Zeugnis ablegen

ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN

Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung.

Wir bauen außerdem ein öffentlich zugängliches digitales Dokumentationszentrum auf, dort ist es möglich seinen Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild zu versehen und zusammen mit der Redaktion einen Beitrag zu erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einzustellen, der für zukünftige Ausstellungen und Dokumentationen benutzt werden kann. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel

Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr drei Möglichkeiten:

  1. Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei der Buko Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selber einer.
  2. Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
  3. Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen

Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!

Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.

Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.

Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der “Initiative Verschickungskinder” (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen

Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.:     IBAN:   DE704306 09671042049800  Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de

Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen


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Willi Schmidt schrieb am 14.01.2020
Die Geschichte der Verschickung beginnt mit dem Gips-Bett. Ich bin noch sehr klein. Etwas ist schief gewachsen bei mir, die Wirbelsäule ist nicht in der Form, in der sie sein soll, mein rechtes Bein ist länger als das linke. Aber so ein kleiner Körper ist noch dehnbar, kann angepasst werden. Mir wird ein Gips-Bett verordnet. So wird es jedenfalls genannt. Das ist ein weißes, hartes Brett, in leicht gebogener Form, ungefähr so lang wie ich groß bin, mit mehreren blauen Riemen an den Seiten. Das Gips-Bett bekommen wir mit nach Hause und ich muss mich mit dem Rücken darauflegen. Dann werde ich mit den Riemen festgeschnallt, an Füßen, Händen und Hüfte, so dass ich mich nicht bewegen kann. So muss ich liegen. Ich weiß nicht wie lange, wie oft. Eine Stunde, einen Tag, täglich, immer. Es kommt mir vor, als liege ich immerzu im Gips-Bett. Ich zerre irgendwann an den Fesseln, weil ich mich bewegen will, es ist schrecklich, sich nicht bewegen zu dürfen, ich will aufstehen, rennen, immerzu will ich rennen, und das tue ich auch immer, wenn ich losgeschnallt werde, angezogen bin, hinaus, und rennen, den Fußball suchen, ihn mitnehmen, auf die Wiese hinter dem Haus, und rennen. Bis ich wieder angeschnallt werde und liegen muss, im Gips-Bett. Dann hilft nur noch träumen, sonst nichts.
Als ich älter werde, brauche ich nicht mehr ins Gips-Bett. Es wird Gymnastik verordnet und das Tragen einer Einlage im linken Schuh wegen den unterschiedlichen Beinlängen. Ein Zentimeter ungefähr, wovon ich nichts merke.
Für die Gymnastik muss ich nach Marburg in die Orthopädie.
In den Fluren und im Wartesaal riecht es vermodert. Ich schäme mich beim Ausziehen. Aber die kühlen Hände der Frau im weißen Kittel tun wohl, wenn wir die Übungen machen.
Später, als ich älter bin, kann ich schon allein mit dem Bus nach Marburg fahren. Die Gymnastik ist jetzt auch im Schwimmbad der Orthopädie. Im warmen Wasser werden ich an den Hüften gehalten und mache Bewegungen, lerne allmählich auch schwimmen, zuerst mit dem Schwimmreifen, kann schaffe ich es schon ohne, ein Stückweit im Wasser.

Eines Tages werde ich dann von der Orthopädie in die Hautklinik geschickt. Seltsame Flecken haben sich auf meiner Haut herausgebildet. Vor allem auf der rechten Seite, an Armen, Hüfte, Beinen und es sieht aus, als wäre ich da stark sonnengebräunt, während die restliche Haut ganz hell ist. Der Arzt in der Hautklinik ist sehr interessiert. Er macht sich Notizen, murmelt etwas vor sich hin, es hört sich an wie: Eine besondere Ausprägung. So noch nie gesehen. Er spricht lange mit Mama, aber es scheint nichts Schlimmes zu sein, weder der Arzt noch Mama schauen ernst. Der Arzt mustert mich nochmal, schüttelt leicht den Kopf und lächelt mich an. Dann spricht er mit Mama einen Termin ab.
Ich stehe in einem Saal in der Uniklinik. Neben mir der Arzt, vor mir, um mich herum Männer und Frauen in weißen Kitteln, ich erkenne sie nicht genau, ich werde angeleuchtet und trage nur eine Unterhose. Der Arzt sagt: „Schauen Sie. Schauen Sie genau. Diese ungewöhnlichen Flecken auf der Haut des Jungen. Die Flecken in dieser Form sind ein seltenes Phänomen.“ Ich muss mich gerade hinstellen, ich zittere. Er fährt mit seiner Hand meine Wirbelsäule ab. Seine Finger sind kalt. „Typischer Haltungsschaden… schief gewachsen… natürlich zwei unterschiedliche Baustellen, kein Zusammenhang…“ Er fasst mich an den Schultern, dreht mich. Diesmal kommt die Kälte über seine beiden Hände. Ich zittere stärker. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, meine Junge“, sagt er. Dann wendet er sich wieder an die Männer und Frauen in weißen Kitteln. „Und hier: die Flecken ziehen sich über die ganze rechte Seite nach unten, während die linke Seite unauffällig ist. Hier, bis zu den Beinen.“ Dabei streift er meine Unterhose nach unten. „Ein interessanter Fall. Aber unabhängig davon. Der Junge ist für sein Alter zu zart gebaut. Ein schwächlicher Junge… eine Kur täte dem Jungen gut… ich werde mit seinen Eltern sprechen.“

