Zeugnis ablegen

ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN

Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung.

Wir bauen außerdem ein öffentlich zugängliches digitales Dokumentationszentrum auf, dort ist es möglich seinen Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild zu versehen und zusammen mit der Redaktion einen Beitrag zu erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einzustellen, der für zukünftige Ausstellungen und Dokumentationen benutzt werden kann. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel

Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr drei Möglichkeiten:

  1. Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei der Buko Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selber einer.
  2. Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
  3. Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen

Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!

Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.

Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.

Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der “Initiative Verschickungskinder” (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen

Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.:     IBAN:   DE704306 09671042049800  Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de

Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen


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Hans-Richard Sliwka aus Trondheim (Norwegen) schrieb am 22.02.2022
verschickt – verdrängt – vergessen

1 warum dieser text?
Vor etwa 2 jahren hatte ich im radioprogramm den titel „verschickungskinder“ gelesen. Ich dachte dabei sogleich an eine neue übeltatvariation der priester, pastoren, lehrer, regisseure und trainer. Wegen der frage: ‚was kommt jetzt neues zum tema‘ habe ich mir die sendung angehört und alsbald überrascht erkannt: man spricht über mich. Die bezeichnung „verschickungskind“ war mir allerdings fremd; ich habe mich deshalb nicht unter dieser indizierung identifiziert. Meine eltern hatten mich seinerzeit 6 wochen zur kur geschickt. „Zur kur gehen“ verband man, damals wie heute, mit einem heilenden aufenthalt. Meine kur-zeit hatte allerdings keinen kurierenden charakter. Das zur kur geschickte kind kam als ein verschicktes kind zurück. Eine bestätigung dieser klassifikation fand ich in den berichten, die die schriftstellerin Anja Röhl gesammelt hat. Anja Röhl hat sich zum ziel gesetzt, die erlebnisse und langzeitschäden von verschickungskindern aufzuzeigen. Auf ihrer webseite appelliert Anja Röhl zum einsenden eigener erlebnisse.[1] Durch Anja Röhls initiative habe ich neue startpunkte für den verlauf meines lebens finden können. Zufällig fragte mich einige wochen nach der entdeckung meiner neuen kindlichen einordnung eine 20 jahre jüngere bekannte, ob ich einst verschickt war.[2] Ich war somit doppelt sensibilisiert, meine ins unterbewusste versunkene vergangenheit hervorzuholen.

2 geschichtlich, persönlicher hintergrund
Mein väterlicher grossvater hatte den sicheren tod in den schützengräben des 1. weltkriegs
mit seelischen verletzungen überlebt. Der mütterliche grossvater amputierte als sanitäts-soldat zerschossene gliedmasse. Die mütterliche grossmutter beobachte die vertreibung einer jüdischen nachbarsfamilie. Mein vater nahm als sanitäter in Amsterdam die deportation der juden wahr. Meine mutter war im arbeitsdienst erfolgreich aktiv und sah in ihrer helfenden tätigkeit einen positiven sinn.
Die grosse synagoge in der innenstadt von Essen, dem wohnort meiner eltern und gross-eltern, wurde gut sichtbar von den einwohnern am 9.11.1938 in brand gesteckt. Die mieter vieler Essener wohnungen bemerkten stumm oder allenfalls mit leisem protest die gewaltsame vertreibung von 2500 juden aus Essen.
Essen erhielt während des krieges von der Royal Air Force den label “primary target area for bombing”. Im märz 1943 begannen die bombardierungen. 242 bombenangriffe zerstörten
90% der innenstadt und 60% des übrigen stadtgebietes. Die explodierenden brandbomben bei nacht, später auch bei tag, deprimierten die bewohner. Die letzten bomben 1945 auf Essen töteten Hedwig, meine grossmutter väterlicherseits. Sie hatte alle hoffnung verloren und war nicht mehr zu bewegen, schutz in einem bunker zu suchen.
Die todesängste der grossväter im 1. krieg, die gestapo und die denunziationen ab 1933, der 2. krieg ab 1939 mit erschossenen ehemännern und brüdern, vergewaltigten müttern und schwestern, flucht und vertreibungen, kriegsgrausamkeiten und bombardierungen schafften ein alltägliches leben, in der gewalt, unsicherheit und lebensgefahr normal war.
Angst und schrecken verschwanden für die überlebenden einwohner Essens am 10.5.1945. Das bemühen brot, wasser, unterkunft und arbeit zu finden bestimmten hinfort den tag. Ein politiker wies den deutschen den weiteren weg: „Wer noch einmal eine Waffe in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen.“ 85% der deutschen bekräftigten in meinungsumfragen und volksentscheiden diese aussage.[3] Doch trotz des deutlich demonstrierten militärischen pazifismus: gewalt gegen kinder galt weiterhin als eine probate erziehungsmetode.
Die im gedächtnis verankerten gewaltsamen erfahrungen der grosseltern, eltern, lehrer und pädagogen blieben lebendig und wurden weitergetragen auf die nun geborenen töchter und söhne.

