Positive Erinnerungen an Kindererholungsheime, Kinderheilstätten und Kinderkurheime

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Titelbild Elternratgeber: Mit Kindern an die See, 1987

Als wir begannen, uns dem Thema der traumatischen Erinnerungen von Verschickungskindern zu nähern, waren wir erstaunt über die zahllosen, überaus detaillierten Berichte von angsterfüllten Verschickungsaufenthalten und erlebter Gewalt. Kinder, meist unter 6 Jahren, wurden zu Hunderten allein, ohne ihre Eltern, über 6 Wochen, zwischen 1946 und 1990, in weit entfernt liegende Kindererholungsheimen und -Heilstätten aller Bundesländer verbracht.

Erlebnisschilderungen darüber wurden uns ungefragt zugesandt und sammeln sich seither öffentlich auf unserer Webseite in unserem Gästebuch, 2776 (am 27.5.25) und anonym in einem Fragebogen, wo es schon weit über 15.000 sind, die ihre Geschichte unserer selbstbestimmten Forschung zur Verfügung gestellt haben. Wir zensieren nicht, wir kürzen nicht, wir schalten nur frei und sammeln. Es sind Erinnerungs-Schilderungen von Demütigungen, körperlicher, seelischer und sexueller Gewalt und starken Angsterlebens. Diese Berichte sind zumeist von Menschen, die zum ersten Mal mit unserer Initiative in Kontakt kommen und erfahren, dass sie mit ihren schmerzlichen Erfahrungen nicht allein sind, sondern Teil einer sehr großen Gemeinschaft von Betroffenen. Oft ist dann der erste Impuls, das selbst Erlebte aufzuschreiben, Zeugnis zu geben. Es ist seit dem Beginn unserer Initiative immer deutlicher geworden, dass die Kinderverschickung System hatte und dass in ihr eine „Subkultur der Gewalt“ (Hans Walter Schmuhl (2023): Kur oder Verschickung: Die Kinderkuren der DAK zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Dölling und Galitz, München, S. 249) herrschte. Alle bisherigen wissenschaftlichen Studien bestätigen, dass es im Rahmen der Kinderkuren, systemische Gewaltbedingungen gab.

Natürlich waren die Kinderverschickungen nicht für alle Kinder und während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts eine traumatische Erfahrung. Gerade ältere Kinder ab zehn Jahren haben auch positive Erinnerungen an die Aufenthalte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war schon manchmal das reichliche Essen für unterernährte Kinder aus den zerbombten Städten ein Anlass für große Freude. Auch jüngere Kinder und Kinder in den 1950-er bis 1980-er Jahren erinnern sich oftmals positiv an Sommer und Strand, Wald und Berge, Festlichkeiten, Aufführungen oder gemeinschaftliche Aktivitäten wie Singen, Spielen und Wandern. Trotzdem gibt es auch bei positiven Erinnerungen oft zusätzliche an Angst- und Gewaltsituationen. Auch Menschen mit positiven Erinnerungen schreiben uns. Aber es sind viel viel weniger positive Erinnerungen, die sich öffentlich bemerkbar machen.

Wir wollen einen umfassenden Einblick in das Geschehen während der Verschickungen erhalten. Dafür sind auch positive Erinnerungen wichtig. Denn oft können sie zeigen, durch welche Zufälle Kinder widerstandsfähiger und resilienter gegen die negativen Erfahrungen wappnen konnten und dadurch manchmal weniger durch die traumatischen Erlebnisse Schaden nahmen. Manche von uns haben gemischte Erinnerungen, erinnern sich also an Schmerzliches, aber auch an Vieles, was sie als neutral, normal oder auch schön empfanden.

50 Jahre lang war der Diskurs zu Kindererholungsaufenthalten durchgehend positiv besetzt, Heimbetreiber, Mitarbeitende deren Institutionen feierten ihre eigenen positiven Erinnerungen. In Bädermuseen und Elternratgebern war man viele Jahrzehnte lang des Lobes voll, kritische Worte, wie etwa Eltern- oder Erzieherbeschwerden oder auch kinderärztliche Kritik wurden fünf Jahrzehnte von Heimbetreibern und Behörden nur wenig beachtet, sie wurden bagatellisiert und sogar bekämpft (Röhl, A. in Sozialgeschichte offline, 2022, Heft 31/2022, S.61-100Kindererholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeugenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum)

