Zeugnis ablegen (die Suche)

65 Ergebnisse für: DDR

Simone Liebig - 2024-03-31
Verschickungsheim: Wilhelm Pick Gösen
Zeitraum-Jahr: 04.04.1983 4 Wochen max.
Kontakt: Kontakt: Über die Initiative

Ich war 1983 mit 12 Jahren im Kinderkurheim in Gösen bei Eisenach (DDR) In der Schule wurde festgestellt das ich zu dünn war, deshalb sollte ich zur Kur und zunehmen. Ich kann mir noch daran erinnern das es Cornflakes gab, die es zu Hause nie gab, und das ich so viel gegessen hatte das ich nicht mehr auf die Toilette gehen konnte. Dafür gab es dann Medizin, die man trinken musste. Ansonsten war alles strukturiert, mit Frühsport, Spaziergang, Mittagsschlaf.. Es gab auch Kinder die geweint haben und nach Hause wollten. Es war schon eine lange Zeit ohne Eltern. Ich habe noch ein Foto zu Hause, mit Namen auf der Rückseite u a. Dörthe Feige, Marco Bock, Rita Hoffmann, Diana Schütz. Vielleicht erinnert sich jemand daran.

Kerstin Weber - 2024-03-27
Verschickungsheim: Ahlbeck
Zeitraum-Jahr: 1961
Kontakt:

Hallo, ich bin Kerstin.
Mit ca. 4 Jahren (1961) wurde ich in ein Kurheim nach Ahlbeck ( damals DDR) verschickt.
Meine Eltern brachten mich zum Zug am Bahnhof Dessau, meinem Heimatort. Dort stieg ich zu einer "Tante" in ein Zug und meine Eltern entschwanden.
Der für mich traumatisierten Aufenthalt im Kurheim Ahlbeck hat tiefe Spuren hinterlassen, obwohl mir das erst im späten Erwachsenenalter bewusst wurde.

Trauma

Dem Kind, dem kleinem Mädchen,
geht es immer schlechter
Das Fieber steigt heftig.
Die Ärzte können nicht helfen.
Den Eltern wird erläutert,
nur eine Kur an der See
verspräche noch Rettung.
Die Tasche wird eilig gepackt.
Den Lieblingsteddybären
fest umklammert,
ist Kind ist ganz verstört,
als die Mutter es weinend
zum Abschied küsst,
weil sie es so ungern wegschickt,
für lange Zeit an die Küste.
(Mama, ich bin doch so brav)

Das Kind ist angekommen in
dem Heim, mit dem großem
Schlafsaal, wo viele duzend
Gitterbettchen stehen.
Es fühlt sich einsam unter
den vielen fremden Kindern.
Die Kleine fürchtet
sich vor den Schwestern und Ärzten,
denn sie weiß,
sie tun ihr weh.
Es ist Winter.
Das Mädchen friert in ihrem Bettchen
ohne sich zu beschweren, doch nicht
ohne heimlich zu weinen.
(Ach Mama, ich bin doch ganz brav!)

Die Kinder sind kleine Ungeheuer
Dem Teddy Max hat ein Junge
das Bein ausgerissen,
Sie rufen ihr "Spitznase" nach.
Im Pool, wo sie baden muss,
weil Meerwasser gut für sie ist,
schwimmen Kackwürstchen.
Sie ekelt sich so sehr.
Das Essen schmeckt nicht
Erbsbrei ist ihm widerlich.
Es muss aufgegessen werden,
wird ihr gesagt,
sonst darf sie nicht nach Hause.
Also würgt sie es herunter.
(Ach, Mama ich bin wirklich brav!)

Die Tage vergehen wie Jahre.
Mit den Nächten kommen die Gespenster,
die in den Gardinen hängend,
ihr schreckliche Angst machen.
Das Mädchen beginnt sich Geschichten
auszudenken, die es zur Mutter tragen.
Als ihm die Hoffnung abhanden gekommen,
sie nur noch in ihrer Märchenwelt lebt,
sagt der Doktor,
die Kleine hat ihre Krankheit besiegt.
(Ach, Mama, ich bin immer brav)

Mechanisch steigt das Mädchen in den Zug,
den Teddy ohne Bein im Gepäck,
fährt sie mit leerem Blick nach Hause.
Am Bahnhof wird es abgeholt.
Ansehen will es die Mutter nicht.
Die nimmt sie schluchzend in den Arm.
Das Kind kann sich nicht rühren,
es glaubt es einfach nicht.
Der Vater wartet schon zu Hause,
er hat sich heute sehr beeilt, um seinem
kleinen Liebling zu begrüßen.
Das Kind wird warm gebadet.
Sein Lieblingsessen steht auf dem Tisch.
Es hat keinen Hunger mehr,
zuviel Erbsbrei im kleinem Magen.
Von den Eltern liebevoll ins Bettchen
Gekuschelt, macht sie die Augen zu,
träumt sich in ihre Welt, zur Mutter.
(Ach Mama, ich will immer brav sein!)

Morgens liebevoll geweckt,
bewegt sich das Kind, wie eine Marionette.
Drei Tage spricht es kein Wort.
Das erste was man von ihm hört,
„Mama schicke mich nicht wieder fort“

Der Körper war geheilt.
Die kleine Psyche war gebrochen.
Sie träumt bis heut noch von Wellen
die ihr, wen immer sie liebte, genommen.
Vor allem und jedem hatte sie Angst,
sie musste sich immer beweisen.,
Sie funktionierte, sie war ja so brav,
konnte aber weder lachen noch weinen.

Bis sie wieder ihre Geister traf,
die immer noch in den Gardinen hingen.
Ihre Märchen waren nicht mehr abrufbar,
hatten die Geister verschlungen.
Da brachen Seele und Körper entzwei.
Sie trat ein in den dunklen Nebel,
Sie konnte und wollte nicht mehr sein,
sich ihrem Schicksal ergebend.

Und meine Mutter weinte
meine ungeweinten Tränen

Angelika Gottschling - 2024-03-06
Verschickungsheim: Hirzenhain
Zeitraum-Jahr: 1956
Kontakt: Kontakt: Über die Initiative

Ich bin Jahrgang 1948. 1954 in Leipzig in die Schule gekommen. 1955 sind meine Eltern aus der damaligen DDR geflohen. Mein Vater hat eine Stelle bei Buderus in Wetzlar bekommen. Die Kinder der Werksangehörigen durften in den Ferien 6 Wochen in einem Heim in Hirzenhain verbringen. Auch hier war der Druck alles aufzuessen groß. Kinder die auf ihren Teller erbrachen mussten sitzen bleiben, bis aufgegessen war. Anschließend zwei Stunden
Mittagsruhe. Wir durften nicht aufstehen um auf die Toilette zu gehen. Im Treppenhaus saß eine Betreuerin
und passte auf. Wir sind auf dem Bauch zur Toilette gerobbt und hofften nicht erwischt zu werden Meine
Bettnachbarin saß auf der Bettkante und wippte auf der Bettkante um den Drang zu unterdrücken. Für mich war das Verbot auf die Toilette zu gehen traumatisch. Ich hatte später immer Angst, ich darf nicht gehen wenn ich muss. Ich habe ein Gruppenfoto von diesem Aufenthalt und stelle es gerne zur Verfügung.

Mandy Eidtner - 2024-02-11
Verschickungsheim: Volkssolbad 4732 Bad Frankenhausen Kindersanatorium "Helmut Just"
Zeitraum-Jahr: 29.03.-08.05.1990
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo zusammen,

ich habe durch Zufall eine Dokumentation auf Youtube zum Thema "Verschickungskinder" gesehen und würde mich gern mit anderen Betroffenen austauschen.
Ich bin Jahrgang 1985 und wurde als 5-jährige zu einer Bronchitskur ins Volkssolbad 4732 Bad Frankenhausen Kindersanatorium "Helmut Just" geschickt (Kurbeginn: 29.03.1990, Kurende:08.05.1990).
Auch wenn ich aus dieser Zeit nur noch wenige Erinnerungen habe

- ohne Eltern zur Kur geschickt
- meine Eltern wussten zunächst nicht, wo ich war, bis Post aus dem Sanatorium kam
- keine Besuchserlaubnis; Telefon hatten wir damals nicht
- überwiegender Aufenthalt auf Krankenstation
wünsche ich mir für alle Betroffenen eine Aufarbeitung und Anerkennung seitens der Regierung, so wie es durch den Fonds Heimerziehung von 2012 bis 2018 für ehemalige Heimkinder in der BRD und DDR geschah.

Nicole - 2024-02-08
Verschickungsheim: Bad Frankenhausen ("Helmut Just"), GraalMüritz (wahrscheinlich "Richard Aßmann"), Strbské Pleso (ehem.CSSR, Sanatorium "Helios")
Zeitraum-Jahr: 1978 oder 1979, 1983, Dez.1985 bis 1986
Kontakt: Keine Angaben

Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich es überaus wichtig und großartig finde, dass durch diese Aufklärungsarbeit, dieses „ans Licht bringen“, den geschundenen, misshandelten Kindern von damals eine Stimme verliehen wird. Das sie so die Möglichkeit bekommen, endlich gehört zu werden... und somit evtl. anfangen können, all diese schrecklichen Geschehnisse zumindest ein Stück weit zu verarbeiten. Es bewegt mich zutiefst, wenn ich diese furchtbaren Berichte hier lese und dabei an die hilflosen Kinder denke, die sie einst waren. Ich wünsche jedem einzelnen von ihnen alles erdenklich Gute...
Nun zu mir. Ich weiß nicht inwieweit meine eigenen „Kuraufenthalte“ / bzw. Verschickungen hier relevant sind, da sie in der damaligen DDR stattgefunden haben und wohl vieles etwas anders ablief. Ich kann dennoch sagen, dass auch an mir nicht alles spurlos vorübergegangen ist. Allein die Verschickung an sich... die Trennung von der Familie, von allem was einem vertraut ist... ohne einordnen zu können, wohin man gebracht wurde, wie weit weg von zuhause und ob bzw. wie man wieder zurückkommt. 6 Wochen sind lang und als Kind kommt man da auf die merkwürdigsten Gedanken. Dazu fremde Menschen, die prinzipiell jede nur erdenkliche Macht über einen haben. Weiterhin medizinische Anwendungen, die nie kindgerecht kommuniziert wurden... stattdessen wurde alles einfach mit einem gemacht. Egal ob es für das Kind beängstigend war oder nicht. Das interessierte niemanden. Diese Praxis war damals generell üblich. Auch bei Krankenhausaufenthalten habe ich dadurch schlimme Erfahrungen gemacht, z.B. als mir unter Anwendung von Gewalt der Magen ausgepumpt wurde. Ich war 8 Jahre alt und hatte die ganze Zeit das Gefühl zu ersticken. Die ganze Prozedur ohne Beisein eines Elternteils. Doch das ist eine andere Geschichte... Fakt ist, man fühlte sich in diesen sogenannten „Kuren“ irgendwie ausgeliefert, hilflos... man passt sich so weit es geht an, lässt alles über sich ergehen, fügt sich und schluckt die Ängste zusammen mit dem enormen Heimweh herunter.
Als ich das erste Mal verschickt wurde, war ich 4 oder 5 Jahre alt. Es war Ende der 70er Jahre und es ging nach Bad Frankenhausen in das Heim „Helmut Just“. Ich kann mich an fast nichts mehr davon erinnern.. Außer an einen großen Schlafsaal mit diesen typischen weißen Metallbetten (Lazarett-Betten, wie ich sie nenne) und daran, dass es gefühlt jeden Morgen Brote mit Erdbeermarmelade zu essen gab (die ich aber durchaus recht lecker fand). Auch weiß ich noch, dass mir oft Karten von meiner Oma vorgelesen wurden. Sie fand es schrecklich für mich, als Kind solange von zuhause weg sein zu müssen und wollte mir auf diese Weise Halt und Unterstützung zukommen lassen. Ich bin ihr dafür bis heute sehr dankbar... Zur Anreise erzählte mir meine Mutter (auf Nachfrage), dass sie mich zum Hauptbahnhof in Halle/Saale bringen mussten. Dort war so eine Art Sammelplatz, wo (laut ihrer Aussage) schon viele andere weinende Kinder warteten. Von dort ging es dann, ohne Eltern, mit dem Bus weiter. Ich habe keinerlei Erinnerung mehr daran. Meine Therapeutin meint, dass ich mich normalerweise daran erinnern müsste, da dies in diesem Alter prinzipiell möglich ist und die Verschickung ein intensives Erlebnis, abseits des Alltags war. Meine Kindergartenerlebnisse aus der selben Zeit sind merkwürdigerweise nach wie vor erinnerungstechnisch präsent. Sie denkt, dass damals eine Art Selbstschutz meiner Psyche einiges praktisch „ausgeblendet“ hat.
Auch von meiner zweiten „Kur“ (1983, in Graal Müritz, wahrscheinlich Heim „Richard Aßmann“) fehlen mir große Teile meiner Erinnerung, obwohl ich da bereits 9 Jahre alt war. Ich sehe das Zimmer vor mir, wo ich mit vier anderen Mädchen untergebracht worden bin. An einigen Tagen gab es in einem Nebengebäude etwas Schulunterricht, in kleinen Gruppen. Zu dem gab es Strandläufe und Wasserwaten am Meer, wo wir im Anschluss daran noch ein wenig Zeit bekamen, um Muscheln zu sammeln. Ein- oder zweimal wurde ein Waldspaziergang gemacht. Früh morgens Atemübungen (im Zimmer) vor dem offenen Fenster, mit freiem Oberkörper (es ging wohl hierbei auch um Abhärtung, denn es war mitunter recht frisch). Des Weiteren wurden in einem großen Gemeinschaftswaschraum kalte Güsse zelebriert. Auch an Bürstenmassagen kann ich mich erinnern. Unsere Betten mussten wir jeden Morgen selbst machen, auf eine uns vorgeschriebene Weise. Decke und Kissen hatten so zu liegen, wie es uns vorher gezeigt worden war, und das Bettlaken durfte keine Falten mehr zeigen. Zu Zeiten ohne Spannbettlaken keine einfache Aufgabe für ein Kind, eine schwere Matratze anzuheben und die Ecken des Lakens entsprechend der Vorgaben so zu falten, dass es am Ende komplett glatt aufliegt. Alles wurde anschließend vom Personal kontrolliert. Gab es Beanstandungen (welche durchaus in schroffem Ton geäußert wurden), musste man es noch einmal machen. Ich weiß noch, dass ich sogar später zuhause darauf achtete, dass mein Bettlaken faltenfrei war.
Vage kann ich mich an ein Mädchen erinnern, das einmal auf dem Flur stand, was wohl als Strafe gedacht war. Wofür, weiß ich nicht mehr.
Meine schlimmste Erinnerung aus dieser Zeit sind jedoch die Saunagänge. Ich konnte bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Begriff „Sauna“ gar nichts anfangen. Ich kannte so etwas schlichtweg nicht. Man brachte uns in einen kleinen sehr dunklen Raum (In meiner Erinnerung sind die Wände fast schwarz, z.T. wie verkohlt. Dies kann sich aber auch mit Albträumen vermischen, welche ich danach selbst nach Jahren immer wieder hatte). Die Hitze darin, schien mir unmenschlich und es roch merkwürdig. Dann wurde abgeschlossen. Ich hatte das Gefühl, in eine Art Backofen gesteckt worden zu sein und wusste ich kann nicht raus. Es war eine sehr beängstigende Situation. Ab und an schaute eine Schwester durch das kleine Sichtfenster oben in der Tür. Ich hoffte jedes Mal, dass sie uns rauslässt. Doch dann ging sie wieder. Irgendwann hörte ich das erlösende Geräusch des Schlüssels im Schloss. Danach wurden wir in einen anderen Raum gebracht. Dort mussten wir uns auf Pritschen legen und wurden mit angelegten Armen straff in Wolldecken gewickelt, damit die Hitze in unserem Körper nachwirken konnte. Es war beklemmend. Man kam von selbst nicht wieder aus dieser Decke heraus, man schwitzte und die Wolldecke kratzte auf der Haut. Doch fürs Erste war ich froh, aus der Sauna herausgekommen zu sein. Natürlich wiederholte sich das Ganze noch so einige Male in den sechs Wochen. Für mich hieß es jedes Mal: „nur irgendwie duchstehen“. Ich habe in meinem Leben nie wieder eine Sauna aufgesucht. 17 Jahre später hat mein Körper einmal mit einer starken Panikattacke auf einen Geruch reagiert (mir war plötzlich heiß und kalt geworden, ich fing an zu zittern, hatte Kreislaufprobleme und wollte nur noch dort weg) > später erfuhr ich, dass der Geruch, welchen ich kurz zuvor wahrgenommen hatte, aus einer Sauna kam, die sich unmittelbar in der Nähe befand. Es hat mich sehr überrascht, dass die besagte frühere Erfahrung aus der „Kur“ selbst nach so langer Zeit noch immer nachwirkte. Nicht auszurechnen, wie es denen ergehen muss, die während ihrer Verschickungen massivste Gewalt erlebt haben und diese als Erinnerung mit sich tragen. In einer der beiden „Kuren“ gab es einen Raum, in dem wir Soledampf einatmen/inhalieren mussten. Da ich aber Inhalationen in anderer Form aus der Praxis meines behandelnden Kinderarztes kannte, war dies für mich nicht schlimm. Ich konnte es als harmlos einordnen und somit war das okay. An weitere Dinge wie z.B. weitere Freizeitbeschäftigungen, Behandlungen, jegliche Mahlzeiten, weitere Räumlichkeiten, genaueres zum Personal etc., sowie An-und Abreise kann ich mich nicht erinnern. Auch frage ich mich immer wieder, wo unsere Sachen eigentlich verstaut waren. Das ist mir bei allen drei Verschickungen ein Rätsel.
2 Jahre später (1985-86), ich war 11 und wurde während der „Kur“ 12 Jahre alt, ging es in die dritte Verschickung. Es geschah jedes Mal auf Veranlassung durch meinen Kinderarzt , wegen angeblich chronischer Bronchitis. Dieses Mal schickte man mich sogar ins Ausland, in die damalige CSSR, nach Strbské Pleso (Hohe Tatra), ins Sanatorium „Helios“. Ich wollte keineswegs so weit von zu Hause weg und schon gar nicht wieder zu so einer „Kur“. Was würde mich dort nun wieder erwarten? Ich hatte Angst und doch keine Wahl. Am Flughafen Berlin-Schönefeld wurden wir „eingesammelt“. Mir liefen die Tränen und mein Vater sagte nur vorwurfsvoll: „Reiß dich mal zusammen! Wie alt bist du denn?!“ Es wurde meine erste Flugerfahrung und abgesehen vom späteren Rückflug auch meine letzte. Die alte Interflugmaschine war nicht gerade Vertrauen erweckend. Diesmal sind einige Erinnerungen an die Reise vorhanden. Es ging nach der Landung mit dem Bus weiter... eine sehr lange Fahrt. Ich wusste, dass ich nun definitiv so weit weg von zuhause war, wie noch nie zuvor. Ich befand mich in einem fremden Land, wusste nicht was mir dort bevorstand... allein das war schon beängstigend, selbst in diesem Alter noch.
Das Sanatorium war riesig. Es gab Mehrbettzimmer, wo wir ca. zu viert untergebracht waren. Die Altersstruktur ging etwas weiter auseinander, als ich es bisher kannte. Ich war eine der jüngsten in unserer Gruppe. Es war Hochwinter dort im Gebirge. Unsere Sachen, unser Schuhwerk (typisch für durchschnittliche Stadtkinder in der damaligen DDR) waren den stark winterlichen Verhältnissen nicht gewachsen. Alles wurde immer wieder innerhalb kurzer Zeit durchnässt und es war ziemlich kalt. Das Essen war soweit in Ordnung, wenn auch mitunter etwas fremd anmutend. In der Freizeit wurde viel draußen unternommen, meist Spaziergänge und Wanderungen, 1 oder 2mal ging es zum Rodeln am Hang hinter dem Sanatorium. In der Stadt durften wir manchmal von unserem Taschengeld einige Süßigkeiten kaufen, das war ein Highlight. Es gab auch 1 oder 2mal einen Kinonachmittag (das Kino befand sich in einer der unteren Etagen im Sanatorium, soweit ich weiß). Leider waren die Filme eher etwas für kleinere Kinder und ausschließlich in der Landessprache, aber Zeichentrickfilme versteht man ja dennoch irgendwie. Auch durften wir öfter nachmittags in einer Art Gemeinschaftsraum Karten spielen, Zeichnen etc. und dabei mit einem Plattenspieler Musik hören.
Früh wurde regelmäßig die Körper-Temperatur gemessen (unter dem Arm oder im Mund) und es wurde hin und wieder mit Salzwasser gegurgelt. Geduscht wurde gemeinsam, nach Gechlecht aber nicht nach Alter getrennt … manchmal etwas eigenartig vom Gefühl her. Das Personal war sehr nett. Bis auf eine Schwester, die sehr rigoros war. Sie sah es nicht gern, wenn wir zur Schlafenszeit zur Toilette gingen, also taten wir es irgendwie heimlich, wenn sie Aufsicht hatte. Alle anderen Schwestern waren freundlich und fürsorglich. Ich kann mich sogar noch an ihre Namen erinnern, sowie auch an einige der anderen Kinder bzw. Jugendlichen. Insgesamt habe ich an diese Verschickung die meisten Erinnerungen und durchaus einige gute. Dennoch war ich auch dort von beständigem Heimweh geplagt, zumal ich den Jahreswechsel und meinen Geburtstag dort verbrachte. Wie es sich mit den Weihnachtstagen verhielt weiß ich nicht mehr. Sechs Wochen sind jedenfalls lang, dazu die große Entfernung von der Heimat, in einem fremden Land. Man ist darauf angewiesen, dass Menschen, die man nicht kennt, einen wieder nach Hause bringen. Da man selbst nicht in der Lage dazu ist. Das ist und bleibt beängstigend.
Ich weiß noch wie erleichtert ich war, als das Flugzeug bei meiner Rückreise endlich wieder in Berlin-Schönefeld landete.
1987 sollte ich noch einmal ins Ausland verschickt werden (wahlweise nach Zypern oder Jugoslawien). Dagegen habe ich mich jedoch erfolgreich gewehrt. Meine Eltern haben mir das jahrelang immer wieder vorgehalten, wie „dumm“ ich doch war, so etwas tolles abzulehnen.
Noch lange nach meiner Verweigerung habe ich befürchtet, man würde mich irgendwann (praktisch über meinen Kopf hinweg) doch noch wieder wegschicken. Das passierte aber, Gott sei Dank, nicht. Gesprochen habe ich über all meine Ängste und Belastungen nie. Man hatte sich anzupassen und zu funktionieren, wie es von einem erwartet wurde.
Bis zur heutigen Zeit, bin ich ein Mensch, der zutiefst verunsichert ist und für den Reisen purer Stress sind. Weswegen sie soweit als irgendwie möglich vermieden werden. Ich brauche meine gewohnte Umgebung, meine alltägliche Routine und vertraute Menschen und Abläufe, um mich wohlzufühlen. Es muss quasi alles irgendwie kontrollierbar für mich sein. Ich muss die Gegebenheiten um mich herum einordnen können. Alles darüber hinaus bedeutet für mich Stress in höchstem Maße.
Vor einigen Jahren sollte ich zu einer medizinischen Rehamaßnahme, angedacht von einer größeren Behörde. Es kam mir vor, als hätte ich keine Wahl... ich fing an zu zittern, brachte kaum noch ein Wort heraus, hatte Panik. Die Sachbearbeiterin war sehr erschrocken über meine Reaktion und so nahm man letztendlich davon Abstand, was für mich eine große Erleichterung war.
Bei mir ist einiges in meiner Kindheit und Jugend, aber auch später, nicht so gelaufen wie es besser hätte sein sollen. Derzeit bin ich erwerbsunfähig verrentet. Nach diversen Diagnosen (wie Angststörung, Agoraphobie, Bindungsstörung u.s.w.) ergab sich im Laufe jahrelanger Therapie, dass ich unter einer komplexen posttraumatischen Belastungsstörung leide. Die Verschickungen haben ihren Teil dazu beigetragen, selbst wenn ich nicht so massive Gewalterfahrungen machen musste, wie so viele andere hier.
In meiner Familie wird dieses Thema eher abgetan, nach dem Motto: „Das war halt damals so.“ Ich sollte es doch endlich ruhen lassen.
Für mich sind es einige der Erfahrungen meines Lebens, die mir schon früh das Empfinden von Sicherheit genommen haben. Was blieb war ein permanentes Gefühl von Unsicherheit, Ausgeliefertsein, Machtlosigkeit und latenter Bedrohung... bis heute.