3 verschickt
Ich bin am 24.10.1948 in Essen geboren, 3 jahre und 5 monate nach kriegsende.
Die versorgungslage war immer noch kompliziert. Die freuden an ihren mahlzeiten, die meine eltern nach den entbehrungen erlebten, konnte ich nicht mitempfinden. Heisshunger oder bevorzugte lieblingsspeisen sind bei mir kaum aufgetreten. Ich blieb im verständnis der elterngeneration ein dünnes kind. Im frühjahr 1955 wurde ich volksschüler in einer klasse von 45-50 kindern. Wie zu hause so auch in der schule erlebte ich gewaltsames vorgehen gegen kinder mittels körperlicher strafen. In den gesprächen mit spielkameraden hörten wir, wie gewaltig es in anderen familien zu ging. Bekannte und kollegen meiner eltern beschrieben lachend und voller stolz, wie sie ihre kinder verprügelten bis sie nicht mehr sitzen konnten. Schlug man in einer familie weniger, so schlug man in einer anderen familie häufiger. Prügelten einige eltern gar nicht, so prügelten manche um so massloser. Das gewaltniveau gegen kinder war in der nachkriegszeit lange konstant.
Als ich 8 jahre alt war, stellte man endgültig fest, ich wäre zu dünn. Man diagnostizierte zwar keine unterernährung, trotzdem empfahl der hausarzt den aufenthalt in einem heim um mich zu mästen. Die kosten der terapie übernahm die krankenkasse. Krankenkasse? Ich fühlte mich mit meinem gewicht nicht krank. Das beabsichtigte ziel und der wohlwollende wunsch, mich selbstständiger werden zu lassen, veranlassten meine eltern mich „zur kur zu schicken“. Meine meinung zur beunruhigenden trennung von mutter, vater, bruder, spiel- und klassenkameraden war nicht gefragt. Ich erinnere mich, das meine mutter begann, namensetiketten in die kleider einzunähen.
Dann kam der tag der abreise. An die sonderzugfahrt mit vielen kindern von Essen bis Dagebüll kann ich mich nicht entsinnen. Ich war zwar bereits oft mit dem zug gereist, aber nicht so weit. Ein so grosses schiff wie die fähre nach Wyk auf Föhr hatte ich noch nie gesehen; die seereise ist mir völlig entfallen. Ich sah auch zum ersten mal das weite meer. Diese entdeckung hat ebenso keine spuren im gedächtnis hinterlassen. (Den überraschenden, erstaunten weitblick mit dem freudigen ausruf „das meer“ höre ich in meiner erinnerung erst 4 jahre später bei ferien auf Walcheren in Holland). Die ankunft auf Föhr und der empfang im kinderheim Schloss am Meer sind mir ebenso nicht gegenwärtig. Der heimname ist mir erst wieder eingefallen durch berichte von verschickten schloss-bewohnern.
Bei der ankunft wurden mädchen und jungen getrennt einquartiert. Ich teilte meinen raum mit 8-10 anderen jungs, möglicherweise einige mehr. Ich erinnere mich nur schemenhaft an eine kurze untersuchung bei einem onkel doktor, der danach nicht wieder erschien. Im speisesal mussten wir an vorbestimmen tischen platz nehmen, wieder jungen und mädchen getrennt. Ein oder zwei kleinere tische fielen auf, vorgesehen für die kalorienarme diät dicker mädchen. Mir fallen keine dicken jungen ein, denen diese ehre zuteil wurde. Dann kam man bald zum wichtigsten punkt des tages: der namentliche aufruf der anwesenden zur zentral platzierten waage. Das gewicht eines jeden kindes notierte man sorgfältig.
