Offener Brief an den SPD-Parteitag – an Olaf Scholz
Lieber Olaf Scholz
Eben habe ich gelesen: Sie sind in Hamburg zur Schule gegangen, wie ich, sie sind Schulsprecher gewesen in Hamburg, wie auch ich.
1960 bin ich als Fünfjährige von Hamburg aus in das Kindererholungsheim der Ballinstiftin in Wyk auf Föhr verschickt worden, allein, sechs Wochen ohne Eltern, unter lebensverletzenden Bedingungen. Später bin ich ein zweites Mal verschickt worden, nach Berlebeck, gegen meinen erklärten Willen, mit noch schlimmeren Folgen für mein weiteres Leben.
Seit 2004 recherchiere ich über diese besondere Form von Kindesdemütigung und Kindesverletzung, im Namen der Medizin und der Gesundheit. Ich bekam heraus, dass bis in die 90er Jahre, ca.12 Millionen Kinder ab 1950 “verschickt” wurden, ich legte ein Portal an und entwickelte einen Fragebogen, den inzwischen etwa 15.000 Überlebende dieser Gesundheits-Erholungsfahrten ausgefüllt haben.
Ab 2019 initiiertte ich einen Fach-Kongress zu diesem Thema mit je 100 Teilnehmenden, gründete den gemeinnützigen Verein: Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V., der als wissenschaftlicher Begleitverein der bundesweiten „Initiative Verschickungskinder e.V.“ fungiert und die Bürgerforschung anleitet.
Ergebnis unserer Forschungen, die im Jahre 2019 den öffentlichen Diskurs zu diesem Thema einleiteten:
Millionen noch oft sehr kleiner Kinder, Vorschul- und Schulkinder wurden mit damals zT fragwürdigen ärztlichen Diagnosen, in den 50 – 80er Jahren, allein, ohne Eltern für 6 Wochen in Kinder-Kur-Einrichtungen verschickt, die 6-Wochen zur „Erholung“, „Aufpäppelung“ und „Gesundung“ anboten. (Kindererholungsheime, Kinderheilstätten, Kinderkureinrichtungen). In diesen Institutionen waren Elternbesuche ausdrücklich verboten, es herrschte eine strenge Briefzensur. Es wurden dort illegale Medikamentenversuche durchgeführt (u.a. mit Contagan), Operationen und andere ärztliche Eingriffe, wurden, ohne die Eltern zu informieren, vorgenommen, zT an ganzen Gruppen, es wurden Kinder sediert, damit sie besser einzugliedern waren, es wurden Kleinkinder oft viele Monate verlängert, da sie nicht reisefähig waren, es sind Todesfälle und sexueller Missbrauch vorgekommen.
Die Aufenthalte wurden von den Kassen bezahlt, die wiederum dafür Zuschüsse vom Bund erhielten. Viele heute ältere Menschen erinnern diese Verschickungen extrem traumatisch. Auch für damalige Verhältnisse, wie wir inzwischen durch ehemalige Mitarbeiter und Eltern wissen, war der Umgang des Personals mit den Kindern nicht kindgerecht, sondern diese Kinder lebenslang schädigend.
Die Einrichtungen wurden i.d.R. von Ärzten oder Schwestern geleitet, und galten als pflegerische, nicht pädagogische Einrichtungen. Gesundheitsämter „musterten“ die Kinder bei Schuleingangs-untersuchungen „durch“, sogenannte „Entsendestellen“ waren vertraglich an die Kindererholungsstätten gebunden und mussten verabredete Kinderkontingente schicken, für die es Sonderzüge gab. Im Jahre 1976 wurden, wie wir ermittelten, zb 350.000 Kinder mit solchen Sonderzügen in an der See, im Mittel- und Hochgebirge gelegenen Erholungsorte transportiert. Das Begleitpersonal bestand aus 5-8 Fürsorgerinnen pro Zug mit 80-200 Kindern.
Seid 2019 versuchen wir vergeblich, uns für eine Unterstützung für unsere Beratungs- und Dokumentationsarbeit von zehntausenden von Betroffenen bei der Politik Gehör zu verschaffen. Wir möchten Sie hiermit innig auffordern, dieses Thema in ihr Bundesprogramm mit wenigstens einem Satz aufzunehmen, der da lauten könnte:
“Die SPD wird sich dafür einsetzen, dass das Thema “Gewalt in Institutionen der Kinderverschickungen in den 50-80er Jahren” aufgearbeitet wird und dafür die Bürgerforschung der Betroffenen großzügig unterstützt wird, es benötigt u.a. eine bundesweite Anlaufstelle, an die ein Dokumentationszentrum angeschlossen wird, die SPD wird hierzu eine Anschub-Summe von 3 Millionen zur Verfügung stellen”
Wir waren zu diesem Thema schon im vorigen jahr im Bundesfamilienausschuss und haben dazu schon intensive Gespräche mit MdB, Frau Bahr, Frau Breymaier, und Herrn Schwartze geführt.
Wir würden uns sehr freuen, wenn auch Sie unser Anliegen unterstützen könnten.
Vielen Dank im Voraus für Ihr Engagement!
Mit herzlichen Grüßen
Anja Röhl
für den Wissenschafts-Verein: “Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e.V.”
Unsere Referenzen: www.verschickungsheime.de