Verstecktes Leid 15.8.19
PRESSEMITTEILUNG, 15. August 2019
Projekt „Verschickungskinder“
(Berlin, 15. August 2019)
Ein Pionierprojekt will ein verdrängtes Kapitel der Nachkriegsgeschichte aufarbeiten: Das versteckte Leid von Millionen Kindern in Kurheimen.
Sie sollten aufgepäppelt werden, an der frischen Luft zu Kräften kommen: Das war das Ziel der Verschickung von Millionen Kindern in Kurheime. Dort begegneten ihnen menschliche Kälte und schwarze Pädagogik. „Das waren die schlimmsten Wochen meines Lebens“, erklären viele Ehemalige. Aufgearbeitet wurden die Zustände dieser Einrichtungen noch nie.
Mit dem Projekt „Verschickungskinder“ will die Berliner Autorin und Pädagogin Anja Röhl das jetzt ändern. Sie selber war 1960 und 1963, im Alter von fünf und acht, in Kindererholungsheime verschickt worden, und hatte das Erlebte auf ihrer Website geschildert. Darauf meldeten sich hunderte Ehemaliger mit ähnlichen Erfahrungen. Viele berichten davon, wie sie verstört, abmagert und verängstigt aus den Heimen zurückkehrten, von Folgeschäden wie Stottern, Verstummen, Essstörungen, Ängsten, Erkrankungen und Leistungsabfall in der Schule. „Weil das Echo derart überwältigend war“, so Röhl, „habe ich die Initiative ´Verschickungskinder´ ins Leben gerufen. Es geht hier um Pionierarbeit, der Bedarf nach Austausch ist riesig.“
Experten zufolge existierten 1963 in der Bundesrepublik rund 839 Kinderkurkliniken mit einer Kapazität von 56.608 Betten. Sie wurden ganzjährig im 6-Wochenrhythmus belegt. Mindestens vier, eventuell bis zu acht Millionen Kinder waren betroffen. Die meisten der Heime lagen an Nordsee und Ostsee, im Schwarzwald oder im Harz. Oft wurden schon Kleinkinder allein verschickt.
Das Projekt „Verschickungskinder“ hat damit begonnen, Ehemalige im Internet miteinander zu vernetzen und organisiert vom 21. bis 24. November 2019 in Westerland auf der Insel Sylt den bundesweit ersten Kongress zum Thema. Unterstützung erfährt das Projekt von der Sylter Insel-Verwaltung. Die Initiatorin arbeitet zudem an einem Buch, das wissenschaftlich begleitet wird und die Öffentlichkeit über die damaligen Zustände der Heime und deren Folgen informieren und aufrütteln soll. An dem Buch arbeitet der Künstler Jari Banas aus Krefeld mit, der in eindrucksvollen Zeichnungen das Leid der Verschickungskinder festhält. Seine Zeichnungen dokumentieren die Erlebnisse der Betroffenen nicht nur, sondern arbeiten in kleinen Bild-Geschichten etwas Eigenes heraus, etwas Widerständiges, das er in die Verzweiflungsreaktionen der Kinder legt und womit er den Charakter der Solidarität betont, der in dieser späten Veröffentlichung all dieser Erinnerungen zum Ausdruck kommt.
„Viele Ehemalige vergleichen ihre Heimwochen mit Gefängnisaufenthalten“, sagt Röhl, „und die Kinder wussten nicht, wofür sie ´bestraft´ wurden.“ „Zurück kamen traumatisierte Kinder. Die Folgen wirkten oft auf das weitere Leben ein“. Heimpersonal stammte häufig noch aus der NS-Zeit oder war mit dessen Ideologie groß geworden. „Es ist höchste Zeit“, sagt Röhl, „dass nach den gesellschaftlichen Debatten über Missstände in Erziehungsheimen und Internaten auch das versteckte und massenhafte Leid in den Kindererholungsheimen und Kinderkurkliniken ans Licht kommt.“ Es gibt dazu bisher keinerlei Forschungen.
Die „Initiative Verschickungskinder“ fordert nun als erstes ehemalige Kurkinder auf, ihre Erfahrungen zu teilen.
Unter dem link:
https://verschickungsheime.org/zeugnis-ablegen/
Außerdem lädt die „Initiative Verschickungskinder“ am 7.9.19 zu einem Treffen ins Berliner Sekis e.V. ein: 12 Uhr, Sekis e.V., Bismarckstraße 101, 10625 Berlin. Das Treffen ist offen für alle Interessierten und Betroffenen von Kinderverschickung in Kindererholungsheimen und Kinderkurkliniken.
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Ansprechpartner für die Presse:
Anja Röhl. Email: presse@verschickungsheime.de, Website: www.verschickungsheime.org