Kinderheim Frisia 1960 in St.Peter Ording – Schleswig-Holstein
Privatkinderheim von 1935 bis 1989, Waldstrasse 31 im Ortsteil Ording.
Privatkinderheim „Glück der Jugend“ 1935-1943, 1971: Kinderheim FRISIA
Inhaber Karl von Freyhold.
Inhaberin ab 1943 Mara Anna Bertha Ludovika von Freyhold (1903 – †1998) verh. “Stork”
Betten: 45,
Aufnahme: Kinder von 4-12, ganzjährig,
Kurmittel: Spielplätze, Liegewiese
BIRGIT LÜBBEN
Mit 4 Jahren verschickt, 1971 ins Kinderheim FRISIA
Einen Anfang machte meine Frauenärztin, ob ich denn wissen würde, welche Medikamente ich während meiner Kinderkur bekommen hätte, natürlich nicht, denn ich wurde dort erst vier jahre alt. Unmittelbar nach meinem Kuraufenthalt begann bei mir eine vorzeitige Geschlechtsreife, im Verlauf der ich mit 8 Jahren meine Regel bekam.
Eine Anfrage bei der damaligen Krankenkasse meiner Eltern war nicht hilfreich. Der letzte Satz lautete: „Für Unterlagen, wie z.B. Verträge, die keinen Personenbezug enthalten, sind die Aufbewahrungsfristen (zehn Jahre) noch kürzer. Es existieren daher auch keinerlei Dokumente mehr über Verträge mit Kurstätten oder ähnlichen Einrichtungen. Das gilt auch für Geschäftsprozesseschreiben der hkk zu „Kinderkuren/Kinderverschickungen….Insofern können wir Sie bei Ihrem Anliegen leider nicht unterstützen“.
Seither habe ich mich auf den Weg der Recherche gemacht. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind glasklar.
Birgit L. aus Bremen
Geboren wurde ich 1968 in Bremen, arbeite in der Meeresforschung, zuerst an der Universität Hannover, Hamburg und nach der Geburt meines Sohnes 1997 an der Universität Bremen. Ab 2021 engagiere ich mich in der Initiative Verschickungskinder und übernahm die Landeskoordination für Bremen.
Ankunft und Leben im Kinderheim Frisia
Hier meine ERINNERUNGEN:
1971 wurde ich von Bronchial-Asthma gequält und alle Verordnungen von meinem Kinderarzt haben nicht geholfen die Atemnot zu lindern. Jetzt sollte eine Erholungskur an der Nordsee die Linderung bringen. So wurde ich also kurz vor meinem 4. Geburtstag zur Kinderkur nach St.Peter Ording geschickt. Der Transport mit einem Sonderzug vom Hauptbahnhof Bremen nach St.Peter Ording habe ich verschlafen, da ein Löffel Saft, verabreicht von einer fremden Frau, noch vor der Abfahrt mich in einen tiefen Schlaf schickte.
Im Heim angekommen, das auf mich wie ein kleines Hexenhaus wirkte, führte uns eine Frau in den Speisesaal. Der Ton war streng und wir wurden eingewiesen. Die Frauen mussten wir mit Tante ansprechen, der Platz auf dem wir saßen war jetzt unser Platz für die Zeit von unserem Aufenthalt, bei den Mahlzeiten durfte nicht geredet werden, der Blick sei auf den Teller zu richten, mit den Fingern zu essen und zu kleckern sei verboten. Anschließend bekam jeder ein Schälchen Obstsalat vorgesetzt. Ich musste den Obstsalat aufessen, obwohl ich mich davor geekelt habe.
Nach dem Essen von dem Obstsalat wurden wir in den Waschraum geführt. Hier wurde uns gezeigt wo wir unsere Zahnbürste, den Kamm und unser Handtuch finden. Im Waschraum gab es auch die Toiletten, die wir aber nur unter Aufsicht benutzen durften. Dann ging es die Treppe hinauf. Oben rechts neben der Treppe war mein Schlafsaal. Wie ich später auf einer vorgedruckten Postkarte vom Heim an meine Eltern erfuhr, hieß der Schlafsaal „Storchennest“. In dem Schlafsaal standen weiße Gitterbetten in Reihen und neben jedem Bett stand ein Nachttisch. In einer Nische unter der Schräge gab es den Schrank für die Kleidung der Kinder und ein kleines Holz-Bett in dem ich schlafen sollte, sowie einen Stuhl.