Nun, wo sich das erste Mal, nach 50 Jahren, die Betroffenen selbst zu Wort melden, brechen oftmals lange verdrängte Erinnerungen an Beschimpfungen, Schmerzen, Scham, Angst und Gewalt auf. Manche Menschen beschreiben dabei detaillierte Szenen in Ess- und Schlafräumen und wissen noch, wo ihr Bett stand und wie an einem bestimmten Tag das Licht durch die Vorhänge fiel. Sie beschreiben gestochen scharfe Filmszenen ihrer traumatischen Erlebnisse und erleben dabei erneut tiefe Gefühle von Angst und Bedrohung. Andere haben schwere Körpersymptome und Alpträume, die sich durch bestimmte Fakten auf Verschickungserfahrungen zurückführen lassen. Sie alle brauchen Beratung, Vernetzung und streben dazu an, mehr über diese Einrichtungen herauszufinden.

Positive Berichte aus Verschickungsheimen sind gerade deshalb wichtig. Welche Faktoren haben Kinder so bestärkt, dass sie Verschickungen unbeschadet und positiv erlebten? Wo gab es Einrichtungen, in denen kindgerechter, professioneller Umgang die Regel und Essen ein Vergnügen war, Hygieneroutinen die Kinder nicht beschämten? – und welche Faktoren führten vielleicht dazu, dass es auch solche Kinderkuren gab? Das muss sehr selten gewesen sein, denn solche Berichte haben wir bisher nicht. Menschen mit positiven Erinnerungen dürfen jederzeit ihre Erlebnisse auch bei uns schildern – aber damit kann niemand die schmerzhaften Erinnerungen von Zehntausenden abwerten. Und damit kann auch nicht der klare Befund aus der Welt geschafft werden, dass das System der Kinderverschickungen vieltausendfache Gewaltausübung ermöglichte.

Anja Röhl, Christiane Dienel, für den AEKV e.V., dem wissenschaftlichen Begleitverein der Initiative Verschickungskinder e.V.

