ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN

Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung. Sie sind damit Anfang und Teil eines öffentlich zugänglichen digitalen Dokumentationszentrums. Darüber hinaus können, Einzelne, die sehr viele Materialien haben, ihre Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild versehen, zusammen mit der Redaktion als Beitrag erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einstellen. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel

Wir schaffen nicht mehr, auf jeden von euch von uns aus zuzugehen, d.h. Ihr müsst euch Ansprechpartner auf unserer Seite suchen. ( KONTAKTE) Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr weitere Möglichkeiten:

  1. Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selbst Ansprechpartner eures eigenen Heimes, so findet ihr am schnellsten andere aus eurem Heim.
  2. Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
  3. Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen

Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!

Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.

Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.

Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der “Initiative Verschickungskinder” (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen

Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.:     IBAN:   DE704306 09671042049800  Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de

Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen


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Mechthild Steinigen schrieb am 24.11.2019
Ich habe meine Kindheitserinnerungen in einem Buch aufgeschrieben und mein Kuraufenthalt in Bad Orb im Spessart ist eine dieser Geschichten. Eine der wichtigsten in meinem Buch. Hier ist sie:
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Tief einatmen, die Luft ist selten

In der Wirtschaftswunderzeit genossen viele Kinder in der Bundesrepublik ein großes Privileg. Sie durften oder mussten wochenlang in die Kur fahren. Egal ob sie arm waren oder reich, dick oder dünn, krank oder gesund, Junge oder Mädchen, Heulsuse oder Rabauke, Bettnässer oder Zappelphilipp, Quasselstrippe oder Stotterer, katholisch oder evangelisch, Volksschüler oder Gymnasiast.
Also musste auch ich in die Kur fahren, denn ich war ein Mädchen, dünn, gesund und ein katholischer Volksschüler, aber weder Heulsuse, noch Rabauke und erst recht keine Quasselstrippe.
Alle meine älteren Geschwister waren schon in der Kur gewesen und hatten davon die verschiedensten Geschichten und Erlebnisse mit nach Hause gebracht, die sie mir immer mal wieder erzählten.
Einem Geschwister waren die vielen Wochen in der Kur viel zu kurz gewesen und es hatte gar nicht mehr nach Hause kommen wollen. Andere erzählten von schrecklichem Heimweh und vielen Tränen in den ersten Tagen und strengen Krankenschwestern und Ärzten. Ich wusste also so ungefähr, was in einer Kur auf mich zukam und in die Kur zu fahren war wie das Tüten packen. Ein unumstößliches Gesetz. Also ergab ich mich in mein Schicksal. Ich war noch nicht ganz neun Jahre alt.

Trotz all´ der Schauergeschichten meiner Geschwister, freute ich mich sehr auf die Kur. Eine lange Zugfahrt erwartete mich, denn es sollte nach Bad Orb gehen, in den Spessart. Den Spessart meinte ich sehr gut zu kennen, denn ich hatte schon mehrmals den Spielfilm mit Liselotte Pulver gesehen. Und darum war ich mir sicher, dass ich nun schon bald diesem berühmten Wirtshaus im Spessart einen Besuch abstatten könnte. Wenn Mama mir ein bisschen Taschengeld mitgeben würde, könnte ich Liselotte Pulver vielleicht zu einer Coca Cola einladen.

Mama quälten zu dieser Zeit wieder große Geldsorgen, denn das Wirtschaftswunder war bei uns immer noch nicht eingezogen.
Unser Hausarzt hatte aber bestimmt, dass ich in die Kur zu fahren habe. Sechs Wochen lang. Und so lief ich nach dem Arztbesuch neben einer Mama nach Hause, in deren Gesicht noch tiefere Sorgenfalten standen, als sonst.
Sie murmelte eine Liste vor sich hin. Auf dieser Liste schienen all´ die Dinge zu stehen, welche ich mit in die Kur zu nehmen hatte. Unterhosen- und Hemden, Socken, Schuhe, Strumpfhosen, Bademantel, Badeanzug, Kleider, Röcke, Blusen und Pullover, Schlafanzüge, Jacke und Mantel, Handtücher und Waschlappen. Die Liste hörte gar nicht mehr auf. Mamas Sorgenfalten wurden so breit und tief, wie die Straßenbahnschienen in unseren Straßen.