2
Ich werde zur Kur nach Karlshafen geschickt. Das ist gar nicht weit weg von uns. In Nordhessen. Mit dem Zug geht es nach Kassel. Dann der Umstieg in einen kleineren Zug, bis nach Karlshafen. Ich will da nicht hin, aber ich muss. Der Arzt in der Klinik hat das angeordnet und Mama und Papa lassen es ausführen. Ich muss. In Karlshafen ist ein großes Haus voller Nonnen. Jedenfalls sehen sie für mich wie Nonnen aus. An denen ist alles schwarz. Es ist, als würden sie immer Trauer tragen. Die sprechen nur in Befehlen. Am Anfang muss ich alles abgeben, was ich besitze. Nicht einmal die Fußballerbilder von den Spielern des FC Bayern, die ich bei mir trage, darf ich behalten. Ich will das Bild von Franz Beckenbauer nicht abgeben, ich sage, dass ich das von meinem Papa habe, mit einem Autogramm drauf. Und einen Wimpel. Der hängt bei mir zu Hause über dem Bett. Aber die Nonne ist unerbittlich, ich muss mich fügen und ihr das Bild geben. Ich sehe, wie sie es in den Papierkorb wirft.
Dann komme ich zu den an¬deren Kindern in den riesigen Räumen. Alle Räume sind riesig und in allen Räumen sind immer alle Kin¬der zugleich. Nur Jungs allerdings; in dem Waschraum, dem Essraum, dem Schlafraum. Es riecht schrecklich nach Seife und Zahnpasta. Beim Waschen nimmt eine der Nonnen einen Waschlappen und zeigt mir, wie ich mich zu waschen habe, auch zwischen den Beinen. Sie reibt mit dem Waschlappen ganz fest auf mir, da wo der Pimmel ist, dass es sehr weh tut. Mir schießen Tränen ins Gesicht, da kriege ich eine Ohrfeige. Zum Essen gibt es immer Hagebuttentee. Den mag ich nicht, ich will lieber Kaffee trinken, wie daheim, aber das ist verboten, die Nonnen befehlen mir, den Hagebuttentee zu trinken, ich würge ihn hinunter, sonst bekäme ich gar nichts. Ich fürchte mich vor ihrer Trauerkleidung.
Der bittere Geruch des Hagebuttentees. Kriecht langsam in die Nase. Das Ansetzen der großen, weißen Tasse an den Lippen. Die lauwarme Flüssigkeit. Der Hustenreiz. Das ruckartige Herunterschlucken. Der krampfhafte Schmerz im Bauch. Das Unterdrücken des Brechreizes. Und wieder das ruckartige Herunterschlucken der Flüssigkeit. Der bitter-abstoßende Geschmack auf der Zunge. Die Hitze, die sich über das Gesicht ausbreitet. Die aufsteigenden Tränen in den Augen. Und weiter. Sich zwingen. Der nächste Schluck. Der Schmerz im Bauch. Das kurzzeitige Absetzen der Tasse. Der strenge Blick der Nonne. Und weiter: unter Tränen, mit zittrigen Fingern, die an der Tasse kleben, der nächste Schluck, immer weiter, bis die Tasse endlich leer ist. Das Aufatmen, endlich. Die Entspannung im Bauch. Das sich abwischen der Tränen. Das beruhigte Sitzen auf dem Stuhl am Tisch. Der auf die leer getrunkene Tasse gerichtete Blick.