An mahlzeiten war ich nicht sonderlich interessiert. Sie waren wohl meist geniessbar, bei einigen gerichten musste ich erbrechen. Ich erreichte aber stets die toilette ohne vomitale spuren zu hinterlassen. Ob ich darauf einen nachschlag des emeticums bekam, das ich als mittagessen verzehrt hatte, daran kann ich mich nicht erinnern. Später wurde ein tisch in der nähe der toilettentür aufgestellt. Hier sassen nun die nausealen hyperemetiker. Ein mädchen werde ich nie vergessen; es regurgitierte in ihren teller und erhielt darauf den befehl zum verschlingen der kotze. Ich empfand das damals zwar als sauerei, es wunderte mich aber nicht. Es war lediglich eine innovative variation bekannter bestrafungen. Das mädchen mit dem teller voll erbrochenem hat zu meiner grossen bewunderung ihr hervorgewürgtes mahl mit grosser ruhe vertilgen können. Ich kann meine erinnerungsfetzen an weitere vomitale verspeisungsvorfälle nicht zusammensetzen. Es wäre möglich, das solche fälle mit heulen und zähneklappern geendet haben. Das souveräne verhalten des mädchens war allerdings einzigartig und beeindruckte mich sehr; in ihr haben sich in meinem gedächtnis möglicherweise andere kotzereien kondensiert.
An zwei zeitpunkte im täglichen stundenplan kann ich mich gut erinnern. Morgens mussten wir uns im waschraum halbnackt waschen unter distanzierter beobachtung einer einzigen tante. Abends war nacktwaschen vorgeschrieben. Im grossen waschraum standen viele kleine nackte jungs, nun beaufsichtigt von mehreren glotzenden tanten, die auch durch die reihen gingen. War ein kind zu laut, bekam die geräuschquelle einen klaps auf das nackte gesäss. Ich habe mich damals gefragt, warum man abends mehr aufsichtspersonal benötigte als morgens. Erst viel später erriet ich den grund: die zahlreichen tanten eilten freiwillig zum jungenwaschraum. Die sicht auf die vorpubertären unterleibsregionen der jungs erfreute die tanten, wie wir aus ihrem lebhaften gekicher und geflüster hätten feststellen können, wenn wir bereits sinn für solche zusammenhänge gehabt hätten.
Vom übrigen tagesablauf habe ich nur verschwommene anhaltspunkte. Das vorgeschriebene schlafen nach dem mittagessen erlebte ich als zumutung. Ich war hellwach und hatte wie alle 8-jährigen, den drang mich zu bewegen. Ich ruhte also gezwungenermassen auf der liege und schaute umher. Eine tante befahl dann strengstens die augen zu schliessen, was ein sehverbot darstellte. Ich möchte das als ersten übergriff mir gegenüber definieren. In gewissen abständen postkarten oder briefe nach hause zu schreiben war für mich als ein noch schreibenlernender schwierig. Ich war den tanten deshalb dankbar für vorformulierte sätze, selbst wenn sie meine wahrnehmungen nicht wahrheitsgemäss darstellten.
Prügelnde und ohrfeigende tanten habe ich nicht beobachtet. Die strafen waren gemeiner. Mein schlafsaal lag gegenüber der toilettentür. Neben der toilette befand sich der wohn-raum einer tante. Der lokus alten stils wirkte mit einer sehr effektiven wasserspülung, die von grosser höhe mit lautem getöse die hinterlassenschaften verschwinden liess. Die benutzung der toilette und der anschliessende wasserfall störte verständlicherweise die nachtruhe der im zimmer nebenan schlafenden tante. Wir erhielten daher striktes toiletten-benutzungsverbot. Ein eimer wurde notgedrungen als urinoir ins zimmer gestellt. Es gab zwei nächte während unserer heimzeit, in denen wir aussergewöhnlich grosse mengen urin abgaben. Der eimer war also bald vollgepisst. Um ihn nicht überlaufen zu lassen gingen wir zur toilette und benutzten danach intuitiv die wasserspülung. Die schlafgestörte tante kam wutentbrannt aus dem zimmer. Die kollektivpissenden übeltäter mussten sich nun mit dem gesicht zur gangwand aufstellen mit "hände hoch". Demjeningen, dem die erhobenen hände absackten, bekam von der tante einen schlag auf den arsch. Dadurch qualifizierte sich der pisser für eine decke, die die tante dem deliquenten, nun "hände runter", überlegen konnte, denn es war kalt im gang. Das ergebnis dieser pädagogischen massnahme war