Ich wusste ganz genau, wenn Mama mir diese Sachen alle neu kaufen musste, würde das die Ladenkasse in 1000 Stücke reißen.
Aber ich wusste auch ganz genau, dass meine Mama mich niemals mit der Kleidung in die Kur schicken würde, die ich normalerweise auf dem Leib trug.
Fadenscheinige Unterhosen, Strumpfhosen mit gestopften Löchern, Pantoffeln mit abgeschnittener Schuhspitze, Schlafanzüge, dessen Ober- und Unterteile nicht unbedingt zusammen passten, Kleider und Röcke mit ausgelassenem Saum, Pullover mit zu kurzen Ärmeln, zu kleine Söckchen und Kniestrümpfe und einen Bademantel hatte ich erst recht nicht.
Mit einem Koffer, bepackt mit diesen Klamotten, würde sie mich niemals nach Bad Orb in den Spessart schicken, denn dann würde ich mich bis auf die Knochen blamieren. Oder noch schlimmer; daherkommen wie ein Mädchen, das aus einer armen Familie stammt.
Das würde sie nicht zulassen. Da brauchte ich keine Angst zu haben. Denn da konnte ich mich auf die Rose des Stolzes und den mächtigen Efeu des Trotzes verlassen, die auch in meiner Mama gewachsen waren. Und natürlich auf ihr Mutterherz, stark wie das einer Löwin.

Die Löwin schrieb zu Hause, auf die größte Brötchen Tüte, die sie finden konnte, eine lange Liste. Anschließend rechnete die Löwin und rechnete und ich hatte bis dahin nicht gewusst, wie tief und breit Sorgenfalten werden können.
Dann schaute die Löwin mich mit ihren schwarzen Augen an, die sie nur dann hatte, wenn sich die Geldsorgen auf ihren Schultern meterhoch türmten.
Sie sagte, dass sie das alles nicht bezahlen kann. Punkt aus.

Tagelang wälzte die Löwin die Geldsorgen hin und her, denn ihr Mutterherz wollte eine Lösung finden. Sie telefonierte mehr als sonst im Buröchen und führte offensichtlich irgendetwas im Schilde.
Und eines Tage schnappte sie mich und eröffnete mir, dass wir jetzt zusammen ins Rathaus zu gehen hätten. Dort gäbe es ein Amt, in dem ein Beamter uns vielleicht das Geld für die Kur geben würde.

Im Rathaus klopfte Mama an eine Tür und eine Stimme forderte uns auf hereinzukommen. Mama nahm mich an die Hand. Ihre Hand umschlang ganz fest die meine und da sie mich sehr selten an die Hand nahm, ahnte ich sofort, dass etwas Besonderes im Busch war.

Ein älterer Mann, mit einem gleichgültigen Gesicht, saß hinter einem Schreibtisch und sagte uns kaum guten Tag. Er wies uns an, auf den beiden Stühlen vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen und fragte nach dem Grund unseres Erscheinens.
Mama erzählte ihm von meiner Kur und der vielen neuen Kleidung und der teuren Fahrkarte ins ferne Bad Orb im Spessart.
Während sie erzählte beobachtete ich sie die ganze Zeit und ich konnte den Blick nicht von ihr lassen.
Denn neben mir saß eine Mama, wie ich sie noch nie zuvor erlebt hatte.
Desto mehr sie von der leeren Kasse im Laden und ihren Sorgen sprach, desto mehr sank sie in sich zusammen. Ihre Stimme klang nicht mehr, wie die Stimme einer Löwin, sondern wie die einer Heulsuse. Und irgendwann lief eine kleine Träne an ihrer Wange entlang.
Der Mann hinter dem Schreibtisch ließ sich alles ganz genau erklären und musterte Mama und mich wie ein strenger Lehrer.
Desto mehr Mama erklären musste, desto mehr Tränen liefen ihr über die Wangen und irgendwann saß neben mir eine völlig verzweifelte Mama.
Ein Meer von Tränen lief ihr durchs Gesicht und ihre Stimme zitterte.
Aber sie hörte nicht auf, dem Mann hinter dem Schreibtisch alle Fragen zu beantworten. Irgendwann erklärte sie nicht mehr, sondern bettelte. Nach dem Betteln fing sie an zu Flehen und nach dem Flehen konnte sie nur noch weinen und brachte keinen Ton mehr heraus.

