, sagte sie harsch, ich solle meinen Mund halten und keinen Mucks von mir geben. Da stand ich nun also, barfuß und im Pyjama auf dem eiskalten Pflaster im zugigen Foyer, fror fürchterlich und fühlte mich sehr gedemütigt und alleingelassen. Schon allein im Pyjama im Foyer zu stehen, war mir sehr peinlich. Ich hoffte, in wenigen Minuten wieder abgeholt und ins Bett gebracht zu werden, denn ich hatte meine Lektion gelernt – wenn ich auch nicht wusste, weshalb mir diese „Sonderzuneigung“ zuteil wurde.
Ich stand dann also bewegungslos auf meinem Platz, zitterte und harrte der Dinge die kommen sollten. Und sie kamen: Es gingen immer wieder Leute die ich niemals vorher gesehen hatte durch den Raum und musterten mich von Kopf bis Fuß. Sie sprachen mich nicht an, oder halfen mir gar -nein, sie ergötzten sich buchstäblich an diesem 10 jährigen Jungen, der barfuß im Schlafanzug dastand und genossen ihre „Macht“ über dieses Kind. Zum Weinen brachten sie mich allerdings nicht!
Das böse Spiel ging die ganze Nacht so weiter, bis zum Morgengrauen. Ich stand also mindestens sieben Stunden in der Nische!
Danach wurde ich geholt und konnte mich nochmals kurz ins Bett legen bevor wir dann geweckt wurden.
Doch damit war diese schreckliche Erfahrung leider noch nicht beendet: Zwei bis drei Tage nach diesem Vorfall wurde ich morgens wach mit hohem Fieber und starkem Schwindel. Ich stand auf, alles drehte sich um mich und ich sah den Fußoden wie „schräg aufgestellt“ und bekam schlecht Luft. Ich taumelte ins Bad, machte meine Morgenhygiene und ging anschließend zum Frühstück. In meiner Erinnerung höre ich noch heute einen Jungen am Frühstückstisch zu mir sagen „Jürgen, Du wirst uns doch nicht krank werden“. Kaum hatte er dies gesprochen, landete ich mit dem Gesicht ohnmächtig im Teller. Wieder zu mir gekommen „durfte“ ich aufstehen und wurde ins Bett gebracht und von den anderen Kindern isoliert.
Mir ging es schlecht, ich hatte hohes Fieber, konnte kaum schlucken, und schwitzte so sehr, dass mein Schlafanzug mehrmals am Tag komplett durchnässt war. Selten kam jemand, um nach mir zu sehen; einmal am Tag kam eine der Tanten, um den Pyjama zu wechseln. Die Bettwäsche wurde allerdings nicht gewechselt.
Zu Essen bekam ich in dieser Zeit einen sauren Apfel täglich. Nachts hatte ich Alpträume, wurde wach und halluzinierte.
Ein Arzt hat mich während dieser Zeit nicht untersucht. Die Untersuchung erfolgte durch die Tanten, die der Meinung waren, ich sei sowieso an allem selbst schuld und ich hätte sicherlich nur eine Angina. Wenn ich mich nicht ruhig verhalten würde, brächten sie mich in die Krankenstation, auf der es noch wesentlich schlimmer sei. Ich war den ganzen Tag auf meinem Zimmer alleine, nur kurz konnten mir die anderen Kinder von ihren Ausflügen berichten.
Ich bettelte, meine Eltern anrufen zu dürfen, was aber sofort abgewiegelt wurde. Im folgenden Brief an meine Eltern schrieb ich dann mit Unterstützung der Tante folgende Krankengeschichte: „Liebe Mutter, lieber Vater, mir geht es leider zur Zeit nicht so ganz gut, wie sonst. Aber macht Euch keine Sorgen. Am Sonntag, 9.6.1985 hat man mir Fieber gemessen. Aber ich habe nur eine leicht erhöhte Temperatur gehabt. Wie geht es Euch?“
Nach etwa eineinhalb Wochen ging es mir dann endlich wieder besser und ich war froh, dieses Martyrium nun bald überstanden zu haben.
Davor jedoch war da noch die Sache mit dem „Mohrenkopf“ (für alle die meinen, ich würden den Begriff rassistisch verwenden – nein, so ist es nicht gemeint, man nannte das nur damals so). Eines Abends vor dem zu Bett gehen versammelte eine Betreuerin uns, zeigte auf den Kühlschrank in der Teeküche, die jede Wohnetage hatte und sagte: In diesen Kühlschrank hätte sie einen „Mohrenkopf“ getan. Sollte dieser „Mohrenkopf“ am folgenden Tag fehlen, so würde sie die gesamte Gruppe bestrafen. Nun ja, am folgenden Tag fehlte ach Wunder der Schaumkuss und wir bekamen zur Strafe alle Fernsehverbot und mussten früher ins Bett.
Ich fand das ziemlich ungerecht, hatte ich diesen Schaumkuss noch nicht einmal gesehen. Heute bin ich mir nicht einmal sicher, ob es ihn je gab, denn das Vorhandensein derartiger Freuden war dort nicht üblich.
Kurz vor dem Ende meiner Kur machte ich Bekanntschaft mit einer der niederträchtigsten Kriegslisten, die bereits von alten Zeiten her bekannt ist: Die Burg ist belagert, die Einwohner der Burg sind ausgehungert und die Belagerer schicken leckere Essensdüfte, um die belagerten zu demoralisieren.