Im Schlafsaal stehen ganz viele Betten mit eisernem Gestell. Die Wände sind gelblich verblasst, über der Tür hängt ein großes Holzkreuz. Abends geht das Licht aus und wir liegen mit all den vielen Kindern in dem riesigen Schlafsaal, ohne müde zu sein. Da reden noch einige Kinder, es wird nicht gleich still. Und dann kommen die Nonnen durch unsere Reihen zwischen den Bet¬ten gerast und geben uns Ohrfeigen, alle bekommen Ohrfei¬gen, egal, ob man ruhig gewesen ist oder nicht. Das geht so lange, bis alle still sind, bis alle ihr Weinen ins Kissen gedrückt haben, damit es verstummt.
Zu Hause bekomme ich nie eine Ohrfeige und werde nie geschlagen. Nur einmal bekomme ich schwer Geschimpftes, weil ich gelogen habe. Es kommt aber heraus, und da packt sie mich an den Schultern und schüttelt mich und schimpft mich ganz laut, dass ich nicht lügen darf, auf keinen Fall lügen. Das sagt Papa auch immer und sie haben ja recht: es ist nicht richtig zu lügen. Es war nur, weil, Mama und Opa streiten oft, das kann ich nicht aushalten. Das kommt manchmal ganz plötzlich. Dann fliegt etwas durch die Gegend, wie neulich eine Schüssel Mehl und Mama knallt die Flurtür so heftig zu, dass die Scheibe zersplittert. Ich weiß nicht, warum sie sich so streiten, ich hau dann ab und verkrieche mich.

Zur Kur in Karlshafen gehört eine besondere Art des Badens. Dazu geht es im Schlafanzug, das große Badetuch in der Hand, hinter der Nonne her, die Treppe hinunter. Da ist ein großer, hellgrün gekachelter Raum, in dem stehen mehrere Badewannen, durch weiße Vorhänge getrennt. Auf Geheiß der Nonne ziehe ich meinen Schlafanzug aus und steige in die Wanne. Solbad nennen die das hier. Wasser mit Salz drin, so ein besonderes Salz, sagen die. Aber immerhin ist das Wasser so warm wie in der Orthopädie, wo ich Wassergymnastik machen muss. Und wenn ich erstmal in der Wanne sitze, werde ich in Ruhe gelassen und kann so für mich hindenken. Fast wie daheim, wenn ich in der Küche auf dem Holzkasten sitze, wo das Holz für den Herd drin ist und aus dem Fenster schaue.
Ich werde aus dem Träumen herausgerissen. Die Nonne fasst mir an die Schulter. Ihre Hand ist kalt. Ich muss raus aus dem warmen Wasser, steige aus der Wanne. Ich reibe mir die Augen. Dann erstarre ich. Ein Strahl eiskalten Wassers. Die Nonne duscht mich kalt ab. Ich friere. Ich zittere. Ich kriege eine Gänsehaut. Endlich darf ich mich abtrocknen.

Ich habe Heimweh. Hier lässt man mir keine Ruhe. Immer sind die Nonnen um mich herum und passen auf, hüten, kontrollieren. Malen dürfen wir nur in die vorgedruckten Formen im Malbuch. Ich will das vorgedruckte nicht malen, ich will das malen, was in meinem Kopf ist, aber das darf ich nicht. Ich starre an die Wand. Wenn ich lange auf die Wand starre, entstehen Bilder auf der Wand, als würde ich sie malen in meinem Kopf. Ich darf mein eigenes Bild nicht malen, deswegen male ich es in meinem Kopf an die kahle Wand.
Die Nonnen geben mir keine Zeit zum Nichtstun, zum Schauen. Immer muss ich was tun, und zwar das, was die Nonnen wollen. Nicht einmal vor dem Schlaf lassen sie mich in Ruhe. Sie wollen mich zerstören. Wenn ich mein Weinen ins Kissen drücke, sinne ich nach einem Ausweg. Über mir spüre ich den riesigen, bedrohlichen Schatten der Nonnen. Da kriege ich Fieber. Und als das Fieber nicht weggeht, kommt der Arzt. Es sind die Masern. Da sind überall die roten Flecken und das Fieber, die Erlösung. Ich entkomme ihnen.
Jetzt darf ich im Krankenzimmer liegen. Da bin ich meistens allein und das macht mich froh, denn ich habe meine Zeit wiedergewonnen. Einmal darf ich sogar Kaffee trinken, weil ich so krank bin und mir deshalb etwas wünschen darf.
Ich denke an Papa. Von ihm wünsche ich mir immer das Hasenbrot. Die Hände von Papa riechen nach Teer. Sie riechen immer nach Teer. Der Papa ist die Woche über unterwegs und teert Straßen. Freitagabends wird er von einem Bauarbeiterbus vor unserem Haus abgesetzt. Er kommt dann müden Schrittes mit seiner vollgepackten, abgewetzten Ledertasche zur Küchentür herein, stellt die Tasche ab und lächelt. Ich renne dann auf ihn zu und drücke meinen Kopf an die von Teergeruch durchzogene Arbeitshose, bis er seine rauen, warmen Hände über mein Gesicht gleiten lässt.