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Iris aus Esslingen schrieb am 18.08.2023
Die Ausgangsituation war die, daß unsere Mutter total mit der Erziehung von 3 Kindern überfordert, das jüngste 1 ½ Jahre alt, und am Ende ihrer Kräfte war. Zudem litt sie unter Migräneattacken. Sie musste eine Müttererholungskur machen und die beiden ältesten, meine Schwester damals 5 Jahre und mich, damals 3 Jahre, in der Zeit außer Haus unterbringen. Meine Schwester und ich haben voller Vorfreude den Flur auf und ab getanzt.Unser Vater hat uns an einem sonnigen Tag ins Heim gebracht.
Wir Kinder wurden sofort in ein düsteres dunkles Spielzimmer mit anderen Kindern geführt. Nach dem Abendessen, was noch kein Problem war, brachte eine Tante uns in ein Schlafzimmer im 1.Stock unterm Dach mit 8 Gitterbetten und 6 anderen Mädchen, die uns alle seltsam anschauten, aber nicht mit uns gesprochen haben wie auch die ganze restliche Kur nicht. Wir bekamen die Betten in der rechten Viererreihe mittendrin. Wir waren keine Gitterbetten von zuhause mehr gewohnt. Es kam mir alles so seltsam vor, aber ich hatte meine Hoffnung auf den nächsten Tag gesetzt, an dem sich alles aufklären würde, und war allen widrigen Umständen zum Trotz eingeschlafen.
Danach ging der tagtägliche Horror los. Die Zimmertür wurde aufgerissen und wer noch nicht wach war, wurde wachgerüttelt. Ich muss dabei zumindest an mehreren Tagen angebrüllt worden sein, weil ich ins Bett gemacht hatte. In meiner Erinnerung fühle ich, daß ich am liebsten gar nicht mehr aufgewacht wäre, weil ich Angst vor den nicht abschätzbaren Ereignissen des Tages hatte. Ich sehe mich voller Angst in dem Bett liegen und hoffen, dass nichts für mich Schlimmes passiert. Dann wurden wir alle von einer Tante in ein Badezimmer mit endlos vielen Waschbecken gescheucht und mussten uns in Unterwäsche nach Anweisung der Tante waschen.
Das Frühstück war mit seinen Marmeladenbroten und Tee noch für mich essbar. Den Kakao mit der widerlichen Milchhaut hatte ich auch noch getrunken, wenn ich aber auch nach der Kur nie mehr danach Kakao zu Hause getrunken habe. Was aber gar nicht ging, war die ekelhafte Haferschleimpampe, die ich irgendwie heruntergewürgt habe. Zumindest die meisten Tage. Gegen Ende der Kur, als nur noch wenige Kinder im Esszimmer waren, konnten wir sehen, wie einer der älteren Jungs der Heimkatze, die durch die offene Tür hereinstolzierte, seinen gefüllten Teller hingestellt hat, als die Tante gerade nicht im Raum war. Das haben wir ab dann auch gemacht. Ich weiß nicht mehr, ob wir dabei erwischt und bestraft wurden.
Wir mussten essen, was wir vor uns hingestellt bekamen. Es wurde nicht gefragt, was wir wovon wieviel mochten oder nicht, und erst recht nicht, vor was es uns ekelte. Schlimm war der Geruch, wohl eher der Gestank, aus der Küche. Ich erinnere mich an eine Szene, in der Erbsensuppe in tiefen Tellern auf den Tischen vor uns steht. Ich höre an meinem Kleinkindertisch (jawohl, sie haben uns sogar beim Essen ohne Not getrennt), wie jemand an einem anderen Tisch kotzt. Ich sehe dann, wie meine Schwester würgt und die ausgekotzte Suppe in den Teller fällt, der über zu laufen droht. Die eine aufsichtführende Erzieherin hält meine Schwester fest und die andere rennt in die Küche, um einen weiteren tiefen Teller zu holen, den sie dann vor meine nach wie vor würgende Schwester stellt, damit ja kein bisschen von der Kotze daneben geht. Ich habe gedacht, daß meine Schwester nun in den Arm genommen und getröstet wird, so wird das unsere Mutter immer in solchen Fällen gemacht hätte. Stattdessen zwingen die beiden „Tanten“ meine Schwester, das Erbrochene aufzuessen! Ich an meinem Tisch will aufstehen und zu meiner Schwester, weil ich instinktiv fühle, daß das falsch ist, was da mit ihr gemacht wird. Ich will ihr irgendwie helfen, aber ich werde an meinem Platz von einer dritten Tante festgehalten. Die anderen Kinder dürfen gehen. Ich habe bis heute, mehr als 55 Jahre danach, Probleme mit Erbsen als Nahrungsmittel, insbesondere Erbsensuppe.
Ich war bis knapp vor 2 Wochen der Meinung, daß mir sowas in dieser Zeit nicht passiert wäre. Aber als ich die Berichte von anderen Betroffenen gelesen habe, insbesondere den von Maria, daß ein kleines Mädchen unter Androhung von Spritzen zum vollständigen Aufessen des Erbrochenen gezwungen wurde und ich weiß, daß wir panische Angst vor Spritzen hatten, sehe ich das anderes. Vielleicht waren es in meinem Fall Ravioli, die ich bis heute wie auch meine Schwester nicht essen kann.