Simone - 2023-10-05
Verschickungsheim: Kinderkurheim Haindorf-Schmalkalden
Zeitraum-Jahr: 1971/72
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich bin Jahrgang 1966 und wurde kurz vor meiner geplanten Einschulung 1972 von einem Amtsarzt untersucht und für nicht lernfähig befunden, da ich zu dünn war. Darauf hin kam ich mit 5 Jahren nach Schmalkalden zur Kur. Eltern hatten damals in der DDR Eltern kein Recht sich gegen diese Maßnahme auszusprechen. Das weiß ich von meiner Mutter. An die Anreise habe ich keinerlei Erinnerungen mehr. Meine Mutter sagte mir nur, dass sie mich zum Bahnhof nach Leipzig gebracht haben und dort wurde ich von einer Betreuerin in Empfang genommen.
Ich war ein stilles und schüchternes Mädchen, das während der 6wöchigen Kur nur geweint hat, vor lauter Heimweh. Das Heimweh war so stark, dass mein Hunger und Appetit darunter gelitten haben. Ja, man musste aufessen. Wenn man nicht aufgegessen hat, musste man am Tisch sitzen bleiben bis der Teller leer war. Da ich fast ununterbrochen geweint habe sind die Erzieherinnen mit mir verzweifelt. Als ich einmal wieder nicht aufgegessen habe, hat mir eine Erzieherin (schwarze Haare ein Dutt - sehe ich heute noch vor mir) eine Ohrfeige gegeben. Ich fiel um und machte mir dabei in die Hose vor Angst. Dies hatte zur Folge, dass ich nach dem Abendbrot nicht mit den anderen Kindern den Sandmann im Fernsehen anschauen durfte. Nein, so eingenässt wie ich war musste ich mich hinter den Fernseher mit dem Gesicht zur Wand stellen, und so stehen bleiben bis die Sendung vorbei war. So klein ich damals war, aber das konnte ich nie vergessen. Ich sehe immer noch förmlich den großen Speisesaal vor mir. Auch den Schlafsaal wo mein Bett an einem Fenster stand. An den Park vor dem Heim kann ich mich auch gut erinnern. Es gab große Bäume und dahinter waren große Berge. Damals saß ich oft auf einer Bank und habe die Berge angestarrt. Ich dachte damals, wenn ich diese bezwingen könnte, dann wäre ich wieder zu Hause. Die Zeit dort kam mir wie ein halbes Leben vor. Meine Eltern schrieben mir Briefe auf denen sie bunte Bilder geklebt hatten, denn ich konnte ja noch nicht lesen und schreiben. Die Briefe wurden mir vorgelesen. Jedoch nicht alle, wie ich später erfuhr, da ich jedes Mal beim Vorlesen bitterlich geweint habe.
An den Tag der Abreise kann ich mich ebenfalls kaum noch erinnern. Nur als der Zug in Leipzig einfuhr, ich ausstieg und an meinen Eltern vorbei gelaufen bin. Meine Mutter sagte später, dass sie ganz erschrocken war, wie ich aussah. Noch dünner bin ich wiedergekommen. Ich habe wochenlang nicht mit meinen Eltern gesprochen. Saß eingeschüchtert und teilnahmslos da und man konnte mich nicht mehr alleine lassen. Als endlich die verspätete Einschulschulung stattfand, war das für mich eine Tortour. Alle Kinder waren glücklich nur ich weinte zum Schulanfang. Es gibt ein Foto von mir mit der Zuckertüte, auf welchem ich wahrlich total traurig aussah.
Im Schulalter war ich noch zweimal in einem Ferienlager, wo ich ebenfalls nur geweint habe. Nichts habe ich dort genossen. Es war einfach nur schrecklich für mich. Ich denke schon, dass mich dieser Kuraufenthalt dermaßen geprägt hat. Trennungen, Abschiede usw. - mit vielen zwischenmenschlichen Dingen kann ich einfach nicht umgehen. Auch meine Beziehungen scheiterten letztendlich an meiner Bindungsunfähigkeit und meine Verlustängsten. Lieber keine Beziehung eingehen, als eine Trennung durchmachen.
Ich finde es gut, dass man sich hier austauschen und sein Erlebtes mitteilen kann. So kleine Kinder ohne Eltern zur Kur zu schicken ist schon fast unzumutbar. Damals habe ich nicht begreifen können, was es bedeutet 6 Wochen von zu Hause fort zu müssen. Auch die Tatsache dass mein permanenter Gewichtsverlust zur Kur doch jemandem hätte auffallen müssen, verwirrt mich sehr. Dann muss man ein Kind doch nach Hause schicken. Die Ohrfeige und das Einnässen habe ich erst im Erwachsenenalter meinen Eltern erzählt. Sie waren entsetzt und erstaunt, dass ich das alles nie vergessen habe.
Diese Erinnerungen verblassen nie!

Thomas - 2023-09-11
Verschickungsheim: Frohe Zukunft Wiek auf Rügen
Zeitraum-Jahr: 1974
Kontakt: Keine Angaben

Ich bin 63er Jahrgang und weiß ehrlich nicht so recht wie ich mit den vielen, meist negativen Meinungen hier umgehen soll. Um es vorweg zu sagen ich habe meinen Aufenthalt 1974 nicht als negative Kinderverschickung in Erinnerung auch wenn die meisten Erinnerungen nur noch schemenhaft vorhanden sind. Warum ich nach Wiek geschickt wurde weiß ich nicht da ich gesund war und wohl aber etwas dünn. Meine Eltern sind mittlerweile verstorben und können mir da nicht weiterhelfen. Die kalten Duschen, die vermeintlichen Esszwänge, Büstenmassagen das hat sich nicht als besonders negativ eingeprägt. Einmal den Magen verdorben und eine recht unsensible Reaktion der Erzieherin... mit viel mehr Negativem kann ich da nicht dienen. Ich habe es als normale Auszeit vom Schul- und Lebensalltag in Erinnerung so auch meine kleine Freundin Martina Winkler aus Leipzig, die Spaziergänge mit ihr, die Abschlussveranstaltung... alles nicht wirklich bedrückend. Auch der große Schlafsaal, war doch im Ferienlager nicht so viel anders.
Es ist schlimm dass viele dieser Kinder bis heute traumatisiert sind und das nicht nur oder insbesondere in den DDR Kinderkurheimen. Für mich ist mein Kuraufenthalt wie auch mein Leben in der DDR ein bunter Mosaikstein meines Lebens . Vielleicht ist das auch ein Resultat meiner doch schönen Kindheit welche ich nicht missen möchte.

Ute - 2023-08-18
Verschickungsheim: Bansin auf Usedom
Zeitraum-Jahr: 1966
Kontakt:

Ich bin Ute und jetzt 62 Jahre alt und wurde mit 5 Jahren zu einer Kur an die Ostsee geschickt. Ich war ein schlechter Esser und sollte dort wohl gepäppelt werden. Bildhafte Erinnerungen habe ich nur no ch sehr wenige aber das sehr ungute und mulmige Gefühl beim Rückblick fühle ich noch sehr gut. Ich sollte mich an der Ostsee in Bansin, in einem Kurheim der SV- Sozialversicherung der DDR, erholen. Ich erinnere mich an 10 Betten in einem Zimmer, weitere drei Zimmer auf diesem Treppenabsatz und annähernd militärische Abläufe und eben diesen Befehlston. Zu den Mahlzeiten musste ich, so auch einige wenige andere Kinder, solange im Speisesaal bleiben, bis wir unsere Teller leer hatten. Ich erinnere mich heute noch an die stetig in mir aufsteigende Übelkeit. Regelmässig nach den Mahlzeiten gingen alle Kinder in langen Schlangen zur Toilette. Ausserhalb dieser Zeiten war es nicht möglich. An der Toilettentür stand eine der Betreuerinnen, in meiner Erinnerung dick, alt, grau gekleidet und mit bösem Gesicht und verteilte an jedes Kind eine kleine Menge Toilettenpapier. Meistens war es nicht ausreichend. Sehr oft habe ich aber diese offiziellen Toilettenzeiten nicht mitmachen können, weil mein Teller noch nicht leer war. Als ich dann im Speisesaal soweit war, ging ich allein zur Toilette...die auch nur dort war. Die Papierrolle hing an einem Band ganz oben im Türrahmen und war für ein 5jähriges Kind unerreichbar. Manchmal habe ich mir, in Verstärkung einzelner anderer Kinder, einen Stuhl aus dem Speisesaal geholt, um an das wichtige Utensil zu gelangen. Oft haben wir es uns aber nicht getraut und viele Stunden alles angehalten. In solch einer Situation habe ich dann auch mal eingnässt. Als es bemerkt wurde, musste ich meine Unterhose ausziehen und sie, untenrum nackt, auswaschen. Dieses Waschbecken war auf dem Treppenabsatz von dem alle Zimmer ausgingen. Alle anderen Kinder konnten mich also so sehen und ich habe mich ganz furchtbar geschämt. Nach dem Auswaschen wurde der Schlüpfer auf einen dort befindlichen Heizkörper- riesiger alter Gussheizkörper mit abgeblätterter Farbe- aufgehängt und ich musste daneben stehen bleiben, bis meine Unterwäsche getrocknet war. Ebenso nackt untenrum. Ich weiß nicht wie lange ich da stand,aber alle anderen Kinder schliefen schon fest und es war draußen stockdunkel. Ich war am nächsten Morgen sehr müde. Wenn ich mich recht entsinne, war es eine vierwöchige Kur. Nach ca. 2 Wochen erkrankten die ersten Kinder dort an Masern und Keuchhusten und wurden in das nächste Krankenhaus nach Ahlbeck transportiert. Hier gingen gefühlt täglich Transporte ab und ich war dann nach ca. 3 Wochen auch dabei. Ich erinnere mich noch ganz genau an das Gefühl, als ich dann in diesem Krankenhausbett lag. Hier waren die Schwestern alle sehr nett, sie lächelten mich an und ich durfte nur essen was ich schaffte. Insgesamt war ich mehr als sieben Wochen von zu Hause weg und ich dachte mir manchmal, dass ich wohl nie wieder dort hin zurück komme. Aber im Krankenhaus war es viel viel besser als in dieser Kurklinik und so fand ich mich fast mit einem möglichen dauerhaften Aufenthalt auf dieser Station ab. Manchmal veblassten die Bilder von zu Hause vor meinen Augen und ich musste mich sehr anstrengen, die Gesichter meiner Eltern und meines kleinen Bruders vor mir zu sehen. Aber alle hier waren nett, keiner hat mich schikaniert oder verletzt, also sollte es wohl so sein. Irgendwann nach einer gefühlten Ewigkeit,es müssen ca. 7 1/2 Wochen gewesen sein, kam abends eine Schwester an mein Bett und war ganz aufgeregt. Sie sagte ich solle mich ganz schnell anziehen, ich würde abgeholt und sie packt rasch meine Sachen. Ich folgte ihrer Aufforderung, aber alles war so unwirklich. Ich hatte nur Angst wieder zur Kur zu müssen...Draussen im Flur standen zwei Männer und als ich näher kam erkannte ich, allerdings sehr langsam, meinen Vater. Er hatte eine Dienstreise nach Greifswald und hat mit dem Chauffeur einen Umweg nach Ahlbeck ausgemacht, um mich nach Hause zu holen. Wir sind dann viele Stunden durch die Nacht gefahren und ich war wach die ganze Zeit, um wirklich zu sehen, wie es nach Hause ging....Ich habe das erste Mal nach mehr als 35 Jahren darüber gesprochen....Meine Eltern waren entsetzt, hatten sie doch mein Bestes gewollt...Vor nicht allzu langer Zeit war ich auf Usedom im Urlaub und habe in Bansin dieses Gebäude gesucht und auch gefunden. Es war damals eine schöne alte Villa und ist heute in Privatbesitz und toll saniert. Irgendwie hatte ich wohl gehofft, eine dieser ehemaligen Betreuerinnen dort zu treffen um ihr ins Gesicht zu spucken.....