Sie war nur noch ein Häufchen Elend und ich liebte sie dafür.
Ich liebte sie dafür, dass sie sich für mich erniedrigte und gleichzeitig kämpfte wie eine Löwin.
Es war schrecklich und schön zugleich.

Sprechen konnte in diesem Augenblick niemand mehr in diesem Büro in unserem Rathaus. Auch der Mann hinter dem Schreibtisch nicht. Er schaute uns eine geraume Zeit an und dann versprach er Mama, dass sie das Geld für meine Kur bekommen werde. Danach stellte er einen Scheck aus und überreichte ihn wie selbstverständlich meiner Mama.
Der meterhohe Berg aus Sorgen fiel Mama von den Schultern und mit dem Scheck in ihrer Hand verließ sie erhobenen Hauptes das Rathaus. Mit jedem Schritt, auf dem Weg zurück in den Laden, verwandelte Mama sich wieder in die Löwin, die ich kannte.

Zuhause erzählten wir niemandem, was sich im Rathaus abgespielt hatte. Die anderen erfuhren nur so viel, wie sie wissen mussten. Nämlich, dass das Amt die Kosten für meine Kur bezahlt hat. Welchen Preis Mama dafür zahlte, erzählte sie nicht und wir beide haben auch nie wieder miteinander darüber gesprochen.

Einige Tage später kam ich von der Schule nach Hause und auf dem Küchentisch lagen viele Stapel neuer Kleidung.
Schneeweiße Unterhosen- und Hemden strahlten mich an und nagelneue schicke Söckchen und Kniestrümpfe warteten darauf, in einen Koffer gepackt zu werden. Bunte Schlafanzüge, die noch niemand vor mir getragen hatte und ein nagelneuer Bademantel mit Kapuze kamen mir vor, wie ein Wunder. Ömchen hatte Nadel und Faden geholt und nähte in meine neuen Sachen kleine, weiße Stoffschildchen ein, auf die Mama mit einem Stift meinen Namen schrieb.
Das war der Beweis!
Diese neuen Sachen gehörten nur mir ganz allein.
Der blaue Badeanzug, die Pantoffeln, die Strumpfhosen ohne gestopfte Löcher und der Faltenrock mit passendem Pullover.
Das war alles so unbeschreiblich schön für mich, dass ich einen Wermutstropfen spielend leicht hinunterschlucken konnte. Meine schönen, neuen Sachen wurden in einen alten, braunen Koffer aus dicker Pappe gepackt. Da die Schlösser nicht mehr richtig schlossen, wurde der Kofferdeckel mit einer Schnur festgebunden und so sah mein Koffer wie ein Paket aus, das zur Post gebracht werden musste.

Am Abreisetag trug ich von oben bis unten neue Kleidung und war sicher das stolzeste Mädchen zu sein, dass jemals nach Bad Orb in den Spessart gefahren ist.
Auf dem Bahnsteig traf ich noch weitere Kinder, die mit mir in die Kur fuhren und in einem Abteil wartete eine ältere Dame auf uns, welche beauftragt war (von wem auch immer), uns gesund und munter in Bad Orb abzuliefern.

In Bad Orb wartete ein Bus auf uns und der fuhr immer nur bergauf, bis vor uns ein riesiges, weißes Gebäude auftauchte. Die Kinderkurklinik.
Ich hatte sofort riesiges Heimweh.

Mürrische Frauen in weißen Kitteln begrüßten uns, und ich trottete mit meinem braunen Pappkoffer unglücklich hinter ihnen her. Mit drei weiteren Mädchen zog in ein Zimmer ein und ein Bett wurde mir mit strengem Blick zugeteilt.
Mein Heimweh war von nun an so groß und schwer, wie die Geldsorgen meiner Mama.

Wie im Nebel erlebte ich die ersten Stunden in dieser Kinderkurklinik.
Das Abendessen, den pipiwarmen Hagebuttentee in großen Metallkannen, das Auspacken meiner schönen, neuen Sachen in meinen Kleiderschrank und die lieblose Strenge um mich herum.
Tüten packen war dagegen Pipikram.