Die letzten paar Tage der Kur sitze ich im Krankenzimmer dann leicht ab, ich zähle sie heimlich jeden Abend, und dann darf ich wieder heim.

3
Ich sehe mich im Garten vom Haus Ditmarsia in St. Peter Ording. Wir spielen Völkerball im Garten. Ich habe kurze, blonde Haare, bin schmal, meine Arme sind sehr dünn, und auch meine Beine, man sieht das jetzt, wo ich in kurzer, schwarzer Turnhose umherrenne. Dafür, dass ich deutlich schmaler und kleiner bin als die meisten anderen, sind meine Beine aber erstaunlich lang. Ach, wenn wir doch mal Fußball spielen dürften, aber das dürfen wir nicht, ich schwitze, der Schweiß läuft mir über das Gesicht, über Arme und Beine, und immer weiter rennen, nicht stillstehen, das ist viel besser, als selbst zu werfen, beim Werfen habe ich keine Kraft und auch keine Technik, der Ball fliegt viel zu langsam, verhungert geradezu in der Luft, keine Chance, damit einen der anderen Jungs abzuwerfen, du wirfst wie ein Mädchen, wie ein Mädchen, und das Lachen poltert über mich hinweg, ich versuche es poltern zu lassen und es wieder zu vergessen, lieber wieder rennen, rennen und rennen und schwitzen und rennen und am Schluss, wenn das Spiel zu Ende ist, am Boden liegen, im Gras, ausgestreckt, grüne, feuchte Streifen auf Beinen und Armen.
Später gibt es kalten Kakao und Streuselkuchen. Unter Bäumen, im Schatten, auf langen Bänken hockend. Ich vertiefe mich in dieses Bild, trinke den Kakao, etwas gierig, mit großen Schlucken, kaue genüsslich den Streuselkuchen, spüre die Ruhe dieser schattigen Nachmittage. Aber sie sind selten, und wenn, dann nur von kurzer Dauer. So, jetzt singen wir gemeinsam, und dann geht es rein. Duschen und umziehen. Die Aufforderungen der Tanten kommen schnell und dulden keinen Widerspruch. Und schon stehen wir auf, treten an in gerader, fester Reihe und eine der Tanten stimmt ein Lied an.
Die zweite Verschickung, ungefähr drei Jahre später. Diesmal eine wesentlich weitere Reise. St. Peter Ording an der Nordsee. Haus Ditmarsia.
Wir fahren nachts. Ich bin mit fünf anderen Kindern im Liegewagenabteil. Ich kenne alle ein bisschen, kommen aus Nachbardörfern. Agnes geht mit mir in die gleiche Klasse, dunkelblonde Locken, dicke Brille. Wir plaudern, spielen Auto-Quartett, sind vergnügt. Das Zuhause ist noch nah. Die Färbung der Worte, der Klang der Laute sind vertraut. Geschlafen wird kaum. Alle sind aufgeregt, keiner ist allein so lange und so weit von zu Hause fort gewesen. Außer mir. Aber an die Zeit in Karlshafen will ich nicht denken, diese Zeit ist, als hätte sie gar nicht existiert.
Der Nachtzug, der diesmal ein Sonderzug ist, mit Kindern aus Mittelhessen, tuckert seinen gleichbleibenden Rhythmus über die Gleise, mal schneller, mal langsamer, auf seinem Weg zum Kurort an der Dithmarschen Nordseeküste, unweit der Kreisstadt Husum.
Alles, was jetzt kommt, ist neu, denke ich. Es mischen sich Neugier und Furcht. Ich betrachte aus dem Zug, nachdem es hell geworden ist, langgezogene, abgeerntete Felder, dazwischen kleine Wäldchen mit niedrigen Bäumen, keine Hügel am Horizont.
Es ist früh am Morgen. Wir Kinder aus dem Hessischen werden in verschiedene Heime aufgeteilt. Zwei Betreuerinnen des jeweiligen Heimes nehmen uns in Empfang, lassen uns in Zweierreihen antreten. Das Gepäck wird in Kleinbussen wegtransportiert. Ich muss mich von Agnes und meinen anderen Bekannten trennen. Agnes werde ich in den nächsten sechs Wochen nicht wiedersehen, zwei andere Jungs nur von weitem. Wir marschieren los in den fremden Ort. Der Wind ist kräftig und fremd.