Simone - 2023-08-14
Verschickungsheim: Kinderkurheim Dahmshöhe
Zeitraum-Jahr: 1978
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war im Sommer 1978 in Dahmshöhe. Ich war damals schon fast 13, habe daher sehr klare Erinnerungen. Auch habe ich damals Tagebuch geführt, weiß also, dass meine Erinnerungen real sind.

Ich erinnere mich sehr deutlich an den Tag unserer Ankunft. Wir mussten alle unter Aufsicht eine Karte an unsere Eltern schreiben, der Text war auf einer Tafel vorgeschrieben. Natürlich nur positives. Dann wurde alles von uns eingesammelt, was man nur einsammeln konnte. Taschengeld wurde weggeschlossen, das bekam ich dann am Ende der Kur wieder, mit einer Quittung auf der stand, dass Geld für Spende für deutsch-sowietische Freundschaft oder so was entnommen worden war. Auf meinen Protest hin, sagte die Erzieherin "Du bist also gegen deutsch-sowjetische Freundschaft?" Naja, was sagt man dann noch, als Kind. Meine Armbanduhr wurde auch weggeschlossen. Auch alle Süssigkeiten wurden eingesammelt ("Sonst kommen Mäuse ins Haus"). Wir kriegten dann Sonntags ein kleines Stückchen, irgendwas, es war alles gemischt. Sicherlich haben die Erzieher sich die besten Sachen genommen. Dasselbe mit Zahnpasta. ("Die kleinen Kinder essen sonst die Zahnpasta") Ich hatte eine sehr gute, von der Tschechei. Stattdessen wurde mir jeden Abend diese grässliche süssliche DDR-Kinderzahnpasta Putzi auf die Zahnbürste geschmiert. Als ich mal Zahnpasta-Dienst hatte, habe ich meine eigene in der grossen Schüssel gesucht, weiß nicht mehr, ob ich sie gefunden habe.

Ich war mit noch einem fast 13-jährigen Mädchen allein im Turmzimmer. Laut Heimleiter hatten wir das schönste Zimmer. Und waren ihm dafür nicht dankbar genug. Er nannte uns seine "Zimtzicken". Überhaupt kann ich mich an recht viele beleidigende Bemerkungen erinnern. Ich weiss noch, dass alle unsere Sachen weggeschlossen wurden. Ich glaube wir durften nur einmal in der Woche richtig duschen. Genau weiss ich, dass wir nur einmal in der Woche neue Sachen anziehen durften. Das fanden wir als pubertierende Mädchen so ekelig! Meine Zimmernachbarin hatte schon ihre Tage. Ich weiss noch, dass wir es dann geschafft hatten, mit einem Stift heimlich den Schrank in unserem Zimmer aufzubrechen, um an saubere Unterwäsche heranzukommen. Wir hatten ja genug mit! (Es mussten genügend Sachen für vier Wochen mitgebracht werden. Ich erinnere mich noch an die endlose Stickerei, alles mit meinem Zeichen zu versehen. Ob die Heimleute irgendwann mal Wäsche gewaschen hätten, ist mir nicht bewusst.)

An irgendwelche sexuellen Übergriffe von Seiten des Heimleiters erinnere ich mich nicht. Ich war aber auch damals eher sehr mager, deshalb war ich ja hingeschickt worden. Ich habe mich in dem Heim so geärgert, dass ich dann nochmal zwei Kilo abgenommen hatte. Wenn es solche Übergriffe gegeben hat, dann hat sich der Mann möglicherweise auch lieber Opfer gesucht, die jünger waren, und sich nicht so gut erinnern würden.

Das Essen war manchmal schlecht, manchmal ok. Ich musste auch zu Hause immer aufessen, von daher war ich solchen Kummer gewohnt. Aber so schlimm wie im Heim war es zu Hause nicht. Ich mag auf Schnitten meine Butter nur ganz dünn. Ich erinnere mich, dass mich einmal eine Erzieherin zwang, den ganzen Rest meiner Butter auf einen kleinen Rest Schnitte zu schmieren, und das zu essen. Da kommt es mir heute nocht fast hoch bei dem Gedanken. Ich erinnere mich auch an das Pilzesammeln. Es gab massenhaft Pilze, aber sie endeten nie in unserem Essen. Wer weiss was die Leute damit gemacht haben.

Jeder Tag begann mit kalten Gesichts- und Nackengüssen, und einer Bürstenmassage. Dabei mussten wir alle zusammen nackt in einem Raum stehen, und ein Kind musste die Bewegungen vormachen. Mich hat das nicht gestört, unsere Familie hat immer FKK gemacht. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke, kommt es mir doch sehr seltsam vor.

Es gab auch ein paar schöne Erinnerungen. Wir durften baden gehen, haben viele Lieder gelernt. Einmal waren wir im nahegelegenen Ort und haben dort Eis gegessen. Die vielen Wanderungen fand ich eher öde und viel zu lang. Eine Exkursion war zum KZ Museum. Irgendwann durften wir basteln, das hat mir dann sehr über die letzten zwei Wochen geholfen.

Das Schlimmste fand ich die Zensur der Briefe. Wir mussten immer unsere Briefe offen einer Erzieherin geben. Eine war jung, und fand die Sache offenbar peinlich. Der hab ich dann einen Brief gegeben, sie las ihn, und dann hab ich ihn zugeklebt. In dem Brief erwähnte ich Heimweh, und dass unsere Schokolade eingesammelt worden war. Am nächsten Tag kam der Heimleiter mit dem wieder geöffneten Brief in unser Zimmer und hat einen riesigen Krach gemacht. Ich habe den ganzen Abend geheult, und musste einen neuen Brief schreiben. Ich habe dann in einer geheimen Zeichensprache, die nur ich und meine Schwester kannten, den Satz "Alles Scheiße hier" an den Rand gekrakelt. Mehr hab ich mir nicht getraut, ich hatte Angst, der Mensch würde sonst merken, dass die Zeichen ein Alphabet waren. Hoffte dann lange, dass mich meine Eltern abholen kommen würden, aber sie kamen nie. (Sie sagten mir später, dass sie sich Sorgen gemacht hatten, aber einfach nicht wussten, wie schlimm es war. Ich hatte einfach nicht genug Information durchschleusen können.) Ich habe dann lange darüber fantasiert, mich irgendwie zum nahen Ort durchzuschlagen, um einen unzensierten Brief in die Post zu geben, aber das war hoffnungslos.

In meiner Erinnerung hiess der Heimleiter Fred Goldberg, aber viele andere hier sagen Goldmann. Ich erinnere mich, dass er immer wieder erzählte, dass er im KZ gewesen war. Er brachte uns verschiedene Protestlieder bei, die sie damals im KZ gesungen hatten, unter anderem ein Piratenlied, in der eine Zeile hiess "Und dann steigt am schwankenden Mast empor unsere Fahne, so rot wie das Blut". Das war so deren heimlicher Protest gewesen. Er betonte uns gegenüber immer wieder, dass er nach dieser Gefangenschaft sehr scharfe Ohren hätte, und ALLES von uns hören könnte, und alles in Erfahrung bringen würde.
Ich dachte als Erwachsene oft über diese Kur nach, und dachte damals, der Mann hatte sich an uns deutschen Kindern rächen wollen. Ich dachte auch immer, es sollten Ermittlungen stattfinden, und die Leute dort zur Rechenschaft gezogen werden. Ich hatte keine Ahnung, dass diese Kurheime so weit verbreitet und fast alle so schlimm waren.

Melanie L. - 2023-08-06
Verschickungsheim: unbekannt, DDR
Zeitraum-Jahr: 1982
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war im Alter von 5 Jahren im Jahr 1982 zur Kur. Wir wohnten damals in Halle/ Saale, der Kurort ist mir nicht (mehr) bekannt. Erst im vergangenen Sommer kam die Erinnerung hoch, dass ich zur Kur war, jedoch sind diese 6 Wochen wie ausradiert.
Ich kann mich an Situationen aus meinem Kindergarten und der Schule erinnern, aber fast nichts von der Kur - keine Gesichter, Namen oder Gefühle.
Einzig wusste ich noch, dass wir aus einem privaten Garten Pflaumen gemopst hatten (also muss es Spätsommer gewesen sein) und am Tisch mit dem Armen hinter der Lehne sitzen mussten, damit der Oberkörper kerzengerade ist.

Dank Google stieß ich auf diese Seite. Die Tatsache, dass kaum Berichte aus der DDR zu finden sind und die meisten keine Erinnerungen haben, macht mir Angst! Ich sprach eine Freundin an, ob sie auch zur Kur war. Sie bejahte es und hat ebenfalls keinerlei Erinnerungen.
Durch das Lesen und die Gespräche darüber mit meiner Mutter kamen folgende Erinnerungen bei ihr oder mir wieder hoch:
- Wassertreten; auch ich watete in der Kinderkur in kalten Wasser, weiß aber nicht in welcher Räumlichkeit
- Szene, wo eine Frau auf meiner Bettkante saß und mir einen Brief meiner Eltern vorlas (jedoch nicht wie es mir ging, was um mich herum geschah)
- Meine Mutter bestätigte, dass auch ich mit einem Koffer voll sauberer Kleidung heim kam. Nur wenig Kleidung war schmutzig. Sie dachte damals dass diese gewaschen worden sei, aber nachdem, was ich hier las, wurde sie sicher bei Ankunft abgenommen.
- Nach meiner Rückkehr war ich sehr still, völlig verändert. Auf alten Bildern der Sonnenschein, war ich auf Bildern nach der Kur ein Trauerkloß.
- Wir sprachen nochmal zu Tisch, aber nach meiner Rückkehr sagte ich am Tisch kein Wort, selbst nachdem mir meine Eltern sagten das sei ok und ich darf es, erwiderte ich, dass ich es nicht darf. Auch saß ich weiterhin am Tisch mit den Armen rückwärts über die Lehne.
- Ich habe nach meiner Rückkehr kaum etwas gegessen.
- Meine Eltern durften mir keine Pakete senden. Nur einmal kam Post von mir. 6 Wochen absolutes Kontaktverbot, lediglich Briefe durften sie senden. Wie oft wir diese erhielten weiß ich nicht.