Im speziellen Fall „durfte“ ich, der sechs Wochen lang überwiegend nur trockenes Vollkornbrot mit Grapefruit zu essen bekommen hat, einen Botengang erledigen.
Man drückte mir einen frischgebackenen, noch warmen Nusskuchen mit Schokoladenglasur in die Hand, mit der Anweisung diesen nach unten in das schon erwähnte Kellergeschoss zu tragen und von dort durch den Tunnel ins Hauptgebäude zu gehen. Ich sollte den Kuchen dann in der 4. Etage abgeben.
Ich ging also wie mir befohlen, der Weg wurde lang und länger, duftete der Kuchen doch so verführerisch. Am liebsten hätte ich mir direkt eine Ecke abgebrochen und gegessen, wusste aber um die Strafe, die folgen würde, wenn ich es tat.
Ich brachte also den Kuchen unversehrt in die 4. Etage und klopfte an die verschlossene Tür. Es wurde geöffnet , der Kuchen wurde mir abgenommen und ich weggeschickt.
Ich hatte in meinem ganzen Leben nie mehr einen so köstlichen Kuchen in Händen.
Am Tag darauf wurden wir frühmorgens alle zur Abholung in einen Raum im Hauptgebäude gebracht, wo wir dann ohne eine Betreuerin auf uns selbst gestellt auf unsere Eltern warteten. Was ich erst viele Jahre später erfuhr: Da unsere Eltern erst auf 11 Uhr bestellt wurden, mussten wir 3 Stunden warten, bis unsere Eltern da waren.
Ich kann mich noch gut an meine Gedanken damals erinnern: Je länger ich in dem Raum saß und meine Eltern nicht kamen, je größer wurde mein Zweifel, überhaupt abgeholt zu werden. Als meine Eltern dann endlich eintrafen, war ich fix und fertig.
Meine Eltern holten mich ab und fuhren mit mir nach Hause. Bis zum Tod meiner Eltern habe ich mit ihnen nie näher über den Aufenthalt im Kurheim St. Michael gesprochen. Auch habe ich mich nie wieder in eine Kinderkur „verschicken“ lassen.
Fazit:
Für manche Erwachsene scheint es ein echtes Hochgefühl zu sein, kleine Kinder zu drangsalieren, zu demütigen und körperliche Schäden zuzufügen. Denn nur dann fühlen sie sich groß und stark.
Ja, ich habe diese 6 Wochen Martyrium und Hoffnungslosigkeit überstanden und ja, es hat mich verändert. Ich habe seither keinerlei Vertrauen mehr zu Institutionen aller Art in ihrem Umgang mit Menschen. Ich glaube erst, wenn ich sehe. Dank der Nacht im Foyer verschlimmerte sich meine Bronchitis und wurde chronisch. Der Zustand hat sich erst in den letzten Jahren gebessert. Dank der Demütigungen hat es viele Jahre gedauert, überhaupt wieder Vertrauen zu Menschen fassen zu können. Und es hat volle 30 Jahre gedauert, bis ich es mir wieder erlauben konnte, zu weinen.
Es war jedoch auch nicht alles schlecht in dieser Zeit. Ich wurde durch diese Erfahrung sehr selbstbewusst. Es waren die kleinen Dinge, die mir Hoffnung gaben, in einer vermeintlich ausweglosen Situation: Es waren die schönen Gespräche mit den anderen Kindern – wenn auch immer nur kurz,
Es war der Spielzeugwarenhändler in Immenstadt, der mir mangels Geld das begehrte Kartenspiel geschenkt hat.
Es waren die Momente, in denen ich fernsehen durfte und mich so für den Moment aus dem Heim träumte.
An eine ärztliche Untersuchung zu Beginn und Ende der Kur kann ich mich bis heute nicht erinnern. Auch zu einem notwendigen Arztzimmer fehlt jede Erinnerung.
Abschließend möchte ich mich noch an die Betreuerin wenden -sollte sie noch in der Lage sein, es zu lesen- , die mich damals aus dem Bett zerrte und mich auf das kalte Pflaster stellte:
Ich hege keinerlei Groll gegen Sie, habe aber dennoch folgende Fragen:
WARUM haben Sie mir das damals angetan?
WARUM haben Sie einen Beruf ergriffen, der Ihnen offensichtlich nicht lag und Sie überforderte?
WARUM fehlte es Ihnen grundsätzlich an Menschlichkeit?
Im Gegensatz zu mir damals haben Sie von mir nichts zu befürchten: Ihre Antwort können Sie anonym im Portal hochladen.
Es würde mir viel bedeuten.
Meinen Eltern gebe ich an den Geschehnissen keinerlei Schuld oder Mitschuld. Sie wussten schlicht nicht, was im Kinderkurheim St. Michael in Bühl bei Immenstadt vor sich ging. Kinder für mehrere Wochen vom Elternhaus getrennt in ein Heim zu „verschicken“, war bis in die 80er Jahre vollkommen normal.
Auch bin ich mir sicher, dass es Kinder gab, die solche Erfahrungen glücklicherweise nicht machen mussten und eine schöne Kurzeit hatten. Und wie heißt es so schön, Ausnahmen bestätigen die Regel.
Ich frage mich nur, waren die Übergriffe auf Kinder nun die Ausnahme oder die Regel? Die Berichte anderer Verschickungskinder lassen hier tief blicken.
Jürgen S.

Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja
Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
für den Rest des gesamten Lebens.
Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!