Mindestens 1 Spritze haben wir beide unter Angst gesetzt bekommen. Ich sehe mich und meine Schwester noch mit nacktem Popo in dem unheimlichen Arztzimmer, das mit seltsamen Apparaten vollgestopft war, auf einer Liege; wofür oder wogegen eigentlich? Ich finde in meinem alten Impfbuch/Impfkarte keine passende Eintragung. Das Wiegen an sich war weniger schlimm, wenn wir auch vorher lange vor dem Zimmer warten mussten und uns dann die Kleider von den „Tanten“ vom Leibe gerissen wurden. Meine Schwester hätte zu dieser Zeit eigentlich noch Antibiotika wegen einer Nierenentzündung schlucken müssen. Die Heimleiterin hatte sie ihr nicht gegeben. Es gab keine Rücksprache dazu mit meinen Eltern.
Was haben wir ganzen Tag über gemacht? Ich erinnere mich an das dunkle, düstere Spielzimmer, in dem es Spielzeug gab, wie ich es zum Teil vom heimischen Kindergarten kannte und teils auch nicht. Meine Schwester meint, dass darin schwere Holztische so wie im Alpenraum üblich gestanden hätten. Wir mussten auch malen, wir konnten ja noch nicht schreiben. Dass das die Bilder für die Eltern zu Hause zur Dokumentation der ach so tollen Kur waren, reime ich mir zusammen. Ich hatte jedenfalls damals schon Malen gehasst, weil die Bilder nie so wurden, wie ich es wollte. Ich hatte gute Miene zum bösen Spiel gemacht, den Stift in die Hand genommen und gekrakelt. Vielleicht war ich dabei über den Rand des Blattes hinausgekommen und hatte den Tisch bemalt, vielleicht hatte ich die Malblätter aus Frust zerknüllt oder zerrissen. Den „Tanten“ hatte das nicht gepasst und ich erinnere mich, unter dem Stuhl der Heimleiterin für längere Zeit gesessen zu haben. Später erinnere ich mich, immer das gleiche gemalt zu haben: Sonne am Himmel, grüne Wiese, vermutlich so, wie die Tanten es mir gesagt hatten. Meine Schwester hatte protestiert, daß ich dasselbe wie sie zu malen versuchte.
Und dann gab es den Kreis, in dem irgendetwas mit allen Kindern gemacht wurde. Ich war zu klein, als daß es mich hätte ansprechen können. Ich meine, auf die Toilette gemusst zu haben und dafür um Erlaubnis gebeten zu haben. Die Heimleiterin persönlich hatte es verboten und als ich es trotzdem versucht hatte zu gehen, wurde ich von ihr auf ihren Schoss gesetzt und festgehalten. Der Erinnerungsfetzen hört da auf. Wahrscheinlich war das passiert, was passieren musste. Die Strafe war mit Sicherheit so drastisch und schlimm ausgefallen, daß ich mich nicht daran erinnere.
Wie in jedem Kinderheim, gab es den Mittagsschlaf, den jedes Kind machen musste, egal wie alt und ob es den Schlaf gebraucht hat oder nicht. An Schlechtwettertagen so wie meistens wurde er im Schlafzimmer gemacht, an schönen auf dem langen Holzbalkon auf Gartenliegen. Mein Pech war, daß es eine Liege zu wenig die Kinder gab und mich als Kleinste und Jüngste hat es getroffen. Während alle anderen, auch meine Schwester, mit den „Großen“ aus meiner Sicht die Sonne genießen durften, musste ich allein im Schlafzimmer in meinem Gitterbett bleiben. Meine Proteste blieben ungehört. Die Sonne schien heiß durch die Fenster und ich hatte in meiner 60ziger Jahre Wollstrumpfhose geschwitzt. Das war aber nicht das Problem. Das Schlimmste war, dass sie fürchterlich gekratzt hatte. Um den Juckreiz zu bekämpfen, hatte ich mit der Zopfspange meiner Flechtzöpfe auf dem Oberschenkel gerieben. Mit dem Ergebnis, daß die Strumpfhose anschließend ein riesiges Loch hatte und somit kaputt war. Ich wurde sofort ohne Anhörung meiner Sicht und ohne neue Strumpfhose in den ungeheizten Keller im Allgäuer Winter gebracht und eingesperrt. Das Schlimmste war nicht die dunkle und unbekannte Umgebung, sondern die Ungerechtigkeit.
Sonntags und/oder samstags muss es wohl eine Art religiöses katholisches Zeremoniell, abgehalten von einer Nonne, gegeben haben. Alle Kinder waren in einem Raum mit Kruzifix in der Ecke versammelt. Ich hatte mich trotz evangelischer Erziehung sicher und entspannt gefühlt, denn wir kannten vom heimischen katholischen Kindergarten das Bekreuzigungsritual. Ich hatte die Welt nicht mehr verstanden, als meine Schwester und ich zusammen mit einem älteren Jungen (wieso der, ältere Kinder wurden doch nie bestraft?) von der älteren Nonne zusammengestaucht wurden.
Es gab auch eine Art seltsamen Gymnastikraum mit noch seltsameren Turngeräten. Ich sehe mich und meine Schwester im Turnhemd umherlaufen. Es war gut, weil wir uns endlich mal so bewegen durften, so wie wir wollten und es keine Strafen zumindest für mich gab.
Ein einziges Mal erinnere ich mich, daß wir mit unseren von zuhause mitgebrachten Puppen spielen durften. Ich habe mich gewundert und gefreut, daß das Heim die gleichen Puppen wie wir hatte: Meine Schwester und ich sitzen im Schneidersitz im Schlafraum zusammen im Bett meiner Schwester. Eine Einladung von ihr, der ich nur zu gerne gefolgt bin. Eine gelöste, vertraute Atmosphäre fast wie zu Hause. Wir beiden entspannen, wir r e d e n endlich mal wieder miteinander und l a c h e n . Ich ziehe meiner Puppe gerade die Kleider aus, da wird die Zimmertür aufgerissen und die Tante stürmt herein. Sie sieht uns zusammen im Bett und zerrt mich heraus. Die Puppen werden eingesammelt, in einen Koffer gestopft, den ich noch nicht kenne, und auf einen Spind oder Schrank in für uns unerreichbare Höhen gestellt. Ich weiß nicht, welche Strafe wir dafür bekommen haben, aber ich sehe uns, wie wir von 2 „Tanten“ eine steile Außensteintreppe hinuntergeschoben und -gezerrt werden. Dann stehe ich in der einzigen gemeinsamen Strafszene mit meiner Schwester zusammen an einer eiskalten gekachelten Wand. Meine liebe, gehohrsame, angepasste, motorisch geschickte Schwester wird wegen mir bestraft.