Ich wurde zur Kur geschickt (vom System, nicht meinen Eltern), um zu wachsen, da ich als Vorschulkind zu klein war. Ich kam nach den 6 Wochen tatsächlich etwas größer zurück. Wie das???

Auf der Suche nach Antworten las ich hier sehr viele Berichte und frage mich, ob ich deswegen
- Sauna und Hitze nicht mag. Es gibt mir das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
- Eisbaden/kalt duschen meide.
- Butter nicht mag.
- Verlassensängste habe. Meine Eltern waren sehr fürsorglich, aus meiner sonst behüteten Kindheit kann es nicht kommen.
- Immer wieder Situationen erfahre, in denen ich absolute Ohnmacht fühle, also andere ihre Macht mir gegenüber ausspielen können, ohne dass ich etwas daran ändern könnte.
- Trotz dass ich eine schöne Frau bin, kein Selbstwertgefühl habe.

Als Kind war ich Linkshänder und musste umerzogen werden. Ob dies während der Kur begann der später weiß ich jedoch nicht.

Denen, die wie ich auf der Suche nach Antworten sind, kann ich ebenfalls keine geben, aber ich werde mir professionelle Hilfe suchen, da ich die Geschehnisse dieser 6 Wochen wissen möchte, egal wie schmerzhaft sie sind.

Ich wünsche und allen Antworten und Heilung.

Manuela Holt geb. Sterrmann - 2023-07-22
Verschickungsheim: Kindersanatorium Kartzow
Zeitraum-Jahr: 1973-1979
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich bin in der DDR groß geworden. Ich war als Kleinkind schon krank. Bis man irgendwann rausfand das ich Nierenkrank bin.Ich war meine halbe Kindheit nur im Krankenhaus oder in diesem Sanatorium Kartzow. 3 mal war ich da immer 6 oder 8 Wochen. Nie werde ich vergessen wie lang die Tage und Wochen waren . Keine Verbindung nach Hause,keine Besuche von zu Hause.Dort wurden Anwendungen gemacht ( Schlammbäder u.s.w.)
Jeden Tag zig Medikamente bekommen.Angeblich Vitamine wurde den Kindern gesagt.
Alles wurde dokumentiert. Niemand durfte wiedersprechen.
Wir haben viel geweint.
Ich entsinne mich das wir irgendwie nur Mädels dort waren?,!
Heute ich werde dieses Jahr 56 Gesundheitlich sehr angeschlagen grübelt man natürlich was haben die dort gemacht mit uns?!
Experimente?

Katrin K. - 2023-07-16
Verschickungsheim: Dietlas (Rhön) & Bad Gottleuba (Sachsen)
Zeitraum-Jahr: 1978 & 1982/1983
Kontakt: Keine Angaben

.. ich musste zweimal zur Kur

[b]Frühjahr 1978[/b], als Vorbereitung für meine Einschulung .
Ich bin 1971 mit angebeorenen Herzfehlern zur Welt gekommen, habe praktisch mein ganze erstes Lebensjahr im KH verbracht, mehrmals op.
Daraufhin war ich immer zu dünn, zu klein… „Spätentwickler“, sagte man gerne, mein Körper hatte eben zu tun, gesund zu werden.
Bei der Schuluntersuchung wurde ich darum 1 Jahr „zurückgestellt“ (vielleicht sogar auch auf Wunsch meiner Mutti, damit ich zusammen mit meiner 1 Jahr jüngeren Schwester eingeschult werden konnte) Es hieß immer, ich bin viel zu winzig, kann ja gar nicht die Schulmappe tragen – das war mitfühlend & auch spaßig gemeint, ich fand es erniedrigend.
Als Kind will man immer „groß“ sein, was können – ich konnte nicht mal die Schulmappe tragen…. erniedrigend.

Als es hieß, ich soll zur Kur, konnte ich mir darunter nichts vorstellen, nur, dass ich lange von Zuhause weg sollte, wusste ich genau – & wollte es nicht.
Obwohl mir meine Eltern versuchten, Mut zu machen – verreisen, es ist was ganz besonders. Etc...

An die Abfahrt von irgendeinem Berliner Busbahnhof kann ich mich wage erinnern, meine Angst, meine Traurigkeit, meine Ohnmacht. An [b]Dietlas (Rhön) [/b]selbst habe ich kaum Erinnerungen:
die riesigen Schlafräume mit unheimlich vielen Betten, die Bastelarbeiten für meine Eltern zu Hause (die Vorschulkinder konnten ja nichts schreiben), an Wassertreten (Kneippkuren?), an lange Spaziergänge. An Kälte, an Angst, an unendliches Heimweh – immer dieses Bedürfnis zu weinen, aber keine „Heulsuse“ sein zu wollen – das empfinde ich ganz genau. & immer still sein. Ich bin schon ein zurückhaltender Mensch, aber ich denke (oder schlussfolgere heute nur), in der Kur wurde ich still, vielleicht sogar stumm. Ich lernte mich zu verstecken & unsichtbar zu bleiben, aber ich erinnere nicht warum.
An die Essensgeschichten habe ich ebenfalls gar keine Erinnerung – die kommen erst später in der zweiten Kur in [b]Bad Gottleuba 1982/1983[/b]

Im Übrigen kam ich von Dietlas mit Röteln zurück. An das Glück, endlich zu Hause zu sein, erinnere ich mich – nie wieder wollte ich weg.

Aber ein paar Jahre später musste ich;
es hieß, ich sei ja nun schon älter, das würde toll werden, viele Freundinnen, gut für meine Gesundheit, wir hätten da auch Schule, etc.
Mit mulmigen Gefühl erlebte ich die Vorbereitungen – der riesige Koffer wurde gepackt, füllte sich nach & nach gemäß einem Plan, was alles mit muss, Schildchen wurden in die Klamotten genäht, neue Klamotten wurden gekauft – ich fand das alles bedrückend & wollte nicht.

Aber das stand nicht zur Diskussion… nicht nur aus gesundheitlicher Sicht...
In der DDR war es beinahe eine „Auszeichnung“, zur Kur zu dürfen.
Man musste nicht nur besonders krank sein, der Haus-, Kinder- oder Facharzt mussten sich vor allem besonders dafür einsetzen, dass jemand zur Kur durfte… Dementsprechend waren meine Eltern immer dankbar & froh, wenn ich zur Kur durfte. Sie dachten, sie tun mir was Gutes….
– Kurplätze waren knapp… & ich mochte meine Kinderärztin.

& ich war ja leider zu still. ich habe mich als Kind nie beschwert, nichts erzählt…
dass ich so unglücklich aus Dietlas (& auch krank) zurück kam, schrieb man dem zu, dass ich damals erst 6 Jahre alt war, & vielleicht waren 6 Wochen von zu Hause weg etwas zu lange, dass ich einfach anhänglich bin & schnell Heimweh kriege, sehr sensibel, das dachte man eben.
Danke Mutti, dass du mich deswegen nie gezwungen hast, in so ein schreckliches Ferienlager zu fahren!

Aber ein zweitesmal zur Kur musste ich eben doch, nach [b]Bad Gottleuba[/b]! 1982/1983? ich weiß es nicht genau, & finde darüber nichts. Keine Fotos, keine Briefe...

An diese Kur erinnere ich mehr:
1.) die ewig lange Busfahrt, bei der wir aus vielen anderen Städten neue Kinder einsammelten, die genauso beim Abschied weinten wie ich in Berlin….
2.) der Zwang aufzuessen für alle, die zu dünn waren – d.h.
ekliges fettes Fleisch, undefinierbare Wurst, stinkender Käse, widerliche Milchspeisen (Milchnudeln, Griesbrei, warme Milch mit Haut),
Marmeladenbrote (ich hasse Marmelade, Honig, etc & das konnte man natürlich gar nicht verstehen – ein Kind muss doch Süßes mögen….)
3.) im ganzen Objekt stank es immer nach diesem eklig obersüßen Tee (oder Sirup? keine Ahnung)
4.) dauerhafte Übelkeit (zum Glück kein Erbrechen) & Ekel.
5.) Wir mussten so lange am Essenstisch sitzenbleiben, bis wir aufgegessen hatten, & manchmal konnte ich dann vom leeren Teller weg schnell in die Toilette & wenigstens den letzten Rest ausspucken, aber es war kein Erbrechen, & es hat kein Erzieher bemerkt oder bestraft….
Manchmal konnten wir unbemerkt Essen tauschen – mit denen die kaum was kriegten, oder anderes, & immer Hunger hatten….
6.) Das wöchentliche Wiegen – gruselig. Immer die Angst, abgenommen zu haben.
Nicht nur [b]nicht zugenommen[/b] zu haben, sondern [b]abgenommen[/b] zu haben. Wir wurden permanent ermahnt, das Kurziel (aufgepäppelt nach Hause zu kommen) muss erreicht werden! Denn wenn es nicht erreicht würde, würden unsere Eltern die Kur bezahlen müssen. Das war eine ungeheuerliche Drohung für mich. In der DDR musste niemand seine medizinische Sachen bezahlen – aber ich lief Gefahr, Schuld zu sein, wenn meine Eltern Riesenbeträge für eine wochenlange Kur aufbringen müssen??? Das hat mir tatsächlich Angst gemacht. Zu versagen & Schuld haben am Unglück meiner Eltern. & vor allem, das gar nicht beeinflussen zu können, denn obwohl wir brav aufaßen, nahmen ja viele vor lauter Stress & Heimweh ab….
7.) generell immer [b]Angst[/b]. obwohl ich keine Schläge oder sexuellen Missbrauch erleben musste, hatte ich die ganze Zeit Angst. Uns wurde jede Freude genommen – offen & subtil… Mit jeder Freude war was Unangenehmes verbunden, wahrscheinlich, damit wir bloß nicht „ausflippten“ & uns nicht „zu wohl“ fühlten.
8.) Pakete bekamen wir grundsätzlich nicht, die Süßigkeiten wurden auf alle verteilt, manchmal als Zugabe beim Vesper. Manchmal bekamen wir gar nichts. Kinder, deren Eltern das nicht wussten & Riesenpakete schickten, mussten alles „abgeben“, man nannte es harmlos “teilen“, aber das meiste landete garantiert in den Bäuchen der Erzieher – vor allem Süßes aus dem Westen war begehrt & bekamen wir nicht...
9.) Briefe & Karten von Zuhause durften wir nicht zu viele am selben Tag bekommen, denn dann mussten wir uns vor allen Kindern & Erziehern „produzieren“, d.h. ein Lied singen, ein Gedicht aufsagen…., bevor wir unsere Post bekamen. Super für ein schüchternes Kind – immer das Bibbern, [b]wenigstens ein[/b] Brief, aber [b]bitte keine drei[/b] – traurig. & mit Schuldgefühlen beladen – ich wollte mich doch freuen & nicht hoffen, wenig Post zu kriegen…. Alles wurde uns vermiest. Ich weiß nicht, ob wir unsere Post wirklich nicht bekommen hätten, wenn wir uns geweigert hätten – es hat niemand gewagt. Ob Post von uns Größeren zensiert wurde, weiß ich nicht, vermute es aber.
10.) morgendliche Wäsche mit eiskaltem Wasser… inwieweit das übergriffig war, erinnere ich nicht, aber morgens von irgendeiner ruppigen Erzieherin von Kopf bis Fuß mit eiskaltem Waschlappen (Abhärtung) am Waschbecken des Schlafsaales, im Beisein aller anderen Mädels, abgeseift zu werden – sehr unangenehm. & vor allem kalt, eiskalt.
11.) Mittagsschlaf in komplett abgedunkeltem Schlafsaal. Die Vorhänge waren mit irgendeiner schwarzen Farbe bezogen, sodass es finsterer war als nachts, wenn sie nicht zugezogen wurden & immerhin Mondlicht rein scheinen konnte.
12.) Natürlich herrschte zu den Ruhezeiten Sprechverbot, aber geflüstert & über die Betten hinweg Händchen gehalten haben wir trotzdem. & wurden dafür nicht bestraft.
Ich wünsche mir, dass das nicht etwa daran lag, weil statt dessen die Kleineren gequält wurden.

