Was ist Verschickung?
Verschickung war der in den 50er bis 80er Jahren in der Kinderheilkunde in der Bundesrepublik Deutschland, gängige Begriff für das systematische Verbringen von Kindern in weit abgelegene Kindererholungsheime und Kinderheilstätten zum Zwecke des Aufpäppelns und der Erholung. Es geschah mittels eines Systems von Sonderzügen und Entsendestellen, die vertraglich an die Kindererholungsheime und -heilstätten gebunden waren. Medizinisch waren es Kinderheilkuren, finanziert von Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern und zahllosen anderen Wohlfahrtsträgern. Von ca. 1930 bis ca. 1980 war der Begriff „Verschickungen“ gebräuchlich, weil die Kinder in Sonderzügen und großer Anzahl, ohne Eltern, mit Bahn und Bus in Massen „verschickt“ wurden. Der Begriff findet sich auch in damaliger Fachliteratur und unter dem Fachpersonal. Die Wurzeln dieses Phänomens liegen schon im 19. Jahrhundert. (Definition in Röhl 2021: Das Elend der Verschickungskinder, S. 29-38)
Es geschah i.d.R. für 6 Wochen, die sogenannten Kinder-Erholungsheime und Heilstätten hatten einen Ganzjahresbetrieb. Es gab für das Heim oder die Heilstätte einen Pflegesatz pro Tag pro Kind (1969: ca.18.-DM). Endsendestellen waren vertraglich an die Heime gebunden. Gedacht war es so: Chronisch kranke Kinder mit TBC, Asthma, Diabetis oder Rheuma kamen dabei in Kinderheilstätten (Ärztliche Leitung im Hause), Kinder mit Über- oder Untergewicht, Haltungsschwächen, Bronchitis oder nur „Mangelerscheinungen“ wurden in Kindererholungsheime (ohne ärztliche Leitung im Hause) verbracht. In der Praxis vermischten sich, laut des Kinderkurklinikleiters Hans Kleinschmidt aus Bad Dürrheim (1964) in einem in den 60er Jahren für alle Verschickungseinrichtungen geschriebenem Ratgeberbuch beide Gruppen oft und die Kinder wurden hingeschickt, wo grade Plätze frei waren. ( Man hatte die Erholungs- und die Heilfürsorge bereits in der NS-Zeit zusammengeführt und damit die Unterschiede zwischen E- und H- Heimen verwischt , vergl. Studie Marc von MIQUEL, 2022 ) Zahllose Indikationen aus beiden Kategorien werden ausführlich in diesem Ratgeberbuch (Sepp Folberth: Kinderheime-Kinderheilstätten, 1964, Pallas Verlag) abgehandelt. Verschickungskindern stünden dabei die Heilstätten ebenso wie die Erholungsheime offen. Alle bemühten sich um ganzjährige Auslastungen und die Erreichung des „Krankenhausstatusses“. Nach Erreichen dieses Krankenhausstatusses entfiel die Heimaufsicht des Jugendamtes, die sehr oft Mängel beklagten.
Die Kinder wurden einzeln, ohne Kindergartengruppe, und allein, ohne Eltern, in willkürlich zusammengestellten Gruppen, meist per Bahn, verschickt. Besonders empfohlen wurde die Zeit vor dem Schulalter. (1) Die Kinder wurden von den Gesundheitsämtern bei Schuleingangsuntersuchungen „durchgemustert“, dann wurden die Verschickungen von den Jugend- und Gesundheitsämtern empfohlen, das wurde an den Hausarzt weitergegeben, für eine ärztliche Diagnose. Die Diagnosen konnten bis Anfang der 80er Jahre von den Ärzten recht beliebig ausgewählt werden. Listen dafür fanden sich im obigen Folberth-Buch. Das änderte sich ab den 80er Jahren, die Auswahlkriterien wurden strenger. Es war nun schwerer, völlig gesunde Kinder zu verschicken. Die Massenverschickungen verringerten sich dadurch, es kam zu einem „Kinderheimsterben“. Während dieser Zeit zog der finanzielle Druck an und die institutionellen Bedingungen der Gewalt verschlimmerten sich noch. Aber der Begriff Verschickung verlor sich allmählich. Man wählte lieber den Begriff Kinderkur und es wurden eher kränkere Kinder aufgenommen. Die Einrichtungen kämpften um ihr Überleben, indem sie sich Fachabteilungen gaben. Viele der privaten Einrichtungen mussten ihren Verschickungsbetrieb aufgeben, denn die Eltern schickten kaum noch Kinder. Der Rest der Einrichtungen strebten an Heilstätten zu werden, die auch schwerkranke Kinder aufnehmen konnten.
Pädagogische Methoden in den Einrichtungen waren nebensächlich, medizinische Ratgeber herrschten vor. Schwere Strafen wurden noch 1964 empfohlen, rigide Regeln wie Briefzensur und Besuchsverbot, Toilettenverbote und Schweigegebote wurden nie in Frage gestellt. Die Heilstätten, die überlebten, blieben noch bis Mitte der 90er Jahre unverändert und unreformiert erhalten. Eine institutionelle Veränderung ergab sich erst durch den Mitte der 90er Jahre erfolgten Umbau der meisten Heilstätten und Kindererholungsheime in Mutter-Kind-Kliniken. ( Quellenlage: Erstes Wissen dazu bei Röhl: Das Elend der Verschickungskinder, und ganz aktuell auch hier, in der NRW Studie. Es werden momentan monatlich neue Belege zum Thema von unseren Recherchegruppen entdeckt, vertiefende Infos und Interviews dazu können hier verabredet und vermittelt werden: presse@verschickungsheime.de)
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Die Betroffenensicht zum Thema Verschickung
Die bisherigen Berichte bei uns unter ZEUGNIS ABLEGEN sind abgefasst von Menschen, die sich erstmalig nach Jahrzehnten erinnern. Sie sprechen einheitlich davon, dass die Kinder fremden „Tanten“ ohne jede Eingewöhnung überlassen wurden, die sich durch oftmals harte und grausame Erziehungsmethoden hervorgetan haben. Der Detailreichtum macht alle sich bei uns sammelnden Berichte absolut glaubhaft. Angst steht im Mittelpunkt aller Erinnerungen. Ungünstige Bedingungen, auch durch erste Aktenstudien (2) verifiziert:
1) Überbelegung, besonders in den Sommermonaten
2) Chronische Unterbesetzung
3) zu geringer Essens- und Wäsche-Etat
4) Zu wenig pädagogische Fachkräfte.
Der Erholungswert dieser Kuren ist nach den bisher uns zugänglichen Berichten stark anzuzweifeln, es ist von massiver Traumatisierung auszugehen. Es melden sich täglich mehr Augenzeugen, die von Erlebnissen berichten, die heute als schwere Kindesmisshandlung gelten.
(2) Röhl: Das Elend der Verschickungskinder, S. 79.ff
(1) Aus: Kinderheime – Kindererholungsheime, Sepp Folberth, 1964, S.16: „Durchmusterung der Schulanfänger“
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