In der Anfangszeit ist das Wetter schlecht, und es werden Spiele gespielt, es wird gesungen. Es gibt einen Chef, der spielt Akkordeon. Der hat einen blonden Vollbart und ein kantiges Gesicht. Trägt immer ein blaues Hemd. Der Chef hält Vorträge, über Ebbe und Flut, über das Land, wo wir uns befinden, was eine Halbinsel ist, oder ähnliche Dinge. Manchmal fragt er auch die Hauptstädte verschiedener Länder ab, oder wo welcher Fluss fließt. Wenn der Chef da ist (er ist nicht oft da), ist es ein wenig wie Schule. Vielleicht ist er Lehrer, wahrscheinlich sogar.
„Wie heißt die Hauptstadt von Kuba?“, fragt er und lässt seinen Blick über uns schweifen.
Das ist einfach, denke ich, und sehe den Globus vor mir, der bei uns im Wohnzimmer steht, daneben liegt mein großer Erdkundeatlas auf dem Tisch. Ich schalte die Lampe ein, die im Globus ist, drehe ihn und stoppe mit dem Finger ein Land, wo ich sein will. Dann schaue ich im Atlas nach, was es über das Land zu lesen gibt.
Ich melde mich und komme dran: „Havanna“, antwortete ich.
„Richtig.“ Dann denkt der Chef nach, während er uns alle genau beobachtet. „Und die Hauptstadt der Niederlande?“, fragt er schließlich.
Ich habe nicht gleich eine Antwort darauf, über die Niederlande habe ich noch nichts im Atlas gelesen, obwohl ich natürlich Johan Cruyff kenne und Ajax Amsterdam. Aber ist es auch Amsterdam?
Alle schweigen und der Chef hebt den Zeigefinger, als sei er ein unsichtbarer Stock. „Ja, unsere Nachbarn. Scheinbar leicht und doch nicht leicht“, sagt er, und fügt hinzu: „Es ist nicht immer das, woran man zuerst denkt, also?“
Da meldet sich der Junge, der neben mir sitzt. Er ist schmaler und kleiner als ich selbst und trägt eine dicke, runde Brille.
„Den Haag“, antwortet der Junge, als er vom Chef drangenommen wird.
Deshalb wird er hier „der Professor“ genannt, denke ich. Soll außerdem ein Ass in Mathematik sein.
Der Chef scheint zufrieden und führt dann weiter aus: „Den Haag ist Regierungssitz und Parlamentssitz. Aber für die Holländer ist trotzdem eigentlich doch Amsterdam die Hauptstadt.“ Dann kommt der Chef zu den Flüssen. Zuerst will er wissen, an welchem Fluss Wien liegt. Das weiß ich natürlich. Auch ohne Atlas. Meine Mama spricht dauernd von Wien, dass sie da hinwill. Ich glaube vor allem wegen der Sissi.
Jetzt will er wissen, an welchem Fluss Magdeburg liegt. Wieder schweigen wir alle und ich überlege, ob ich mich melden soll, während der Chef weiterredet, immer den Blick auf uns gerichtet. „Von der Ostzone weiß man ja heute nicht mehr viel. Und. Kann es einer beantworten?“
Ich melde mich, komme dran und sage: „Die Elbe. Magdeburg liegt an der Elbe.“
„Das stimmt. Woher weißt du das denn, mein Junge?“ Er schaut mich an, der Zeigefinger ist verschwunden, jetzt sind seine Hände gefaltet.
„Ich gucke Fußball im DDR-Fernsehen“, antworte ich. „Da spielt doch der 1. FC Magdeburg. Und da sagt das der Reporter: die Elbstädter.“
Der Chef geht ein paar Schritte auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter. „Gut aufgepasst, mein Junge. Aber mit dem Fernsehen der Ostzone müssen wir vorsichtig sein. Alles Propaganda der Kommunisten. Also Vorsicht.“

Wenn es nicht regnet, spielen wir Völkerball. Nie Fußball. Ich frage mich warum. Es fehlt mir sehr, das Fußballspielen. Zu Hause spiele ich jeden Tag. Außer sonntags. Vielleicht mag der Chef kein Fußball. Ich verpasse die Sportschau, darf kein Fußball schauen. Völkerball spielen ist immerhin besser als Schwimmen. Ich mag nicht schwimmen. Ich schäme mich. Mein Körper ist zittrig und schief und fleckig.