vor-programmiert. Bei der nächsten polyurie pinkelten wir den eimer voll bis zum rand und darüber hinaus. Die überlaufenden renalen exkretionen verteilte sich gelblich-grossflächig auf dem zimmerboden. Diese sauerei kritisierte indigniert am nächsten morgen die dienst-habende tante. Ich möchte dies als zweiten persönlichen übergriff definieren. Ein 8-jähriger kann rational entscheiden, hat durchaus einen begriff von ursache und wirkung. Das resultat unseres dilemmas (was wir auch tun ist falsch) konnten wir allerdings intellektuell nicht verarbeiten. Von Antigone hörten wir erst später in der schule. Der übervolle eimer und die verbotene toilette verdeutlichen das pädagogische ungeschick der tanten. Ich habe leider vergessen, wie der konflikt zwischen der zürnenden diensttante, der unausgeschlafenen latrinentante und uns jungen mit imperativem harndrang aufgearbeitet wurde. Ich frage mich heute, wie die nächtlichen faeces verschwanden. Der einzig zulässige ort war das WC, denn einen behälter für skatologische gebilde hatte man uns wohl aus olfaktorischen gründen erspart. Da die benutzung der wasserspülung verboten war, müssten sich im laufe der nacht allerlei exkremente im scheisshaus angesammelt haben, was zusammen mit dem lokuspapier sicher zu verstopfungen geführt hat. Ich kann mich aber weder an solche anrüchigen schandtaten noch an folgende bizarre strafaktionen erinnern.
Während eines ausgangs mit versteckspielen zwischen bäumen und büschen packten mich plötzlich zwei heimjungen und führten mich zu einer abgelegenen lichtung. Hier befahl mir eine grossschnauze gegen einen ausgewählten jungen zu kämpfen zur feststellung des stärksten im schloss. Ich protestiere mit dem argument, das bestimmen des stärksten interessiere mich nicht. Kampfverweigerung oder flucht war jedoch nicht möglich. Ich bekämpfte deshalb den mir angewiesenen gegner und verlor. Mit dem ablegen eines gelübdes, nichts über den mannhaft-muskulösen unsinn zu erzählen, entliess man mich aus dem kreis der starken jungs. Ich hielt leider mein versprechen. Irgendein verrückter kerl im heim hetzte andere jungs gegeneinander auf und die tanten ignorierten dieses inhaltslose männlichkeitssritual.
Einer der letzten tage im schloss begann feierlich. Vor versammelter gesellschaft betrat jedes mädchen und jeder junge die waagschale. Lautstark wurde darauf anfangs- und endgewicht des probanden proklamiert und die gewichtszunahme beurteilt, je zahlreicher die kg, desto grösser die fröhlichkeit. Das am meisten zugenommene kind erklärte man mit tösendem applaus zum sieger. Die verkündigung meiner kläglichen zunahme von 50 g[4] notierte man mit verdruss. Ich aber war begeistert. Instinktiv hatte ich mich den zwängen und vorschriften der schlosstanten verweigern können durch unbewusste beschränkung der ohnehin unschmackhaften mahlzeiten. Die öffentlich bekundete minimalzunahme war mein protest gegen das schloss, gegen arzt, eltern und krankenkasse, die mich dorthin verschickt hatten. Diese interpretation habe ich damals als 8-jähriger sicher nicht ausdrücken können. Erinnerungsfragmente lassen jedoch diese schlussfolgerung zu. Die gewichtsabnahme der anfangs zu dicken mädchen vermerkten die dicker gewordenen jungs mit geringem applaus.
Der letzte tag im schloss, die rückfahrt mit schiff und zug nach Essen, die freude zu hause zu sein, eltern und bruder zu sehen, wieder in den klassenverband aufgenommen zu werden, von alledem hat sich nichts eingeprägt. Habe ich meinen eltern, meinem bruder, den klassenkameraden von meinen bedrängnissen erzählt? Ich vermute, ich habe sehr zurückhaltend und wortkarg berichtet.