Ein Gong verkündete, dass nun Schlafenszeit sei.
Alles musste ganz schnell gehen und wir hatten in Nullkommanichts im Bett zu liegen. Auf dem Rücken, die Arme auf der Bettdecke liegend.
Dann machte eine Pflegerin die Runde, welche für uns zuständig war. Sie war hartherzig, unnahbar und bitter. Von der ersten Sekunde an nannte ich sie innerlich nur „den Teufel“.

Der Teufel erklärte uns, dass wir nur mit dem Gesicht zur Wand einzuschlafen und zu schlafen hätten. Von jetzt an wolle sie keine Wort mehr von uns hören.

Wie alle Betten stand auch meins der Länge nach an der Wand. Um mit dem Gesicht zur Wand einzuschlafen, musste ich mich auf meine linke Seite drehen. Aber das war nicht meine Lieblingseinschlafseite. Meine Lieblingseinschlafseite war meine rechte Seite.
Aus Angst vor dem Teufel drehte ich mich zur Wand und versuchte einzuschlafen. Ich war dafür zwar schon viel zu groß, aber ich rief innerlich das Sandmännchen zur Hilfe. Aber das konnte noch so viel Sand in meine Augen streuen, mein Heimweh war viel zu groß.
Also drehte ich mich auf meine Lieblingseinschlafseite und erkannte in der Dunkelheit die anderen drei Mädchen, welche sich genau wie ich, auf die verbotene Seite gedreht hatten.
Wir hatten alle Angst vor dem Teufel.
Und wir hatten alle Heimweh.
Und wir weinten alle stumm vor uns hin.
Und so schliefen wir irgendwann ein.

Der Teufel ließ mich nicht lange schlafen. Er rüttelte und schüttelte mich, bis ich wach war und befahl mir, mich gefälligst zur Wand zu drehen. Immer wieder tauchte der Teufel in dieser Nacht auf, weckte mich und ich drehte mich von meiner Lieblingseinschlafseite auf die linke Seite. Einige Nächte lang ging das so.
Eines muss ich dem Teufel aber lassen, wir haben alle gelernt mit dem Gesicht zur Wand zu schlafen.

Mein Heimweh marterte mich Tag und Nacht. Und es gab nichts, was mich hätte trösten können. Nicht einmal meine schönen, neuen Sachen.
Mein Heimweh war so groß, dass ich wegen jeder Kleinigkeit anfing zu weinen und von morgens bis abends mit einem traurigen Gesicht durch die Kinderkurklinik lief.
Jeden Abend weinte ich mich in den Schlaf, der einfach nicht kommen wollte und die Nachtschwestern immer wütender auf mich machte.
Ich sehnte mich nach zu Hause, nach dem Tüten packen, den Pantoffeln mit den abgeschnitten Zehenspitzen und sogar nach Papas Dämmerschoppen.

Jeden Tag mussten wir lange Spaziergänge durch den Spessart machen, was ich überhaupt nicht leiden konnte. Bergauf, bergab. Besonders oft bergauf. Und dabei die Lieder aus der „Mundorgel“ singen. Laut und gesund.
Während die anderen Kinder fröhlich und munter „Wir lagen vor Madagaskar“ sangen, weinte ich und auch „Das Wandern ist des Müllers Lust“ konnte mein Heimweh nicht vertreiben. Nicht einmal für eine kleine Sekunde lang. So ging das tagelang.

Am ersten Wochenende durften wir eine Postkarte oder einen Brief nach Hause schreiben. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen.
Ich nahm einen Bogen Briefpapier und machte aus meinem Herzen keine Mördergrube. Zum ersten Mal in meinem Leben schrieb ich meiner Mama einen langen Brief.
Ich erzählte ihr darin von dem Kindergefängnis, in dem ich gefangen sei und das ein Teufel auf uns aufpasst. Und das sie mich sofort abholen soll, da ich sonst weglaufen würde. Ich bettelte und flehte Mama an.


Ich steckte den Brief in einen Umschlag und nach einiger Zeit sammelte der Teufel unsere Postkarten und Briefe ein.

