Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime
Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987
Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.
Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.
Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.
Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.
50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100: Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)
Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.
Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.
Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.
Hier mein Bericht:
Ich wurde auf Empfehlung unseres Hausarztes, bei dem wiederum explizit meine Mutter diesbezüglich nachgefragt hatte, in Kinderkur geschickt. Ich war damals sehr infektanfällig (Bronchitis) und angeblich zu dünn. Den Namen des Kurheimes habe ich vergessen. Vor einigen Jahren jedoch bei einem Besuch in Bad Dürrheim das historische Gebäude wiedererkannt. Es beherbergt heute ein Wellnesshotel(!).
Das Regiment in dem Heim führten Nonnen oder Diakonissen. Unter dieser Führung hatten auch die weltlichen Bediensteten, die „Tanten“ zu leiden.
Einmal habe ich mich beim Essen übergeben, da mich der Geruch, der Geschmack und die Konsistenz des Essens regelrecht anekelten. Ein Teil der „K….“ landete auf dem Teller. Ich wurde gezwungen meinen Teller leer zu essen. Anfangs weigerte ich mich, woraufhin ich mich in eine dunkle Ecke des inzwischen leeren riesigen Speisesaals setzen musste und diesen Saal erst verlassen durfte, als mein Teller leer gegessen war.
Wir schliefen in riesigen Schlafsälen und mussten Mittagsruhe halten. Damals war ich sehr lebhaft, habe nicht geschlafen und mich mit meinen Bettnachbarinnen unterhalten, dadurch war die Mittagsruhe gestört. Eine Schwester hat mich, an Armen und Beinen ans Gitterbett gefesselt und total – auch das Gesicht – zugedeckt. Ich schlief tatsächlich ein, erwachte plötzlich schweißgebadet, bekam keine Luft, konnte wegen der Fesselung die Bettdecke nicht beiseiteschieben und hatte buchstäblich Todesangst, da ich glaubte ersticken zu müssen. Eine weltliche „Tante“ – während meines Aufenthaltes öfters mein rettender Engel – befreite mich, regte sich furchtbar auf und stellte die Schwester zu Rede. Was dazu führte, dass sie von der Schwester heruntergeputzt wurde und eine Rüge erhielt, warum sie sich in Erziehungsmaßnahmen einmische. So bekam ich es jedenfalls mit.
In Erinnerung habe ich auch noch, dass ich eines Tages zur Schwester Oberin ins Büro zitiert und zur Rede gestellt wurde. An mich war ein Päckchen mit Süßigkeiten von meinen Eltern eingetroffen. Mir wurde vorgehalten, dass das Essen im Heim sehr gut und ausreichend sei, was ich – unter Druck – bestätigen musste. Schließlich wurde mit erlaubt, mir ein kleines Stück von den Süßigkeiten aus dem Päckchen auszusuchen. Ich nahm mir ein Waffelröllchen mit Schokoladenende. Das weiß ich noch heute, so hat sich die Szene bei mir eingebrannt. Ich durfte dann das Büro der Schwester Oberin verlassen, mit dem Hinweis, dass ich das Päckchen mit Inhalt am Tage meiner Heimreise mitnehmen darf. Müßig hier zu erwähnen, dass ich die Süßigkeiten nie wieder sah.
Während meines 6-wöchigen Aufenthalts in dem Kurheim kam es zu einem heftigen Ausbruch von Windpocken; ich bekam sie auch. Auf der Krankenstation wurde ich von weltlichen Tanten sehr gut umsorgt und genoss die Zeit einem 4-Bettzimmer.
Ich habe versucht, mich in den 6 Wochen meines Aufenthaltes immer mehr anzupassen, zu essen, mittags zu schlafen (jedenfalls so zu tun) und mich auf die Zugfahrt nach Hause zu freuen.
Es gäbe noch mehr zu erzählen, durch die Berichte im Internet fällt mir ständig wieder etwas ein.
Aber auch Positives gibt es zu berichten! Bei den weltlichen Tanten gab es sehr menschliche empathische Frauen, die zum Teil auch noch sehr jung waren, aber auch sehr unter dem strengen Regiment der Schwestern zu leiden hatten.
Von meinen Erlebnissen konnte ich damals niemanden erzählen. Bei späteren Erwähnungen wurde diese Erzählungen von meinen unmittelbaren Verwanden und Bekannten als Phantasien abgetan. Unmittelbar nach meiner „Kur“ fragte mich niemand danach.

Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja
Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
für den Rest des gesamten Lebens.
Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!