4 konklusion
Die 6-wöchige, 42 tage lange residenz im Schloss am Meer hat kein angenehmes andenken hinterlassen. Allerdings registriere ich beim nachsinnen 65 jahre später auch keine mich traumatisierenden vorfälle im Schloss am Meer.
Im nachhinein ist mir das fehlen von männern im heim aufgefallen. Wir kinder hatten nur mit frauen zu tun. Ob man sie tanten nannte oder nennen musste ist mir entfallen. Wenn es onkel gegeben haben sollte, so blieben sie unregistriert im hintergrund. Die tanten begegnen mir im rückblick als gesichts- und namenslose wesen. Sympatie oder antipatie konnte sich deshalb nicht entwickeln. Bis auf eine ausnahme: tante Siegrid war etwas älter als die anderen. Mit ihr war es angenehmer, sie zeigte uns eine gewisse zuneigung. Aber auch sie war keine verschweigungspflichtige vertrauensperson, keine ombudsfrau, der man probleme hätte mitteilen können. Hatten die jungen tanten damals eine pädagogische ausbildung? Reichte als qualifikation zum umgang mit kindern möglicherweise nur ihre fertilen fähigkeiten als künftige mütter?
Ich habe keine royale hierarchie im schloss bemerkt. Eine majestätische obertante, verantwortlich für die vorgänge, hat sich nicht offenbart.
Ich schliesse für meine periode im schloss die in anderen berichten vermuteten medikamententests aus. Solche untersuchungen erfordern genaue protokollierung. Ich konnte das nicht beobachten. Gerade das erbrechen hätte genau aufgezeichnet werden müssen als unverträglicheitsindikator eines arzneimittels.
Im rückblick hatte die verschickung einige durchaus wünschenswerte wirkungen auf mein leben. Ich habe gelernt in einer gruppe fysisch anwesend zu sein ohne psychisch dazu-zugehören. Dies hat mir später geholfen, bei langweiligen konferenzen und besprechungen mich von den rednern abzukoppeln und mich gedanklich mit interessanteren dingen zu beschäftigen. Der ringkampf zur bestimmung des stärksten jungen hat in mir eine geringschätzung jeder korporation ausgebildet. An mannschaftssportarten habe ich nie gefallen finden können. Gegen die allergrösste, seinerzeit obligatorische nationale männergemeinschaft entwickelte ich eine starke abneigung. Meine kriegsdienst-verweigerung hat wahrscheinlich zu einem teil mit der kasernierten kur auf Föhr zu tun. Ich habe vermutlich im schloss eine erste vage antwort zur frage gefunden: Ist das, was alle tun, unbedingt richtig? Ist es richtig für mich?[5]
Für den norddeutschen tourismus resultierte meine vorübergehende anwesenheit auf Föhr in einer darauffolgenden fortwährenden abwesenheit. Wenn mir freunde erzählen, sie wollen ferien auf Föhr machen, so reagiere ich instinktiv mit dem gedanken: da fahr ich nicht hin. Föhr hat mir auch die ostfriesischen inseln versperrt. Die westfriesischen inseln Texel, Vlieland und Ameland habe ich dagegen oft besucht. Mit diesen inseln verbinde ich schöne erfahrungen. Als die direktflüge von Trondheim nach Amsterdam eingeführt wurden, sass ich bevorzugt auf der rechten seite und erfreute mich im anflug auf Amsterdam bei klarem wetter im westen Schiermonnikoog, Ameland, Terschelling und etwas weiter entfernt Vlieland zu erkennen. Die direkt unter mir liegenden deutschen inseln von Wangerooge bis Borkum nahm ich nicht wahr. Bei anderen flügen nach Amsterdam, auf der linken seite des flugzeugs sitzend, schaute ich interessiert auf die dänische küste, auf die inseln Fanø und Rømø bis zum gut zu erkennenden Sylt. Meine geografischen beobachtungen waren damit abgeschlossen; Föhr und die nachbarinsel Amrum bemerkte ich nicht.
Als unangenehmer langzeitschaden des heimaufenthalts vermute ich den 6-wöchigen ausfall des rechenunterrichts. Ich habe den fehlenden stoff zwar den regeln entsprechend aufholen können. Es ist aber möglich, das mir die lange unterrichtspause einen ganzheitlichen zugang zur matematik verwehrt hat.
Mein jüngerer bruder ist 1 oder 2 jahre später ebenfalls verschickt worden, nach Bayern.
Ihm haben die 6 wochen als verschickungskind gefallen. Es ging also damals auch anders.
Wir brüder haben allerdings untereinander nie wieder unsere heimaufenthalte erwähnt.
Erstaunlicherweise habe ich, das verschickte kind, aus der unangenehmen residenz im Schloss am Meer einiges positiv prägende mitnehmen können für den darauffolgenden lebenslauf.

