Kongress in Bad Salzdetfurth – Nachlese

Vom 16.-19. November 2023 hat der Kongress “Aufarbeitung Kinderverschickung” in der IGS Bad Salzdetfurth erfolgreich stattgefunden.
Die über 80 ehemaligen Verschickungskinder und Interessierten hatten intensive Eindrücke und Begegnungen in diesen vier Tagen. Unser Dank geht an die ehemaligen Verschickungskinder von Bad Salzdetfurth, die überaus offen und berührend ihre Leiden geschildert, eine ganz tolle Doku und eine Ausstellung mit 17 Tafeln und einem großen Plakat erstellt haben, unser Dank geht an die über ein Jahr tätige Orgagruppe, an Birgit und ihre Ausstellung mit sorgfältig ausgesuchten Asservaten der Verschickung, unser Dank geht an alle Mitwirkenden, alle Referenten und den Künstler Silas Degen, an die Fotografin Katrin Raabe und die Filmdokumentaristin Linda Ludwig, an Frau Milbrod-Jakob, die Direktorin der örtlichen IGS, die den Veranstaltungsort zur Verfügung gestellt und auch mit Schülerprojekten verbunden hat und den Elternförderverein, der das Catering übernahm. Zum Abschluss wurde vom Bürgermeister von Bad Salzdetfurth und Herrn Lehmann, Vorstand Diakonie Niedersachsen, zugesichert, dass es im Frühjahr 2024 eine Gedenkstele, voraussichtlich im Kurpark, für die Verschickungskinder geben wird.
Hier ein kurzer filmischer Einblick (Danke an: Linda Ludwig (Filmrechte):

Schweigeminute für die in der Kinderheilstätte verstorbenen Kinder von Bad Salzdetfurth

Fotos: Katrin Raabe: Sabine Schwemm: HOK für Bad Salzdetfurth

Am Anfang des Kongresses stand eine Schweigeminute zum Gedenken an den 7-jährigen Stefan, die 6-jährige Kirsten und den fast 4-jährigen André, die im Jahr 1969 in Bad Salzdetfurth auf Grund der Missstände der Kurverschickungen ihr Leben verloren. Der Bericht von Sabine Schwemm und der Salzdetfurther Heimortgruppe löste bei vielen, zum Teil selbst ins “Waldhaus” verschickten Kongressteilnehmenden starke Gefühle aus.

Belege für weitere Todesfälle in der Verschickung

Die Journalistin und Autorin Lena Gilhaus las auf dem Kongress aus ihrem im Juli im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienenen Buch “Verschickungskinder – eine verdrängte Geschichte”. In einer fast zweijährigen Recherche hat sie zahlreiche neue Aktenfunde in einen eindrucksvollen Text verarbeitet, der gerahmt ist vom Bericht über eine Reise, die sie mit ihrem Vater und ihrer Tante unternahm – beide als Kinder nach Sylt verschickt. Unter anderen konnte Lena Gilhaus Belege für mindestens 20 (!) im Rahmen der Verschickungskur zu Tode gekommene Kinder vorlegen. Deutlich wurde dabei: Bisher sind wirkliche Fortschritte bei der Aufklärung der damaligen Geschehnisse in allererster Linie durch die Forschungen der Initiative selbst, u.a. die Bücher von Anja Röhl, und durch die Arbeiten von engagierten Autorinnen wie Lena Gilhaus erreicht worden.

Kongressthemen im Überblick

Foto: Katrin Raabe: Jörg Maywald als Referent und als Verschickungskind

Prof. Jörg Maywald von der Hochschule Potsdam schilderte den langen Weg zur umfassenden Durchsetzung von Kinderrechten, der noch lange nicht zu Ende ist. Wichtig dabei: An Institutionen für Kinder müssen höhere Maßstäbe angelegt werden als an Eltern, denen immer nur das ihnen Mögliche abverlangt werden kann. Prof. Ilona Yim von der University of California Irvine gab einen Einblick in ihre laufenden Forschungen zu langfristigen Folgen des Traumas Kinderkur, wofür auch noch weitere Teilnehmende gesucht werden. Die Ergebnisse zeigen eindeutig, dass ehemalige Verschickungskinder in Relation zu einer nicht verschickten Vergleichsgruppe deutlich mehr mit Depressionen, Bindungsstörungen und anderen körperlichen und seelischen Belastungen zu kämpfen haben.  Spannende Forschungsberichte aus den Landesvereinen stellten Rechercheergebnisse zu einzelnen Heimen, Trägern und dem eigenen Aufbau von Datenbanken vor. Sehr viel Aufmerksamkeit bekam der Vortrag von Doris Heinrich über ihre jahrelangen Recherchen zum Schloss Friedenweiler, und den katholischen Blick auf eine Erziehung zur Disziplin vor, in dessen Verlauf sie auch mit ehemaligen Mitarbeitern Interviews machen konnte. Engelbert Tacke referierte über seine Studien zur Verschickungspraxis der Barmer Ersatzkasse, und Angelika Oetken vom Betroffenenbeirat sexueller Missbrauch gab Tipps zum Umgang mit dem Vorwurf von „false memory“, wo es um das Anzweifeln der Glaubwürdigkeit von Betroffenenberichten geht. Prof. Hans Walter Schmuhl gab einen Ausblick, in welche Richtungen noch weiter dringender Forschungsbedarf besteht. Prof. Thomas Beddies, stellvertretender Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin der Charité / Humboldt Universität Berlin schlug den Bogen zur Geschichte der Pädiatrie. Prof. Dr. Johannes Richter aus Hamburg stellte den Abschluss der Hamburger Studie mit einem riesigen Aktenfund und zwanzig leitfadengestützten Interviews vor und die Historikerin Barbara Degen berichtete vom Sterben von Säuglingen in Bethel.

Dazu gab es künstlerische Beiträge: Das noch druckfrische Buch des Zeichners Jari Banas wurde vorgestellt, der in Hundert Comic-Zeichnungen die magische Angstwelt der Verschickungskinder empathisch eingefangen hat, der neue Dokumentarfilm “Heimgesucht” von Silas Degen und sein szenisches Hörspiel: Der Plumpsack geht um, wurden uraufgeführt.

Der im Juni 2023 neue gegründete Bundesverein Initiative Verschickungskinder e.V. stellte sich vor: Vorstand, Aufgaben und Ziele. Über weitere Mitglieder, auch gern aktiv Interessierte freut sich der Vorstand. Mehr dazu finden sie hier: https://verschickungsheime.de/verein/

PRESSESCHAU auf PPP

PRESSESCHAU zum KONGRESS

FOTOSTRECKE von Katrin Raabe, DANKE!

Artikel zum Kongress mit besonderer Heraushebung des szenischen Hörspiels von Silas Degen

VORTRÄGE 2023 auf dem Kongress: Aufarbeitung Kinderverschickungen:

Anja Röhl zur Begrüßung:
Foto: Katrin Raabe: Anja Röhl

ANJA RÖHL: Begrüßungsrede

ENGELBERT TACKE: PPP zur NS-Geschichte der Barmer Ersatzkasse

JÖRG MAYWALD: Zur Geschichte des Züchtigungsrechts

HANS WALTER SCHMUHL: Wie kann es mit der Forschung weitergehen?

Einstellung weiterer Vorträge erfolgt sukkzessive

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