Nachdem alle Koffer ausgepackt waren, mussten wir uns nackt ausziehen und bekamen einen Bademantel zum Überziehen. So ausgestattet gingen wir auf den Dachboden, wo Stuhlreihen aufgestellt waren. Auf die Stühle mussten wir uns setzen und leise warten, bis wir aufgerufen wurden. Dann mussten wir den Bademantel ausziehen und vor einer Tür warten. Alle Kinder schauten auf uns, die wir völlig nackt dastanden, ein peinliches Gefühl. Im Untersuchungszimmer wurde ich gewogen, vermessen, die Lunge wurde abgehört und irgendwann gab es zusätzlich Spritzen in den Hintern dazu. Es war eine große, glänzende Spritze mit einer langen Nadel, die stark schmerzte. Doch ich hatte gelernt nicht zu jammern oder zu weinen oder mich gar zu beklagen. Es waren ja doch Erwachsene und dazu noch Ärzte. Heute frage ich mich, was bekam ich da gespritzt und was war es für ein Saft, den wir jeden Tag bekamen.
Nach der Untersuchung gab es eine Unterhose und ein Hemd und wir wurden in den Waschraum geschickt, wo es die Toiletten gab. Vor den Toiletten mussten wir uns in einer Reihe aufstellen und warten bis wir an der Reihe waren. Die Toilettentür wurde nicht verschlossen und als meine Toilettenzeit vorbei war musste ich zu der Tante vor den Toiletten gehen. Hier musste ich Berichten, ob ich ein großes oder kleines Geschäft verrichtet hätte, damit es in eine Liste eingetragen werden konnte. Es gab wieder einen Löffel Saft und es ging zum Schlafen ins Bett. Das Bett und den Raum durften wir bis zum Morgen nicht verlassen, hatten still zu sein und durften nicht weinen. Die einzige verbündete in dieser und in vielen darauffolgenden Nächten war meine Puppe Inge.
Der Alltag / Demütigungen / Kälte / Angst
Am nächsten Morgen merkte ich was damit gemeint war: Wir durften nicht aufstehen, bevor uns die Tanten holen würden. Ich musste auf die Toilette und umso länger ich da lag, umso dringender wurde es. Als wir dann endlich aufstehen durften lief es mir an den Beinen runter auf den Boden. Ich wurde dafür von der Tante beschimpft und musste alles aufwischen.
Es gab drei Gruppen von Kindern in dem Kinderheim, einmal Kinder wie mich, die Probleme mit der Lunge hatten, Kinder die zu dünn waren und daher immer eine große Portion zu Essen bekamen sowie zu dicke Kinder, die nur eine kleine Portion bekamen. Ich habe die dicken Kinder immer beneidet, da sie nur wenig von dem ekeligen Essen bekamen. Kinder, die gekleckert hatten, versuchten Essen zu verschenken oder zu verstecken (z.B. in der Hosentasche oder unter dem Pullover) mussten am Abend in das Bestrafungszimmer. Dies war ein Zimmer neben dem Flur am Eingang, das mit Milchglasscheiben vom Flur abgetrennt war. Hier gab es einen Stuhlkreis und man musste sich seine Abreibung für schlechtes Benehmen durch Schläge auf den Po abholen. Kinder, die nicht aufessen konnten oder wollten mussten so lange vor ihrem Teller sitzen, bis der Teller leer gegessen war. Dauerte es zu lange, dann hat eine Tante „nachgeholfen“. Der Kopf wurde nach hinten gedrückt und das Essen eingefüttert.
Als ich einmal keine Bratwurst essen konnte und mich bei der „Fütterung“ erbrach, musste ich das erbrochene wieder aufessen. Auch fünfzig Jahre später wird mir von dem Geruch von Bratwurst übel. Ich habe nie wieder Bratwurst gegessen.
Der Tagesablauf in dem Heim war KALT und LIEBLOS, von Schweigen geprägt und alle liefen mit gesengtem Kopf. Wir hatten uns unserem Schicksal ergeben. Wir waren wehrlos und unser Wille war gebrochen. Morgens stand ich auf sobald die Tanten es erlaubten, ging auf die Toilette und berichtete von meinem Geschäft, zwang das Frühstück herunter und schwieg. Es wurde nicht gelacht oder geredet und außer meiner Puppe Inge hatte ich keine Nähe, keine Umarmung keine Freude. Nach dem Frühstück ging es immer auf einem Spaziergang zum Strand oder in einen kleinen Wald. Zurück gab es das Mittagessen, den Toilettengang, einen Löffel Saft und den Mittagsschlaf. Nach dem Mittagsschlaf gab es wieder einen Spaziergang in Zweierreihen und am Abend das Abendessen., Toilettengang den Löffel Saft und Nachtruhe.