5 epilog
Was ist aus dem kleinen mädchen geworden, das gefasst ihre kotze verschlang? Hat sie emotionelle langzeitschäden davongetragen? Sie verhielt sich aussergewöhnlich; ich vermute, sie hat die brechreizeregende dummheit der tanten nicht in ihre seele eindringen lassen. Warum haben wir kinder unser gemeinsames leiden individualisiert? Warum habe ich als 8-jähriger nicht dem gleichaltrigen mädchen geholfen? Ich war zu unterstützender solidarität nicht fähig.
Gewalt gegen kinder hat die kinderbuchautorin Astrid Lindgren (1907-2002) unmiss-verständlich kritisiert. Warum war es eine bewohnerin aus dem vom krieg verschonten Schweden, die gewalt gegen kinder als frevel bezeichnete? Warum entsprang aus dem leidzufügenden und leidenden volk der dichter und denker nach dem krieg nicht sofort eine gewaltfreie pädagogik? Warum gaben deutsche juristen ihren kindern keine besonderen rechte? Die UN-kinderrechtskonvention trat 1990 in kraft. In Deutschland wurden körperstrafen eine generation nach mir, ab etwa 1968 verpönt, dann 2000 unzulässig und 2001 strafbar.[6]
Hätten die tanten im Schloss am Meer wegen "schwarzer pädagogig"[7] angeklagt werden können? Hätten deutsche juristen, die nach dem krieg die beihilfe zum massenmord mit milden strafen verurteilten,[8] erzwungene emetofagie als justiziabel angesehen?
Die naziführer und nazitäter nannten in den gerichten als motivation für ihre mörderischen untaten den befehlsnotstand. Man hätte nach 1970 eltern, erzieher, lehrer und pädgogen nach ihren beweggründen zur gewalt gegen ihre kinder befragen müssen. Ein befehl lag nicht vor. Eine darlegung der gründe hätte die moralische schuld der täter und tanten aufgedeckt, reue und auch die bitte um verzeihung ermöglicht.