Es macht mich unendlich traurig, was ich hier lesen konnte. Dass es genauso & viel schlimmer auch in der BRD zuging…
Dass ich irgendwie noch gut davon gekommen bin..

Ich bin erstaunt, wieviel beim Schreiben hochkam, & dass meine einzige [b]gute [/b]Erinnerung ist:
die Freundschaft mit den Mädels in Bad Gottleuba.
Dass keine der dort geschlossenen Freundschaften hielt, zeigt, dass wir alle tief verletzt nur vergessen wollten.

Ich hoffe, mit meinem Text dazu beizutragen, dieses Kapitel auch für die[b] DDR-Kinderkuren[/b] aufzuarbeiten.

Danke für euer Engagement,
Katrin K.

Frank von Gliszczynski-Endler - 2023-07-05
Verschickungsheim: Kinderkurheim "Freundschaft"
Zeitraum-Jahr: 1974
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo,
wenn ich zurückblicke, dann erinnere ich mich an Gewalt. Keine körperliche Züchtung; vielmehr mentale Anstrengungen der "Erzieher", Kinder in passgerecht in Formen zu pressen. Vermeintliches Fehlverhalten wurde öffentlich gebrandmarkt. Der/die betreffenden Kinder wurden vorgeführt.
Politische Indoktrination, typisch für das Schulsystem der DDR, waren alltäglich. Pädagogik, Einfühlungsvermögen, Sensibilität spielten seitens des Heimes keine Rolle.

Frank von Gliszczynski-Endler

Markus Haug - 2023-07-03
Verschickungsheim: Herrlingen
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Bin gerade auf diese Seite gestoßen.
Ich war mit meinem Bruder in Herrlingen, müsste so um 1973 oder 1974 gewesen sein.
Es war der Horror. Wir Brüder wurden getrennt, es gab 2 verschiedene Häuser. Einen ekelhaft Brei musste ich essen, ich glaube es war Milchreis oder Grießbtei. Mir wurde der Brei reingeDDRückt und nach dem ich diesen erbrochen habe, musste ich das Erbrochene wieder essen.
Ich wurde weinend auf dem Boden herumgekickt und anschließend in ein kleines Zimmer gesperrt.
Ich habe bis heute diese Bilder im Kopf und weiß nicht wie ich damit umgehen soll oder an welche Stelle ich mich wenden kann. Ich wünsche mir, dass ich die Erzieherinnen von damals zur Rechenschaft ziehen könnte. Ich hab immer wieder die Bilder im Kopf.

Stefanie Mertens - 2023-03-23
Verschickungsheim: Bad Sachsa
Zeitraum-Jahr: Sommer 1987
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo ich war 11 Jahre alt als ich zum Kinderkurheim nach Bad Sachsa fuhr. Die erste Enttäuschung war das dieses Haus nicht so aussah wie im Prospekt. Wir hatten vergitterte Fenster, wie im Gefängnis. So war auch die Stimmung. Psychische Folter war an der Tagesordnung. Es gab ein Jungenhaus und ein Mädchenhaus. Die Jungs mussten arbeiten im Garten,Ziegen hüten und wir Mädchen mussten Mittagsschlaf machen. Wer nicht spurte bekam die Wut und den Hass der Heimleiter zu spüren. Wir haben eine Hausdame gehabt wie Fräulein Rottenmeier(Heidi). Briefe wurden solange korrigiert bis der Brief keine Wahrheit mehr enthielt. Essen war grusselig, wir mussten mit den Zunehmen an einem Tisch sitzen. Abgenommen habe ich nichts. Sportliche Betätigung gleich null. Heute würde ich sogar sagen, die waren homophob, er fand das Mädchen mit kurzen Haaren nicht normal waren. Am schlimmsten fand ich das wir ohne Unterwäsche im Schlafanzug im Bett liegen mussten und morgens wurden wir in den Keller zu den Duschen geschickt und mussten uns ausziehen, wir wurden wie Vieh begutachtet von der Frau und mit einem Schlauch kalt ab gespritzt. Seine Ausraster waren schlimm, einmal sah ich wie er ein Mädchen mit dem Kopf gegen die Wand immer wieder haute. Auch kleinere Kinder waren da. Wir konnten nicht mehr vor Angst und sind bei Nacht und Nebel nur mit Nachthemd und ohne Schuhe in den Wald geflohen. Leider hatten wir es nicht zur Polizei geschafft wir wurde geschnappt. Wir durften die ganze Zeit unsere Eltern nicht anrufen. Geld und Papiere wurden uns am Anfang abgenommen. Irgendwann gab es nochmal ein Fluchtversuch. Danach wurde ein Ausflug gemacht angeblich um uns den Brocken zu zeigen. Wir fuhren zur Grenze der DDR. In Wahrheit wollten die uns über die Grenze schicken. Wir hatten Angst. Nur durch die junge Erzieherin,sie muss so 24 Jahre alt gewesen sein, erfuhren meine Eltern was davon. Meine ganze Kindheit verlief danach nicht mehr so wie vorher.

Sylvia - 2023-03-22
Verschickungsheim: Volkersdorf und Morgenröte-Rautenkranz, ehemalige DDR
Zeitraum-Jahr: 1977 und 1980
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war das erste Mal zur Kinderkur mit 8 Jahren beim zweiten Mal mit 11. Ich kann nicht mehr genau sagen, welcher Aufenthalt schlimmer war. Aber die Erlebnisse waren ähnlich.
Am schlimmsten war der Essenszwang. Wir mussten immer alles aufessen, ich sollte zunehmen. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Essen schlecht geschmeckt hat, aber es war zu viel für mich. Mir ist oft schlecht geworden. Dann musste ich draußen eine Runde spazieren gehen und dann weiter essen. Ich saß dann noch oft allein im Speisesaal. Am Ende hatte ich ganze 500g zugenommen, bei der zweiten kur wohl 800g. Manche Kinder haben ihr Essen in den Schlafsaal geschmuggelt und im Schrank versteckt. Natürlich haben die Erzieher das gefunden bei der täglichen Schrankkontrolle. Ich weiß nicht mehr, wie die Kinder bestraft wurden, kann mich nur noch erinnern, dass die Kinder dann immer geweint haben. Ich erinnere mich sowieso an viele verheulte Kindergesichter.
Ich musste meine Unterwäsche und Strümpfe immer mit der Hand waschen, weil ich zu wenig mit hatte.
Die Bürstenmassagen von denen hier schon einige berichtet haben, hab ich auch in schlechter in Erinnerung. Wir standen da alle im schlüpfer rum und mussten uns von oben nach unten abbürsten. Und Gymnastik machen, auch in Unterwäsche.
Ich erinnere mich auch noch daran, dass mal ein Mädchen eingenässt hat. Die wurde vor allen anderen Bloßgestellt.
Beim Briefe schreiben hat eine Erzieherin mich zur Schnecke gemacht, weil ich angeblich meinen eigenen Namen falsch geschrieben habe. Die hat mit mir gestritten, ich müsste meinen Namen mit i schreiben nicht mit y. War sowieso egal, weil die Briefe nie abgeschickt wurden.
Das einzig schöne waren die Ausflüge, die wir gemacht haben. Schloss Moritzburg z. B.
Ich habe aber bestimmt auch vieles verdrängt. Meine Mutter hat erzählt, dass ich nicht viel gesagt habe zu Hause. Ich war dann so in mich gekehrt.
Ich wußte bis jetzt auch nicht, dass es so vielen anderen Kindern in der DDR und in der BRD ähnlich ging und das viele noch schlimmere Erlebnisse hatten.

Harald - 2023-02-09
Verschickungsheim: Kindersanatorium Weißbach bei Schmölln
Zeitraum-Jahr: 1966
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war 1966/67 jeweils einmal in dieser damaligen DDR Einrichtung.
Die Dauer war jeweils 6 Wochen. Ich war mit 7 Jahren an Hepatitis erkrankt und wurde nach dem Krankenhaus dorthin geschickt um mich zu erholen und zu kurieren. Ich kann mich noch genau an den liebevollen Umgang aller dortigen Betreuungskräfte gegenüber uns Kindern erinnern. Nach dem Frühstück wurde eine Liegekur mit Wärmflasche auf dem Bauch durchgeführt. Je nach Gesundheitszustand erhielten wir dann laufenden Schulunterricht aber nicht mehr als 2-3 Stunden am Tag. Nach dem Mittagessen wieder Ruhe.
Dann begann die schönste Zeit des Tages : ausgiebige Spaziergänge
in der Gruppe in die wunderschöne Landschaft mit weiten Feldern ...
Ich lernte dort alle Getreidesorten kennen und unterscheiden.
Während den Wanderungen sangen wir kindgerechte Lieder und waren
meistens sehr fröhlich. (außer dem Heimweh)
Einmal in der Woche kam nach dem Abendessen der "Kinomann" und führte einen Film vor.
Fazit: Die Fürsorge die ich dort als Kind erleben durfte wird mir immer
in Erinnerung bleiben !

Michaela - 2022-10-29
Verschickungsheim: Mittelberg Oy Kindergenesungsheim
Zeitraum-Jahr: 1964
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war ein Verschickungskind im Kindergenesungsheim in Oy Mittelberg 1964

Der Beginn

Ich, Michaela und meine Schwester Eva kamen im Herbst 1964 für ca. 8 Wochen in das Kindergenesungsheim Oy Mittelberg im Allgäu. Bei meiner Schwester Eva gibt es nur noch wenig Erinnerung an unseren Aufenthalt; ich erinnere mich sehr gut.

Wir kamen aus München-Perlach. Meine Schwester Eva war 5 Jahre und ich 7,5 Jahre. Ich war ein dünnes Kind und, wie die Lehrer sagten, schlecht in der Schule und langweilig. Meine Schwester war lebhaft und eher „fester“ aber nicht dick. Wir waren gute Esser. Meine Schwester und ich hatten die letzten 1,5 Jahr mit Keuchhusten und Masern zu tun, so dass ein regelmäßiger Schulbesuch oft nicht statt fand.

Am 27. September 1964 kam unsere kleine Schwester Erika zur Welt. Es ging ihr sehr schlecht und meine Eltern mussten sie in München in der Klinik lassen und konnten das Baby erst nach ca. 3 Wochen nach Hause holen. Das müsse dann so zwischen 15. und 20. Oktober 1964 gewesen sein. Meine Schwester Eva und ich bekamen das Baby nicht zu sehen, da wir kurz vor der Klinikentlassung des Babys nach Oy geschickt wurden.

Um unsere Mutter mit dem neuen Baby zu entlasten, gaben die Eltern dem Hausarzt ihr Einverständnis zu unserer „Kur“. Eingewiesen hat uns unser Hausarzt Dr. Kampa in Perlach über das Müttergenesungswerk. Das hat uns unsere Mutter später erzählt.

Die Vorbereitungen

Ein Besuch im Heim durch unsere Eltern war verboten.
Es wurde uns Briefpost zum beschreiben von den Eltern eingepackt. Schon fertig mit der Heimatadresse und einer Briefmarke versehen. Unsere Kleider und Schürzen, die wir tragen sollten, waren alle mit Wäscheetiketten und unseren Namen benäht. Spielzeug oder Kuscheltier durfte nicht mitreisen.