Ein paar Stunden später war der Teufel los.
Mit wütendem Blick fuchtelte er mit meinem Brief vor meiner Nase herum und schimpfte auf mich ein. Was ich mir einbilde, wie ich so etwas nach Hause schreiben könne!
Jetzt begriff ich, dass unsere Post geöffnet und gelesen wurde.

Mein Heimweh trat einen Moment zur Seite und meine Wut brach sich Bahn.
Ich schrie den Teufel an, dass das doch alles stimme. Ich sei in einem Gefängnis und sie der Teufel. Und ich wolle sofort nach Hause. Rotz und Schnott heulte ich dabei und dann stampfte ich mit dem Fuß auf und sagte schluchzend:
„Ich will zu meiner Mama.“

Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine Ärztin neben mir. Die, die immer so nett zu uns Kindern war. Sie wollte wissen, was hier los sei.
Trotzig überreichte der Teufel der Ärztin den Brief. Und die las ihn ganz ruhig durch.
Sie schaute mich lange an und nahm mich und meinen Brief mit in ihr Arztzimmer.
Dort durfte ich alles erzählen, einfach so, ganz ehrlich, was mit mir los war.
Von meinem großen Heimweh konnte ich erzählen, von dem schrecklichen, pipiwarmen Hagebuttentee und das ich nicht einschlafen kann, mit dem Gesicht zur Wand.

Die Ärztin hörte sich alles an und zu meinem Erstaunen versprach sie mir, dass nun alles besser werden würde und der Brief an meine Mama genau so abgeschickt wird, wie ich ihn geschrieben habe.

Es wurde nicht alles besser, aber ein wenig.
Der Teufel war ein bisschen freundlicher zu uns Kindern, aber mit dem Gesicht zur Wand mussten wir immer noch schlafen. Und mein Heimweh blieb so schlimm, wie vom ersten Tag an.

Einige Tage später kam ein großes Päckchen für mich an.
Es war von meiner Mama!
Wieder trat mein Heimweh ein kleines Stück zur Seite und Aufregung und Freude erfasste mich. Wie eine Wilde riss ich das Päckchen auf und auf einem Haufen meiner Lieblingssüßigkeiten lag ein Brief von meiner Mama.
Sie schrieb, dass sie meinen Brief erhalten habe und dass sie sich beim Oberarzt beschwert hätte und nun sicher alles besser werden würde. Ich solle mich mit den Süßigkeiten trösten und auf keinen Fall weglaufen. Auch mein Heimweh würde vorrübergehen. Ich solle tapfer sein.
Die Süßigkeiten waren lecker, aber sie haben mich nicht getröstet.
Was mich bis in die letzte Zelle meines kleinen, vom Heimweh geplagten Herzens getröstet hat, war Mamas Brief. Nicht die Worte. Einfach nur der Brief. Das weiße Papier mit den Worten nur für mich. Mit der Handschrift meiner Mama, die ich bis heute sicher unter Tausend Briefen wieder erkennen würde.

Mit vielen Tränen und Heimweh überstand ich die nächsten Tage in dem immer gleichen Trott. Frühstück mit Graubrot, Butter und Marmelade; dazu den verhassten, pipiwaremn Hagebuttentee. Spaziergang in den Spessart. Mittagessen. Mittagsruhe. Graubrot mit Butter und Zucker und Hagebuttentee. Spaziergang in den Spessart. Abendessen. Schlafen. Mit dem Gesicht zur Wand. Am Sonntag gab es einen Nachtisch und ein Stück Kuchen.

Die Spaziergänge hasste ich. Sie waren immer gleich. Nichts interessantes passierte. Nur Bäume und Wiesen, Bäume und Wiesen. Ich weinte vor Heimweh und die anderen Kinder trällerten aus der Mundorgel immer die gleichen Lieder.
Nichts konnte mich aufmuntern. Kein Harung jung und schlank zwo, drei, vier und auch nicht ein Mann, der sich Kolumbus nannt, und schon gar nicht die drei Chinesen mit dem Kontrabass.