[1] https://verschickungsheime.de/ https://anjaroehl.de/ abgerufen am 18.2.22
[2] Ich danke Nike Knoblach für diskussionen, anmerkungen und korrekturen mit einem soziologisch-
pädagogischen blickwinkel.
[3] Jürgen Kuczynski, So war es wirklich - Ein Rückblick auf 20 Jahre Bundesrepublik, Staatssekretariat für westdeutsche Fragen, Berlin 1969, p. 113
[4] Ich kann mich an die genaue gewichtszunahme nicht erinnern. Es war aber sehr wenig im vergleich zu den anderen.
[5] Die beantwortung der frage „Ist das, was alle tun, richtig für mich?“ hat mir früh ermöglicht, gruppenzwängen auszuweichen. Alle rauchten zu meiner jugendzeit. Ich nicht. Einige soffen. Ich
war nie besoffen. Alle trugen bei feierlichkeiten anzug + krawatte. Ich sah keine praktische funktion dieser textilien. Alle assen alles. Ich kaute ab einem bestimmten zeitpunkt keine kadaver mehr. Ein relikt aus dem mittelalter, die deutsche unrechtschreibung, ersetzte ich mit der reformierten, gemässigten kleinschreibung. Die ausgrenzenden konsequenzen, manchmal auch die ermutigende anerkennung als aussenseiter nahm ich in kauf. Bemerkenswert ist eine
beobachtung, die mir während des schreibens zum ersten mal deutlich wurde. Alle machten zu meiner jugendzeit möglichst schnell den führerschein und kauften ein auto. Sie erlebten die neue mobilität als zunahme der persönlichen freiheit. Ich zögerte diese wünsche hinaus, folgte dann aber doch dem trend der altersgenossen. Ich erhielt problemlos meinen führerschein. Ich kaufte ein auto. Wollte es dann aber zu meiner überraschung gar nicht fahren. Ich überwand erfolgreich den fahrwiderstand und bin dann viel gefahren. Von Essen zum studienort Fribourg (Schweiz) und zurück mehrmals im jahr; lange autofahrurlaube führten wiederholt bis Rumänien und Griechenland. Gute erinnerungen mit dem auto haben sich nicht eingeprägt; die lebensgefährlichen episoden sind jedoch präsent. Allmählich verursachte mir das fahren auch von kürzeren strecken eine ungeheuere langweiligkeit. Es erhöhten sich zunehmend die sekundenschlaf-momente. Nachdem ich 10 jahre am steuer sass, beschloss ich eine autopause einzulegen. Auf 10 gute jahre sollten nun 10 schlechte jahre kommen (in anlehnung an die alttestamentliche weisheit: nach 7
reichen jahren folgen 7 hungerjahre). Ich fuhr das fahrzeug zum schrottplatz und erlebe nun seitdem ohne auto die umweltfreundliche unabhängigkeit. Ich habe keine autofobi. Ich fahre gern mit. Doch für mich ist autofahren einfach nicht mein ding. Ich vermute, die verschickung ins Schloss am Meer hat mir den keim gegeben, unannehmlichkeiten und unverträglichkeiten zu erkennen und zu vermeiden.
[6] Bundesgesetzblatt 2000 Teil 1 nr. 48, s. 1479; § 1631 Abs. 2, Bürgerlichen Gesetzbuches 2001
[7] Unter schwarzer pädagogik wird erziehung verstanden, die gewalt, einschüchterung und
erniedrigung verwendet.
[8] Frankfurter Ausschwitzprozesse 1963-1968 und spätere vernichtungslagerprozesse

Trondheim 18.2.2022

Zur person
Hans-Richard Sliwka, deutscher und schweizer staatsbürger, verheiratet mit einer griechin, die ebenfalls schweizerin ist, lebt in Trondheim (Norwegen). Die nachnamensgebenden vorfahren stammen aus Östereich-Ungarn, aus einer gegend, die heute in Polen, Tschechien und der Slowakei liegt. Geboren am 24.10.1948 in Essen, einschulung 1955, dann 1 jahr gymnasium, 6 jahre realschule, 3 jahre ausbildung als chemielaborant (chemieindustrie, berufsschule), arbeit als chemielaborant, danach abiturklassen. Seit november 1972 studium der chemie in Fribourg (CH), abschluss als diplomchemiker, anschliessend promotion. 1984 post-doc in Trondheim (Norwegen), darauf in Trondheim industriechemiker, dann universitätsangestellter mit aufgaben in forschung, lehre und administration. Seit november 2018 rentner.


Hans-Richard Sliwka
Skansegata 26A
7014 Trondheim
Norwegen

richard.sliwka@ntnu.no
0047 73525538
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