Im Ditmarsia ist das Wasser aus den Duschen kühl und hat einen kräftigen Strahl. Mich fröstelt beim ersten Mal. Tante Bärbel heißt die Betreuerin, die beim Waschen dabei ist. Sie trägt einen blauen Badeanzug und hat lange schwarze Haare, die jetzt nass und strähnig über den Schultern hängen. Sie seift uns drei Jungs, die unter der Gemeinschaftsdusche stehen, ein, sich waschen lässt sie uns selbst. Passt aber auf, dass wir es auch überall tun, auch die Ohren nicht vergessen. Und wenn wir allzu schnell die kühle Brause verlassen wollen, scheucht sie uns wieder zurück. Aber immerhin tut es nicht weh, und ich denke für einen kurzen Moment an Karlshafen, aber nur ganz kurz, dann vergesse ich wieder Karlshafen.
“Zu warm zu duschen ist nichts für Jungs,” sagt Tante Bärbel und lacht, “nich, ihr wollt doch stark werden.” Und sie sagt nicht schtark sondern stark mit st. Ich wundere mich. Die Töne hier an der Nordsee klingen so klar und kühl. Und kühl sind die Hände von Tante Bärbel, die kräftigen Hände mit den geröteten Fingerspitzen, wenn sie mich einseift, über den Rücken, den Hintern, die Beine, den Bauch. Da kitzelt es, ich bin schrecklich kitzlig auf dem Bauch. Und Tante Bärbel kitzelt extra und lacht wieder. Jetzt schäme ich mich auch nicht mehr wie anfangs, als ich mich ausziehen musste vor Tante Bärbel oder Tante Hiltrud oder Tante Jutta. Außer dem Chef sind alle Betreuer Frauen, und obwohl sie alle “Tante” genannt werden, sind sie noch sehr jung. Bis auf die Älteste, die Tante Waltraud. Die hat am meisten zu sagen, hinter dem Chef, sie geht nie mit unter die Duschen.
“Du hast ja richtige Flügel”, sagt Tante Bärbel, “Engelsflügel.”
Ich verstehe nicht, was sie meint. Bis sie es mir zeigt: Die hervorstehenden Schulterknochen an meinem schmalen Rücken.
“Mädchen haben Engelsflügel”, sagt Tante Bärbel, “Jungs nicht. Jungs brauchen kräftige Schulter, um Engel tragen zu können. Damit sie losfliegen können. Aber das schaffen wir bei dir auch noch, wirst du sehen.”
“Hast du auch Engelsflügel?”, frage ich zaghaft.
“Na klar”, antwortet Tante Bärbel und zeigt sie mir und ich darf sie anfassen. Die jetzt feuchten und glatten Flügel der Tante Bärbel. Aber nur kurz, denn an dieser Stelle ist sie kitzlig und sie lacht auf. Dann haben wir Spaß miteinander, beim Kitzeln, wir drei Jungs und Tante Bärbel. Sie zeigt uns noch, wie man sich sorgfältig abtrocknet und die Zähne putzt. Dann in den Schlafanzug und ab ins Bett.

Wir liegen zu sechst im Zimmer, aufgeteilt in Zwei-Etagen-Betten. Ich liege unten, ich kann aus dem Fenster nach draußen sehen, Richtung Dünen. Dahinter muss das Meer sein, aber das ist zu weit, um es zu sehen. Neben mir, im Bett nebenan, unten, liegt der Professor.
Wenn ein Gewitter aufkommt, schlafe ich schlecht. Angespannt liege ich im Bett. Hände krallen die Bettdecke, mein Blick huscht zum Fenster hinaus, wo es grell aufblitzt, schließen kann ich die Augen nicht, dann wird das Blitzen nur schlimmer, ich muss hinsehen, in den Blitz hineinschauen. Mein Herz rast, der Himmel ist schief, die Sterne wackeln, vom Sturm gerüttelt treibt der Mond aus der Bahn, er wird ins Meer stürzen. Dann wird alles vorbei sein.
“Bist du wach?”, fragt eine ängstliche Stimme von nebenan. Der Professor zieht vorsichtig den Kopf aus der Decke. Um ihn beim nächsten Donner wieder zu verbergen.
“Du musst in den Blitz sehen”, sage ich leise, “das hilft. Und dann zählen, bis der Donner kommt. Soviel Kilometer weit weg ist dann das Gewitter.”
Der Professor zählt laut mit. Die Entfernung verringert sich. Unsere Gesichter sind einander zugewandt.
“Und wenn es gleichzeitig blitzt und donnert…” Wir schweigen und schauen uns an. Bis der Professor flüsternd weiterspricht. “Dann trifft uns das Gewitter mittendrin. Dann brechen wir mitten auseinander. Wie wenn Papa das Holz auseinanderschlägt, mit der Axt. Und dann?”
“Und dann fliegen wir zu den Sternen. Dann ist alles schief und wackelt und alles ist neu.” Auch ich flüstere, als tauschten wir ein Geheimnis aus, welches niemand erfahren dürfe. Dann strecken wir die Arme aus und fassen einander an den Händen. Bis das Gewitter vorbei ist, bis wir einschlafen können.
Ich hasse alle Wärter auf der Welt. Jetzt und für alle Zeit. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Neben mir schläft der Professor. Er trägt eine dicke runde Brille. Alle lachen über ihn. Ich will sein Freund sein. Es ist die Nacht, als das Gewitter aufzieht. Die Sterne wackeln und sind schief. Schiefer als mein Rücken und schiefer als mein Blick. Die Wärter sind überall. Sie verkleiden sich. Wir müssen zurückschlagen. Wir, die Kinder von Ditmarsia, müssen zurückschlagen. Der Arzt, der in der Klinik meinen Körper ausstellte, der Chef von Ditmarsia. Ich habe euch nicht vergessen.