Aber der Teufel liebte diese Spaziergänge. Und besonders den Spaziergang, bei dem wir an einem Bauernhof mit einem großen Misthaufen vorbeikamen.
Schon hundert Meter vorher wussten und rochen wir, was nun kommen wurde. Es war, wie mit dem Amen in der Kirche. Unvermeidbar.
Wir erreichten den braunen, stinkenden, dampfenden Misthaufen und mussten uns sofort drum herum im Kreis aufstellen. Dann forderte der Teufel uns auf, unsere Arme ´gen Himmel zu strecken und dabei tief ein und aus zu atmen.
Dazu rief der Teufel mit Inbrunst: „Tief einatmen, die Luft ist selten“.
Dieses teuflische Ritual mussten wir mehrmals in der Woche klaglos über uns ergehen lassen.
Aber gegen mein Heimweh half auch das nicht.

Nach zwei quälenden Wochen wurden wir Kinder dazu ermuntert, uns eine Geschichte auszudenken und diese aufzuschreiben. Wir durften schreiben, was wir wollten und den Inhalt selber wählen.
Ich brauchte nicht lange zu überlegen und schrieb eine Geschichte über meine Babypuppe Sonja und meinen Teddybären Max.
Ich hatte vor einiger Zeit im Fernsehen das Ballett vom Nussknacker gesehen und war seitdem von der Idee fasziniert, dass Spielzeug um Mitternacht erwacht.

Unsere Geschichten wurden eingesammelt und nach einigen Tagen wurde ich vom Teufel in ein Arztzimmer geführt. Ich erwartete die nette Ärztin, aber an diesem Tag saßen viele Männer in weißen Kitteln, Hosen, Socken und Schuhen dort.
Mama hätte dazu „Götter in Weiß“ gesagt.
Mir war das alles ziemlich unheimlich, aber da die Götter in Weiß mich freundlich anlachten, war es nicht ganz so schlimm. Ich entdeckte, dass ein Gott in Weiß meine Geschichte vor sich liegen hatte.
Er wollte von mir wissen, ob ich diese Geschichte ganz allein geschrieben habe.
Ich bejahte das.
Die Götter in Weiß warfen sich Blicke zu, die ich nicht deuten konnte, mir aber das Gefühl gaben, dass etwas Besonderes vor sich ging.
Die Götter in Weiß tuschelten ein wenig miteinander und ich konnte kein einziges Wort verstehen. Einige musterten mich, ließen sich die Blätter mit meiner Geschichte geben und lasen kurz darin.
Dann wurde ich gefragt, ob ich immer noch so viel Heimweh habe.
Ich nickte.
Wieder tuschelten die Götter in Weiß miteinander und dann sagte ein Gott:
„ Du darfst nach Hause fahren.“

Wie angenagelt blieb ich auf meinem Stuhl sitzen.
Ich durfte nach Hause fahren?
Warum denn auf einmal?

Ehe ich was sagen oder fragen konnte, ob das alles was mit meiner Babypuppe Sonja und meinem Teddybär Max zu tun habe, wurde ich gebeten, das Arztzimmer zu verlassen.
Die Götter in Weiß wollten mir nichts erklären.

Ich stand auf, sagte brav auf Wiedersehen, öffnete die Tür, trat in den Flur, schloss die Tür und das Heimweh war wie weggeblasen. Es war einfach weg. Futsch.
Und zum ersten Mal lief ich fröhlich die Flure entlang und fühlte mich wohl in Bad Orb im Spessart.

Der Teufel empfing mich und wusste schon Bescheid. „Du darfst also nach Hause fahren. Dann gehen wir mal packen.“
Der Teufel machte vielleicht große Augen, als ich ihm sagte, dass ich aber gar nicht mehr nach Hause fahren wolle, da mein Heimweh auf einmal weg sei und ich sehr gerne in Bad Orb bleiben würde.

Ich durfte bleiben und nun wurden es herrliche Wochen.
Zwar hasste ich die Spaziergänge und den Hagebuttentee immer noch, aber ich war plötzlich gerne im Spessart, mit seinen Bäumen, den Wiesen und dem braunen, stinkenden, dampfenden Misthaufen.

Ich habe die Geschichte von Sonja und Max noch einmal für dieses Buch aufgeschrieben. Natürlich sind es die Worte eines Erwachsenen, aber sie erzählen genau das Gleiche.
Bis heute ist es mir ein großes Rätsel, was die Götter in Weiß dazu bewogen hat, mich nach Hause zu schicken.
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