Reise

Die Eltern brachten uns zum Hauptbahnhof München. Von dort ging der Zug mit vielen Kindern ins Allgäu. Mit Zwischenstationen in mehreren Kurorten, wo ebenfalls Kinder ausstiegen, kamen wir in Oy an. Dort wurden wir abgeholt. Wie, weiß ich nicht mehr.

Ankunft

In Oy Mittelberg gab es eine große Kinderkurklinik und ein oder mehrere angeschlossene Kindergenesungsheime.

Schon als ich unser Genesungsheim von außen sah und die vielen Kinder wurde mir Angst und ich hatte Heimweh.

Mädchen und Buben wurden erst mal vor dem Heim auseinandersortiert und wir durften nicht reden. Die Jungs, die mit uns gereist waren, wurden abgezweigt und von einem Lehrer weggebracht. Ich vermute, in ein weiteres Gebäude. Wir haben die Buben dann nur noch vereinzelt bei den ärztlichen Untersuchungen gesehen, bei denen wir auch nicht mehr miteinander sprechen durften.

Personal

Das Heim wurde von katholischen Nonnen geführt. Nachträglich konnte ich recherchieren: Die Schwestern kamen aus dem Kloster Mallersdorf – Mutterhaus der Armen Franziskanerinnen.

Zusammenhängend ist dazu zu sagen: Ich und meine Schwester Eva wurden in Mallersdorf geboren und lebten nun in München Perlach. Meine Lehrer dort und die Frauen im Kindergarten meiner Schwester waren ebenfalls Klosterschwestern. Mir flößten diese Schwestern stets Angst und Entsetzen ein. Meine Schwester ging allerdings gerne in diesen Kindergarten.

Aufteilung

Im Flur im Innenbereich angekommen, wurden meine Schwester Eva und ich „aufgeteilt“. Eva kam in eine andere Gruppe als ich und sollte zu den „Kleinen“. Ich kam in die Gruppe der „Großen“. Lange wurde von den Schwestern diskutiert, ob ich altersgemäß überhaupt in diese Gruppe passen könnte. Man hielt mich für zu jung, entschied sich dann aber doch für die „große“ Gruppe.

Wir mussten uns also sofort trennen. Unser Gepäck wurde von den Schwestern in unsere Schlafräume gebracht. Meine Schwester Eva weinte.

Was später mit meiner Schwester in ihrer Gruppe passierte, konnte ich oft nur durch lautes Weinen erahnen, da wir ständig durch Türen getrennt waren.

Im Zimmer der „Großen“ habe ich bemerkt, dass es anscheinend im Heim mehrere größere Mädchen gab, die ständig dort lebten.

Tagesablauf

Frühes aufstehen, ein paar mal wöchentlich frühmorgens ein langer Marsch in eine Bergkirche in dem dann ein Frühgottesdienst abgehalten wurde. Waschen. Frühstück. Briefe schreiben. Spielen. Mittagessen. Mittagsruhe. Spielen. Abendessen. Waschen. Schlafengehen. Die „größeren“ Mädchen, die ständig dort wohnten, gingen vormittags zur Schule. Ich kann mich an keine Ausflüge erinnern. Einmal waren wir nachmittags zum Schlitten fahren.

Das Essen

Das Essen fand an langen Tischen statt. Für jede Gruppe in deren Aufenthaltsraum. Jedes Kind hatte einen festen Platz mit einer Schublade unter der Tischplatte. Dort hinein kamen die vorgefertigten, mitgebrachten Briefkarten.

Es gab sehr fettes Fleisch, das ich als Kind nicht essen konnte. Mir graute einfach davor und ich würgte es ständig heraus. Ich musste es aber aufessen. Ich musste solange vor dem Teller sitzen, bis ich aufgegessen hatte. Es ging noch weiteren Kindern so.

Ich konnte das nicht essen und habe erbrochen. Um diese Tortur nicht weiter mitmachen zu müssen, habe ich das restliche Essen mit dem Fett in die Schublade unter mir geschüttet. Um das Briefpapier zu schützen habe ich mit Brot eine Barriere gebaut.

Als der Kuraufenthalt endete, war die Schublade voll, das Briefpapier leer und alles schimmelig. Aber dieses Essen brauchte ich wenigstens nicht mehr essen.

Meine Schwester Eva hatte solchen Hunger, dass sie einmal den Essenslift im Vorraum abwartete und anfing, die Suppen für das Mittagessen schon aus dem Lift zu löffeln. Sie war 5. Dann hörte ich nur noch Geschrei und es wurde nach mir gerufen. Ich sollte kommen und mir das Balg ansehen, das so sträflich gehandelt hatte. Meine Schwester wurde vor allen anderen Kindern verprügelt bis sie sich einnässte. Ich musste mit meiner weinenden Schwester dann zur Strafe mit ihr in die Schlafräume und sie umziehen. Wir durften erst zum Abendessen wieder in die Aufenthaltsräume. Wir mussten uns gegenseitig trösten. Niemand durfte dort an diesem Abend mehr mit uns sprechen.

Wir bekamen zu den jeweiligen Essen mehrere Tabletten auf den Tellerrand gelegt. Was das für Tabletten waren, kann ich natürlich nicht mehr sagen.

Manchmal kullerten die Tabletten in die Suppe und haben das Essen verbittert. Wir mussten trotzdem Essen. Es ist mir ein Mädchen in Erinnerung, das nicht die Suppe essen wollte und der die Suppe von einer Schwester regelrecht gewaltsam mit dem Löffel verabreicht wurde.

Einmal gab es einen Apfel zur Nachspeise. Mein Apfel war wurmig und auf einer Seite faulig. Aber ich musste abbeißen. Als die Schwester nicht mehr guckte, steckte ich den Apfel in meine Schürzentasche. Beim nächsten Toilettengang dachte ich mir aus, könnte ich den Apfel in der Toilette entsorgen. Das tat ich auch. Ich wusste nicht, dass Äpfel im Wasser schwimmen. Eine Klosterschwester riss die Toilettentür auf, guckte ins Klo, sah den Apfel. Ich musste ihn herausholen und sollte den Apfel vor allen Kindern essen. Ich versuchte es und musste wieder erbrechen. Die Strafe war, ich sollte den Apfel im Laufe des Tages essen, mein Erbrochenes aufwischen und die Strafe der „großen“ Mädchen abwarten. Das tat ich.

Ich steckte den Apfel wieder in die Schürzentasche. Dort gammelte er und wuchs sozusagen durch den Stoff durch bis wir wieder nach Hause kamen.

Ich kann mich nicht an gute und entspannte Essen dort erinnern.

Körperhygiene

Wir mussten 1 x in der Woche duschen. Dazu wurden wir alle in einen großen Raum im Keller gebracht. Der Raum war mit Holzpaletten ausgelegt und die Duschköpfe waren an der Raumdecke angebracht. Wir mussten unsere Unterwäsche anlassen und durften uns nicht am Unterleib berühren. Auch durften wir uns gegenseitig nicht anfassen, nicht lachen.
Dann wurde die Raumtüre geschlossen und von außen die Dusche aufgedreht. Das ging über Heiß- bis Kaltwasser. Es gab für uns keinen Schutz im Raum. Ein großes Kind machte uns vor, wie wir uns mit dem Waschlappen wo waschen sollten. Heiß- oder Kaltwasser kam willkürlich und wir konnten nicht aus. Eine Schwester stand vor der Tür und beobachtete die Prozedur durch eine Glasscheibe. Manche Kinder schützten sich, indem sie die Hände vor ihr Gesicht hielten. Manche weinten andere standen einfach total erstarrt da. Ich durfte meiner kleinen Schwester nicht helfen.

Toilettengänge durften nur zu angegebenen, bestimmten Zeiten statt finden. Sollte man das nicht aushalten, folgten Strafen. Eckestehen. Auslachen. Kein Nachmittagskaffee.

Spielzeug

Meiner Meinung nach gab es kein altersgerechtes Spielzeug in meiner Gruppe. Ich klebte Wochenlang nur kleine Tiere aus Plastikfolie auf eine Plastikunterlage. Gesellschaftsspiele durfte ich nicht mitspielen oder nur dann, wenn man mich auch bestrafen konnte. Wie es bei den „Kleinen“ aussah, weiß ich nicht und meine Schwester Eva erinnert sich auch nicht mehr.


Arztbesuche und Medikamente

Einmal wöchentlich kam ein Arzt und auch der Pfarrer. Die Schwestern waren an diesem Tag immer sehr aufgeregt. Pfarrer und Arzt wurden hofiert. Wir mussten uns gut und sauber anziehen und durften nicht sprechen. Der Arzt schlug uns mit einem Hämmerchen aufs Knie und hörte die Lunge ab. Weiter passierte meiner Ansicht nach nichts. An diesem Tag bekamen wir manche von den Jungs die mit uns ankamen wieder zu sehen, durften aber nicht mit ihnen sprechen.

Tabletten bekamen wir in größeren Mengen täglich auf den Tellerrand gelegt. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal eine Spritze bekam.

Feste

Am Nikolaustag bekamen Eva und ich von unseren Eltern einen Nikolaussack zugeschickt. Wir freuten uns so sehr. Jedes Jahr brachte uns der Nikolaus ja etwas. Damals waren es Äpfel, Nüsse, Orangen, Lebkuchen und einen Schokoladennikolaus.

Es wurde am Nikolaustag nach dem Abendessen die Kinder alle einberufen. Vor unseren Augen wurde dann der Inhalt unseres Nikolaussackes an alle verteilt. Eva und ich bekamen nichts. Mit den Worten einer Schwester: Da kann man mal sehen, was Kinder hier bekommen, die sonst alles haben. Wir waren nicht reich.

Wir hatten einmal ein Geburtstagskind, die etwas Süßes von den Eltern bekam, dort wurde es genauso gehandhabt.

Eine Strafe für Kinder, deren Eltern ihnen ein kleines Geschenk andachten.

Briefe

Die mitgebrachten Briefkarten wurden ein- oder zweimal wöchentlich an die Eltern geschrieben. Meine erste Karte enthielt wahrheitsgemäß den Satz, dass es uns Kindern hier nicht gefällt, Heimweh hatten und wir wieder nach Hause möchten. Dieser Brief wurde von den Schwestern abgefangen, gelesen. Daraufhin wurde der Brief vor meinen Augen und allen anderen Kindern zerrissen und ich musste schreiben: „Liebe Mama, lieber Papa, wie geht es Euch? Uns geht es gut. Liebe Grüße, Eure Eva und Michaela.“ Diese Briefe hatte meine Mutter aufgehoben bis sie verstarb.

Mir wurde gedroht, dass meine Eltern uns nicht mehr zurück haben wollten, wenn ich nicht das schreibe, was die Schwestern sagten.

Nachtruhe

Ich schlief in einem kleineren Schlafraum mit hohen Decken mit weiteren 3 Mädchen aus der großen Gruppe, die auch zur Kur dort waren.

Meine Schwester musste in einem sehr großen Schlafsaal schlafen in dem viele kleinere Mädchen schliefen.

Der Schlafraum war durch eine Tür mit unserem Zimmer verbunden. Wir durften die Tür aber nicht öffnen. Wir taten es aber doch. Mehrer „größere“ Mädchen hatten ja ein Geschwisterkind mitgebracht. Es war gut zu sehen, dass unsere Geschwister ja sozusagen neben uns lagen.

Das Licht wurde durch die Schwestern ausgeschaltet und durfte nicht mehr angeschaltet werden. Es durfte Nachts nicht mehr zur Toilette gegangen werden. Es durfte nicht mehr miteinander gesprochen werden.

Oft weinten wir größeren Mädchen leise in unseren Betten.

In den Nächten wurden die Schlafraumtüren willkürlich aufgerissen. Licht angeschaltet und kontrolliert, ob wir großen Mädchen im Bett waren.