Unternehmungen
Abwechslung vom „Kuralltag“ gab es an den Tagen, die mich ins Wellenbad, zur Inhalation, den nächsten Brief von der Familie oder die Untersuchung vom Arzt führten.
Der Besuch im Schwimmbad sah für mich beim ersten Mal so aus, dass ich nach der kalten Dusche, unter die wir einer nach dem anderen für eine gewisse Zeit mussten, als einziges Kind das noch nicht schwimmen konnte alleine in das Nichtschwimmerbecken musste.
Beim zweiten Besuch im Schwimmbad hieß es ich müsste schwimmen lernen. Ich stand noch am Beckenrand, da bekam ich von hinten einen Stoß in den Rücken und fiel in das Wasser. Da ich in dem Bereich nicht stehen konnte ging ich unter, schluckte Wasser und versuchte an den Beckenrand zu kommen. Dies gelang nicht und ich erinnere mich an eine Leichtigkeit, mit der ich dann langsam zum Boden vom Schwimmbecken hinabgesunken bin, bis ich mich erst wieder daran erinnern kann, wie ich im Bereich der Dusche am Boden lag und mit einem kalten Schlauch abgespritzt wurde. Ich wurde dafür ausgeschimpft, dass ich nicht schwimmen konnte, und die anderen Kinder mussten mich auslachen.
Am Tag der Inhalation sind wir Asthma-Kinder zu einem Gebäude gegangen, indem es einen großen Liegesaal unter Glas gab. Die Nase wurde mit einer Klammer verschlossen und mit einer Art großer Luftpumpe wurde uns etwas in die Lunge gepumpt. Wir sollten tief einatmen und dann die Luft anhalten. Es hat fürchterlich in der Lunge gebrannt und weinen sowie der starke Hustenreiz war verboten. Danach musste ich auf eine Liege mit einer Decke verpackt liegen. Die Arme wurden fest am Körper unter der Decke gebunden, nur der Kopf schaute heraus und ich musste still liegen und durfte nicht husten oder sprechen. Nach einiger Zeit ging es wieder zurück zum Kurheim.
Der wöchentliche Brief von der Familie wurde im Essenssaal von den Tanten vorgelesen. Die älteren Kinder durften ihre Briefe für sich lesen. Als ich an die Reihe kam, ging ich zu einer Tante, setzte mich ihr gegenüber und Sie fing an zu lesen. Ich musste fürchterlich weinen und konnte trotz dem Verbot nicht zu weinen nicht aufhören. Ich wurde ausgeschimpft und durfte an der wöchentlichen Briefrunde nicht mehr teilnehmen. An Heimweh konnte ich mich bald nicht mehr erinnern, da die Erinnerung an meine Eltern, Brüder und Großeltern immer mehr verblasste. Meine Mutter erzählte mir später, dass ich meine Eltern und Geschwister nach der Kur erst nicht erkannt habe. Meine Eltern bekamen einmal in der Woche einen Brief von einer Tante. In diesen Briefen soll gestanden haben, wie großartig ich mich eingelebt hätte und wie gut es mir ginge. Darüber waren meine Eltern sehr froh.
Krank
Ein weiteres Mal in meinem Kuralltag gab es eine Abwechslung vom Kuralltag als ich krank wurde. Ich musste mich beim Warten auf den Spaziergang erbrechen. Ich konnte es nicht wie sonst wieder herunterschlucken bevor es aus meinem Mund schoss und verließ die Reihe, um mich im Gebüsch am Rand vom Weg zu erbrechen. Natürlich gab es die übliche Schimpfe der Tante. Ich wischte mir den Mund mit meinem Taschentuch ab und stellte mich wieder in die Reihe und musste am Spaziergang teilnehmen. In der Nacht wurde es wieder schlimm, ich erwachte und musste würgen. Ein paar Mal schaffte ich es gegen den Würgereiz anzukämpfen und dachte nur, du darfst nicht ins Bett brechen. Das schaffte ich auch, doch das Erbrochene landete auf dem Boden vor dem Bett. Am nächsten Morgen gab es wieder Schimpfe von der Tante und das Erbrochene wurde von mir vom Boden aufgewischt. Wie üblich standen davor die anderen Mädchen aus dem Schlafsaal, um mich auszulachen.