Der Chef unternimmt Wanderungen mit uns. Dann hat er sein Akkordeon dabei und stimmt frohe Lieder an. Blau, blau, blau blüht der Enzian. Oder: Schwarz-braun ist die Haselnuss. Wir Jungs müssen laut und deutlich singen. Die Lieder schmettern, wie er sagt. Mit Schmackes, wie er sagt. Wir singen Holladihi. Holladiho. Wir sind fröhlich. Wir müssen fröhlich sein. Wir sind Kinder. Und dann durch die Wälder marschiert. Dicht an dicht. Eine geschlossene Reihe müsst ihr bilden, ruft der Chef. Und immer voran, ohne Rast und Ruh, ruft der Chef. Schwarz-braun ist die Haselnuss, schwarz-braun bin auch ich, bin auch ich. Schwarz-braun muss mein Mädel sein, gerade so wie ich.
Wir Jungs verstehen nicht, was wir singen, aber es lässt uns zucken in Beinen und Armen. Im Takt schreiten wir voran. Leicht geht das, wie von selbst. Vorneweg der Chef. Mit kantigem Gesicht und blauen Augen. Auf, auf, Kameraden, auf, auf – auf, auf. Mit Akkordeon und donnernder Stimme. Wir lagen vor Madagaskar. Und hatten die Pest an Bord. In den Fässern da faulte das Wasser. Und täglich ging einer über Bord. Auf, auf. Voran. Und hinterher die Tante Jutta. Mit blondem dichtem Zopf. Und lächelnd. Hinterher.

Schwarzbrot und Graubrot. Butter. Jagdwurst, Salami, Schnittkäse, Quark. Manchmal Essiggurken. Und Hagebuttentee. Morgens wenigstens Milch. Aber kein Kaffee. Und süße Milchsuppe mittags. Und Milch für den Grießbrei. Und Milch für den Milchreis. Mit Obst. Mit Apfelmus. Milchbrötchen. Aber kein Kaffee. Ich beschwere mich beim Professor darüber.
“Was haben die bloß gegen Kaffee”, schimpfe ich, “ich trinke zu Hause immer Kaffee.”
“Ich auch”. Der Professor versteht: “Da ist bloß der Chef dran schuld, der will das so. Der Chef, der mit seinem Tee.” Der Professor verzieht den Mund.
“Teetrinker!”, verurteile ich und spiele Würgen. Wir lachen. Der Professor nimmt die Brille ab. Das macht er selten (außer beim Schlafen und Duschen natürlich). Es ist, als wolle er mir seine Freundschaft zeigen. Ich staune: wie groß seine Augen sind. Tief liegen sie in den Höhlen. Geschützt vom Glas der Brille. Sein Gesicht ohne Brille hat sich verändert, ist härter und fester geworden. Ich habe eine Tür geöffnet bekommen und durch einen Spalt ein Geheimnis sehen dürfen. Wie stark der Professor in Wahrheit ist. Kein Chef wird ihn kleinkriegen.
Ich habe nach Hause geschrieben und mich darüber beschwert, dass es keinen Kaffee gibt. Genauer gesagt: ich habe es versucht. Der Brief wurde nicht weggeschickt. Wurde eingezogen. Der Chef persönlich hat mir einen neuen diktiert: Mir geht es hier sehr gut. Das Wetter ist schön. Das Essen ist gut. Die Betreuer sind nett. Ich habe jetzt kein Heimweh mehr.
Die Stimme war streng, ich hatte keine Chance. Aber ich vergesse nicht, dass es eine Lüge war. Und erzähle es dem Professor. Ich verstehe das nicht, sage ich ihm, man soll doch nicht lügen, das weiß ich von meinem Papa. Wir versuchen es nochmal. Ich schreibe die Wahrheit, auch, dass der vorige Brief gelogen war, eine aufgezwungene Lüge. Aber die Briefmarke. Wie sollen wir an eine Briefmarke kommen? Wir bekommen kein Geld und sind immer unter Aufsicht. Es ist unmöglich, allein das Haus zu verlassen. Vielleicht nachts, aber wir liegen zu sechst im Zimmer, und den anderen ist nicht zu trauen.
“Wir kleben einfach keine Briefmarke drauf”, schlägt der Professor vor, “deine Eltern müssen dann die Briefmarke zahlen, aber die wissen dann ja, dass es von dir kommt und zahlen das dann bestimmt.” Ich bin einverstanden. Wie klug der Professor ist. Als wir wieder durch den Ort gehen und am Briefkasten vorbeikommen, lenkt er die Tanten ab und ich werfe schnell den Brief ein.