Einmal stand ein Marmorkuchen im Esszimmer, so wie ihn meine Mutter oder Großmutter zuhause gebacken haben: Irgendjemand muss mir gesagt haben, daß ich an dem Tag den 4. Geburtstag habe. Ich bin entsetzt, denn ich nehme das als weiteres Anzeichen dafür, daß ich für immer im Heim bleiben muss; es hat sich alles so falsch und unwirklich angefühlt. Das halbe Stück Marmorkuchen, das auf meinem Teller war, hat seltsam geschmeckt, dafür gab es ja genügend Gründe, aber besser als das andere Zeugs, was es sonst gab. Als ich ein zweites Stück will, wird mir gesagt, es sei nichts mehr da. Meine Schwester sagt, daß ich eine Rolle Schokoladenkekse an die Kinder verteilt habe und sie Angst hatte, daß sie keinen Keks mehr bekommt.
Die einzige schöne Erinnerung, die ich habe, war das Spielen im Schnee auf einem Holzblockhaus vor dem Haus: Es liegt Schnee, die Sonne scheint und ich sehe die Berge. Ich sehe einen Weg, aber keine weiteren Häuser. Ich, meine Schwester und ein anderes kleines Kind, - hurra, ich bin endlich nicht mehr die kleinste in der Gruppe-, sind in den ersten Stock über eine Leiter hochgeklettert und haben aus Schnee eine Mauer gebaut. Eine junge Tante hilft uns, den Schnee nach oben in einem Eimer zu bringen und hält sogar die großen Jungs von uns fern. Leider ist die Freude vorbei, als unsere Kleider nass sind und wir zurück ins Haus müssen. Das einzige Mal, daß ich wirklich draußen an der frischen Luft war und Freigang hatte.
Es muss für mich ein spezielles abendliches Ritual mit einer Tante gegeben haben. Anders, als das Liebevolle zuhause mit einem Gutenachtlied: Ich sehe eine schimpfende Tante neben meinem Bett.
Wir durften nicht zur Toilette, wann wir wollten. Besonders nicht nachts. Ich kannte die Regeln nicht: Ich sehe mich nachts mit meiner Schwester über einen schwach beleuchteten Flur an einer dunklen, steilen Treppe vorbei zur Toilette tappen. Meine Schwester macht mehrmals „Psst“ zu mir. Auf der Toilette unterm Schrägdach angenommen, machen wir kein Licht. Ich möchte die Spülung drücken, aber meine Schwester hindert mich daran. Ich weiß nicht, ob wir ertappt worden sind und was die Strafe war.
Besonders abends gab es nicht genug zu trinken: Ich sehe mich beim abendlichen Zähneputzen Wasser aus dem Wasserhahn trinken. Meine Schwestern hatte mich darauf aufmerksam gemacht, daß ich meinen schrecklichen Durst auch aus dem Wasserhahn stillen kann.
An einem Tag werden meine Schwester und ich ins Büro der schrecklichen, furchteinflößenden Heimleiterin gerufen. Wir mussten sie „Mama“ Darm nennen. Gut, daß wir unsere eigene Mutter „Mutti“ genannt haben. Ich erwarte eine weitere Bestrafung, denn so war das immer in der Vergangenheit, wenn man ins Büro gerufen wurde. Aber das Unmögliche ist eingetreten: Unsere Eltern stehen im Büro. Meine Strafe ist also vorbei. Ich soll laut späteren Aussagen meinen Eltern nach gesagt haben „Ich muss ja so lachen, weil ich so fröhlich bin“, und gleichzeitig so geheult und hysterisch gelacht haben, dass es sogar dieser hart gesottenen Frau peinlich war. Dann hat sie ein Armbandkettchen mit einem Eichhörnchen-Anhänger dran aus einer Schublade geholt und mir als angebliches Geburtstagsgeschenk um das Handgelenk gelegt. Das kann ich zulassen, weil unsere Eltern in der Nähe sind und mich notfalls beschützen werden. Unsere Eltern wollen noch, daß wir der „Mama“ Darm, der schrecklichen Frau, die Hand geben. Was ich auch, wenn auch nur den Eltern zuliebe mache (ich will ja keine neue Strafe), weil ich spüre, dass jetzt alles wieder gut wird. Dann renne ich die Eingangstreppe in die Freiheit.
Wir sind zu viert durch das idyllisch verschneite Illertal mit dem Zug gefahren. In Ulm sind wir in einen damaligen D-Zug umgestiegen, der überfüllt ist, sodass wir im Gang Sitzplätze aufklappen müssen. Ich habe mir dabei schmerzhaft den kleinen Finger eingeklemmt. Aber es ist mir so was von egal gewesen!
Meinen vierten Geburtstag haben wir zuhause nachgefeiert. Ich sehe auf dem Foto nicht sehr glücklich und ernst aus. Auch dieses Geburtstagfest hat sich irgendwie trotz vertrauter sicherer Umgebung falsch angefühlt, und es lag nicht an den Geschenken oder am Geburtstagskuchen.
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2 Kommentare