Beim Warten auf den Spaziergang am Morgen bin ich dann zusammengebrochen. Ich konnte nichts dagegen tun, meine Beine sind einfach weggesackt.
Ich hatte wohl hohes Fieber, jedenfalls durfte ich den Tag alleine mit meiner Puppe Inge im Bett bleiben. So hatte ich die Möglichkeit das Stofftaschentuch mit den Resten vom Erbrochenen in mein Geheimversteck zu stopfen, ohne dass eine Tante etwas bemerkte. Das Geheimversteck war im Rücken meiner Puppe Inge. Die Puppe hatte eine Art Dose im Rücken, wodurch beim Drehen der Puppe ein Kolben in der Dose nach oben gedrückt wird und durch Löcher Luft entweichen kann. Hierbei entstand ein Ton, der wie Mama klingen sollte.
Ein Ende in Sicht
Irgendwann war die Zeit der Kur vorbei. Ich kann mich nicht daran erinnern, wie ich auf den Bahnsteig nach Bremen gekommen bin, doch an etwas erinnere ich mich ganz genau. Es kamen Erwachsene auf den Bahnsteig, umarmten die Kinder, es wurde gelacht, Koffer geschnappt und der Bahnsteig leerte sich. Irgendwann stand nur noch ich und ein Koffer auf dem Bahnsteig. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahmen zwei Erwachsene mich und den Koffer mit. Es waren meine Eltern, die ich nicht erkannt habe! Daheim fragten mich meine Eltern, wie es war. Ich habe von meinen Erlebnissen berichtet, doch meine Eltern wollten davon nichts hören. Es hieß nur ich bilde mir alles ein. Diese Reaktion kam auch von den Großeltern, Nachbarn oder im Kindergarten. Also schwieg ich und blieb zusammen mit meiner Puppe Inge allein mit meinem Erlebten. Der Alltag kam zurück und jetzt lebte ich wieder bei meiner Familie. Ich hatte kein Vertrauen mehr in Erwachsene und am liebsten schaukelte ich von morgens bis abends alleine im Garten. Die einschneidendste Veränderung bedeutete für mich mit vier Jahren in die Pubertät zu kommen und mit zarten 8 Jahren die erste Monatsblutung zu bekommen.
Nach der Kur
Diese acht Wochen Kuraufenthalt prägten mein Leben. Nicht nur mein Körper wechselte vom Kind zur Frau, auch mein Vertrauen in Menschen bestand nicht mehr. Ich lebte fortan in einem „Aufpassmodus“ und brauche immer einen sogenannten Plan B. Auf der einen Seite bekam ich eine gewisse Stärke und vermied fremde Hilfe, auf der anderen Seite rebelliert irgendwann der Körper gegen die Last vom Schweigen. Im Herbst 2018 bekam ich eine Kur heute sagt man Reha gegen Rheuma verschrieben. Ich wusste nicht was mit mir geschah, jeden Tag ging es mir schlechter und nach drei Wochen musste ich aus der Reha abgeholt werden, da ich nicht mehr selber Autofahren konnte. Am schlimmsten waren für mich die Nächte mit Träumen und Panik bis hin zur nächtlichen Flucht aus dem Gebäude um Luft zu bekommen. Nach der Reha bekam ich einen schweren Rheumaschub. Heute kann ich durch die Initiative Verschickungskinder alles einordnen und verstehen, welche unbewussten Einflüsse die Kur vor einem halben Jahrhundert hatte.
Im Sommer 2022 hatte ich im Zuge einer Reportage durch den Bremer Regionalsender Buten un Binnen die Möglichkeit das Kurheim in St.Peter Ording zu besuchen und meinen Frieden mit den Geschehnissen zu machen. Das Unrecht, welches den Kurkindern damals geschah bedarf jedoch weiterhin einer ungeschminkten Aufarbeitung.
Zur Authorin: Birgit L. aus Bremen
Ich engagiere mich in der Initiative Verschickungskinder, da ich als Betroffene bei meinen Recherchen auf einen “Historischen-Bumerang” gestoßen bin, der das erfahrene Leid durch die Kostendämpfungsgesetze in der Gesundheitspolitik widerspiegelt. Hier möchte ich bei der Aufklärung helfen. 2023 habe ich hierzu ein Buch mit dem Titel: “Ware Kurkind – was in Bremer Akten” steht herausgebracht.
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