Ich stehe an der Tür zum Waschraum und lausche. Geräusche von spritzendem Wasser und Auflachen. Ich erkenne das Lachen des Professors und das von Tante Bärbel. Ich schleiche mich hinein und gucke durch den Spalt der Zwischentür. Gerade kitzelt Tante Bärbel wieder den eingeseiften Professor unter dem Wasserstrahl. Und der wehrt sich auflachend. Bis Tante Bärbel das Wasser abdreht und ihn fortschickt. “Abtrocknen. Anziehen. Und ab!”, befiehlt sie gespielt streng, dass es hallt im Waschraum. Der Professor gehorcht. Und während ich mich hinter der Tür verstecke, hat er sich sehr schnell fertiggemacht und ist hinausgeschlüpft.
Da geht wieder die Brause. Ich schaue durch den Spalt. Betrachte Tante Bärbel. Sie hat keinen Badeanzug an. Ich zögere kurz, dann ziehe ich den Schlafanzug aus, schlüpfe unbemerkt in den Duschraum und husche unter die Dusche. Für einen Moment erschrickt Tante Bärbel, und ich umschlinge von hinten ihren Bauch. Sie lacht kurz auf, dann drückt sie mich an sich, meinen Kopf an ihre Brust.
„Ich spüre deine Engelsflügel“, sage ich. Und für einen Moment stehen wir so da, umschlungen, während die Wassertropfen über uns hüpfen. Dann lässt sie mich los. Ich will gar nicht loslassen und halte mich an ihr fest. Da stößt sie mich weg, mit Wucht, dass ich ausrutsche und zu Boden falle.
Warum ist sie auf einmal so böse mit mir? Was habe ich Falsches getan? Mir schießen Tränen ins Gesicht, während noch immer das Wasser über mich läuft und die Tränen hinwegspült.
Tante Bärbel dreht das Wasser ab. Hockt sich zu mir, und fragt mich, ob ich mir weh getan habe. Ich gebe keine Antwort, drehe den Kopf weg, als sie mich trösten will, gucke auf den nassen Kachelboden.
“Bist doch noch so klein”, sagt Tante Bärbel, ganz ruhig geworden. Sie wickelt sich in ein großes Handtuch und reicht mir eins. Ich nehme es mechanisch und trockne mich ab, wie ich es gelernt habe.
Plötzlich steht der Chef im Bad. Ich sehe als erstes seine nackten Füße in dunkelblauen Badelatschen, dann die ganze kräftige, große Gestalt in hellblauer Trainingshose mit weißen Streifen. Schweigend sieht er uns an, dann macht er eine kleine Bewegung mit der Hand und sagt mit freundlicher Stimme zu mir: „So jetzt aber schnell ins Bett. Auf, Auf.“
Ich gehe. Aber nicht gleich ins Bett, sondern bleibe im Badvorraum stehen und beobachtete durch den Türspalt den Chef und die Tante Bärbel.
Der Chef schaut Tante Bärbel von oben nach unten an, ich sehe ein Grinsen auf seinem Gesicht. Tante Bärbel hat den Kopf gesenkt und guckt nach unten. Es ist still. Aus der abgedrehten Dusche fällt ein Wassertropfen herab, dann noch einer, und noch einer. Der Chef geht einen Schritt auf Tante Bärbel zu. Sie bewegt sich nicht, ich sehe die Gänsehaut bei Tante Bärbel, obwohl es doch ganz warm ist. Da kriege ich Angst, drehe den Kopf weg, husche lautlos davon, verkrieche mich ganz schnell unter der Bettdecke und schließe die Augen, ohne einschlafen zu können.
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