  1. Liebe Evelyn, ich verstehe dich, aber wir, die wir in der Öffentlichkeit stehen, müssen belegen, dass es die vielen Betroffenen gibt. Dafür gibt es ja das Portal: ZEUGNIS ABLEGEN, da kann man ja sehen, dass es um viele Menschen geht, die dieselbe Erfahrung gemacht haben. Dafür gibt es unsere Fragebögen. Wir versuchen viel und kämpfen mit Argumenten. Und ein Denkmal ist ein Denkanstoß für viele Unbeteiligte und besser als in den Museen weiterhin nur Positives zu den Verschickungen zu lesen. Grüße, Anja

  2. Ich bin sehr entrüstet darüber dass es Menschen gibt die diese vielen Tatsachenberichte betroffener Kinder/ Menschen überhaupt anzweifeln oder versuchen ins lächerliche zu ziehen indem sie gegenteiliges behaupten oder diese Verbrechen abzumildern. Ich benutze absichtlich den Begriff ,,Verbrechen „, denn nichts anderes sind diese Taten und Missbräuche an Kindern bzw. in
    diesem Fall sogar schutzbefohlener Minderjähriger!!!
    Ich bin selbst betroffen und ich habe nun schon mein ganzes Leben mit den Folgen zu kämpfen. Ich bin seitdem einfach noch kränker geworden.
    Ich kann gar nicht nach Borkum fahren und mir Denkmäler begucken. Ich müsste mich übergeben wenn ich an den Ort zurückkehren müsste an dem die Weichen meines Lebens so verderblich gestellt worden sind.
    Hier wurden systematisch Kinderseelen zerstört mit negativen Auswirkungen
    für den Rest des gesamten Lebens.
    Was ??? frage ich jeden Einzelnen…was soll das wieder gut machen???
    Ich bewundere diejenigen die ihre Geschichte und die Geschehnisse
    in die Öffentlichkeit getragen haben und ans Tageslicht gebracht haben…
    Ich habe das Trauma mein ganzes Leben bis Heute nicht überwinden oder aufarbeiten können, trotz Therapien.
    Und…ich verachte diese Menschen die daher kommen und meinen sie könnten diese fürchterlichen Tatsachen, Verbrechen und Leid, einfach verharmlosen oder anzweifeln.
    Weiterhin bin ich der Meinung dass dieses ganze Land und dessen Regierung für diese Schande geradezustehen hat.
    Nicht wir die Betroffenen müssen um Anerkennung betteln!!!

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