Bei den „Kleinen“ wurden die Bettdecken weggerissen, die Kinder aus dem Bett gezogen und die Laken kontrolliert. Manche von den Kleinen hatten eingenässt. Die Laken wurden herausgerissen aus den Betten, die Kinder am Arm gepackt und durch anschreien und Schläge bestraft. Es wurde jedesmal ein Kind ausgesucht, das dann im Keller in einen kleinen, fensterlosen Raum gesperrt. Dort musste es die Nacht verbringen. Ob es am Tage noch dort war, kann ich nicht sagen, da ich tagsüber nicht in die Räumlichkeiten der „Kleinen“ kam.

Das Einsperren der „Kleinen“ haben wir „Größeren“ nur herausgefunden, weil manche von uns Nachts an dieser Tür im Keller barfuß, im Schlafanzug und mit dem Gesicht zur Wand im Dunkeln auf den kalten Fliesen „stehen“ musste. Wenn wir zum Beispiel Nachts noch miteinander sprachen oder auf die Toilette huschten.. Wenn man auf Grund der Kälte zur Toilette musste, musste man einnässen, durfte sich nicht wegbewegen und handelte sich wieder eine Strafe für den nächsten Tag ein.

Wir Größeren haben dann beschlossen, dass wir jede Nacht nach den Kleinen schauen müssten. Die Kinder sollten sagen, ob sie eingenässt hätten. Dann haben wir Großen die Laken im Dunkeln abgezogen und haben unsere eigenen Laken eingelegt. Die eingenässten Laken versuchten wir Großen über unserer Heizung zu trocknen, wenn die „Kontrolle“ vorüber war.

Also hatten wir Nachts viel zu tun. An viel Schlaf war nicht zu denken. Wir mussten leise damit umgehen und ständig auf der Hut vor Kontrolle sein.

Einmal kam die Schwesternkontrolle und wir sprangen alle in unsere Betten. Mein Bein war noch nicht unter der Bettdecke verschwunden. Also musste ich diese Nacht das „stehen“ übernehmen und sah die Tür des „Gefängnisses“ und hörte darin ein Kind. Wir konnten und durften nicht durch die Tür miteinander sprechen. So haben wir nur leise an die Tür geklopft und haben versucht, etwas durchs Schlüsselloch zu sehen. Das war aber bei der Dunkelheit nicht möglich.

Wir Großen wussten also was geschah mit den Kleinen und damit auch mit unserern Geschwistern und wir konnten nicht helfen, da wir so schlimm bestraft wurden.

Strafen durch „größere“ Kinder

Die Schwestern wiesen die Mädchen an, die anscheinend ständig dort lebten, sich Strafen für mich auszudenken und diese an mir zu vollziehen. Dann sollten die Mädchen etwas „gut“ haben.

Meine Strafen waren:

Mir wurden die Augen verbunden, dann wurde ich um mich selbst gedreht, angehalten, dann wurde meine Hand genommen und auf einen stacheligen Kaktus geschlagen. Die Stacheln musste ich mir selber herausmachen. Meine Handfläche war entzündet.

Ich wurde gekniffen indem mir die Haut gedreht wurde, bis ein blauer Fleck entstand.
Es wurde an meinen Haaren gezogen, Haare ausgerissen und auf die Zehen getreten.

Nach meinen Bestrafungen durch die größeren Mädchen wurden diese von den Schwestern offen hervorgehoben und gelobt.

Strafen durch die Schwestern

Prügel, Essenszwang, Sitzstrafen, Stehstrafen, Haftstrafen, Redeverbot, Lachverbot, Weinverbot, Erniedrigung vor allen anderen Kindern und Schwestern und auslachen in der Gruppe mit Fingerzeigen. Drohungen, dass wir nicht mehr nach Hause dürften und unsere Eltern uns nicht mehr haben wollten.

Wieder Zuhause

Wir haben zuhause nichts davon unseren Eltern erzählt. Wir hatten Angst, wieder in das Heim zu müssen.
Ich hatte Angst vor Erwachsenen. Sogar noch, als ich eine junge Frau war und selbst schon Mama war..
Ich hatte Angst vor Strafe. Ich hatte Angst, ich könnte keine Toilette in der Nähe haben.
Ich hatte Angst vor der Schule und den Lehrern. Dort waren ja auch Schwestern.
Ich war schlecht in der Schule. Ich war still. Ab und an nässte ich ein.

Ich hatte einen starken Gerechtigkeitssinn entwickelt und verspürte Zorn, Enttäuschung und Wut wenn Gerechtigkeit nicht statt fand und ich nichts gegen Ungerechtigkeit tun konnte.

Ich kam nicht mit mehr Gewicht zurück, meine Schwester hatte auch nicht abgenommen. Wir waren auch nicht gesünder als vorher. Wir bekamen weiterhin Kinderkrankheiten und hatten ständig mit Husten zu tun.

Wie es meiner Schwester seelisch und erging kann ich nur erahnen, da wir vor lauter Angst nicht darüber sprachen.

Im Laufe der Jugendjahre entwickelten meine Schwester und ich die Krankheit Morbus-Crohn.

Aufarbeitung

Ich wurde 2011 sehr krank und die Erinnerung an diese Verschickungszeit ließ mich nicht los.

Ich schrieb damals auf, an was ich mich an unseren Aufenthalt im Heim erinnerte und erschrak fürchterlich über diese Misshandlungen.

Ich befragte ich meine Mutter, ob sie von den Zuständen in dem Kindergenesungsheim in Oy Mittelberg gewusst hatte oder etwas geahnt hätte. Sie hatte davon keine Ahnung und nichts bemerkt.
Meine Schwester Eva konnte sich nur an ganz wenig dort erinnern. Aber an das „Loch“, wie sie es nannte, wo die Kinder eingesperrt wurden, an das konnte sie sich erinnern.
Sie machte sich mit meiner Mutter auf den Weg nach Oy Mittelberg und fand auch das ehemalige Kindergenesungshaus dort wieder. Sie konnte es nicht betreten, da dort wieder eine Einrichtung für Kinder darin ist. Aber von außen fand sie den Kellerzugang zu dem dunklen Flur, wo das „Loch“ für die Kleinen war, sofort wieder.

Ich schrieb daraufhin einen Brief an das Mutterhaus der Mallersdorfer Schwestern und bekam da auch Antwort. Mir wurde gesagt, dass die Erziehungsmethoden damals halt so waren, dass ihnen das alles sehr leid täte und ich gerne einmal in das Mutterhaus kommen könnte, um mein Gewissen zu erleichtern. Leider ging mein Brief an das Schwesternhaus sowie die Antwort verloren. Ich bin auf der Suche danach, denn es kann eigentlich nicht sein, dass ich das alles weggeworfen hätte.

Ich lebe nicht mehr in Bayern. Ich betreibe zwei Ferienwohnung auf der Insel Rügen. Auch dort gibt es immer noch eine Mutter-Kind-Klinik. Während DDR-Zeiten war es das Kindergenesungsheim Frohe Zukunft. Bereits zwei mal hatte ich Gäste (Männer) in meinem Haus, die mit Ihrer Mutter kamen um den Ort ihrer Misshandlung zu besuchen und ihren völlig ahnungslosen Müttern alles zu erzählen und das Heim wenigstens von außen zu zeigen.

Durch einen Besuch bei unserem Trauzeugen habe ich erfahren, dass auch er in so ein Genesungsheim verschickt wurde und Erinnerungen durch meine Erzählung bei ihm wieder aufkommen. Er wird seine Mutter fragen, wo er hin verschickt wurde.

Ich bin im Internet darauf gestoßen, dass ein NS-Arzt Dr. Hensel bis ins Jahr 1965 in der Kinderkurklinik Oy-Mittelberg als Arzt tätig war. Dieser Arzt hat in Kaufbeuren in einer Kinderkurklinik während der NS-Zeit Versuche an kranken Kindern und behinderten Kindern zur TBC-Erkrankung vorgenommen und wechselte dann nach Oy Mittelberg. Von diesen „minderwertigen Versuchskindern“ verstarben mehrere. Es gab auch einen Prozess in dem er freigesprochen wurde und seine Arbeit als Arzt fortsetzen durfte.

Zitat Wikipedia: Georg Hensel, Pulmologe, 1939 Oberarzt Kinderheilstätte Mittelberg, führte dort tödliche TBC-Versuche an behinderten Kindern durch. 1946 Freispruch, 1960 neues Verfahren eingestellt.[18]

Für mich hat das alles schon Zusammenhänge und Methode.

Jetzt habe ich diese wunderbare Seite gefunden. Ich bin zutiefst entsetzt über das Leid so vieler Kinder, die jetzt alle schon erwachsen sind.

Alle erworbenen Ängste, alle erworbenen Erkrankungen, alle Misshandlungen an den Verschickungskindern müssen sofort offengelegt werden.


28.10.2022, Michaela Seliga


Ich war ein Verschickungskind im Kindergenesungsheim in Oy Mittelberg 1964

Der Beginn

Ich, Michaela und meine Schwester Eva kamen im Herbst 1964 für ca. 8 Wochen in das Kindergenesungsheim Oy Mittelberg im Allgäu. Bei meiner Schwester Eva gibt es nur noch wenig Erinnerung an unseren Aufenthalt; ich erinnere mich sehr gut.

Wir kamen aus München-Perlach. Meine Schwester Eva war 5 Jahre und ich 7,5 Jahre. Ich war ein dünnes Kind und, wie die Lehrer sagten, schlecht in der Schule und langweilig. Meine Schwester war lebhaft und eher „fester“ aber nicht dick. Wir waren gute Esser. Meine Schwester und ich hatten die letzten 1,5 Jahr mit Keuchhusten und Masern zu tun, so dass ein regelmäßiger Schulbesuch oft nicht statt fand.

Am 27. September 1964 kam unsere kleine Schwester Erika zur Welt. Es ging ihr sehr schlecht und meine Eltern mussten sie in München in der Klinik lassen und konnten das Baby erst nach ca. 3 Wochen nach Hause holen. Das müsse dann so zwischen 15. und 20. Oktober 1964 gewesen sein. Meine Schwester Eva und ich bekamen das Baby nicht zu sehen, da wir kurz vor der Klinikentlassung des Babys nach Oy geschickt wurden.

Um unsere Mutter mit dem neuen Baby zu entlasten, gaben die Eltern dem Hausarzt ihr Einverständnis zu unserer „Kur“. Eingewiesen hat uns unser Hausarzt Dr. Kampa in Perlach über das Müttergenesungswerk. Das hat uns unsere Mutter später erzählt.

Die Vorbereitungen

Ein Besuch im Heim durch unsere Eltern war verboten.
Es wurde uns Briefpost zum beschreiben von den Eltern eingepackt. Schon fertig mit der Heimatadresse und einer Briefmarke versehen. Unsere Kleider und Schürzen, die wir tragen sollten, waren alle mit Wäscheetiketten und unseren Namen benäht. Spielzeug oder Kuscheltier durfte nicht mitreisen.

Reise

Die Eltern brachten uns zum Hauptbahnhof München. Von dort ging der Zug mit vielen Kindern ins Allgäu. Mit Zwischenstationen in mehreren Kurorten, wo ebenfalls Kinder ausstiegen, kamen wir in Oy an. Dort wurden wir abgeholt. Wie, weiß ich nicht mehr.

Ankunft

In Oy Mittelberg gab es eine große Kinderkurklinik und ein oder mehrere angeschlossene Kindergenesungsheime.

Schon als ich unser Genesungsheim von außen sah und die vielen Kinder wurde mir Angst und ich hatte Heimweh.

Mädchen und Buben wurden erst mal vor dem Heim auseinandersortiert und wir durften nicht reden. Die Jungs, die mit uns gereist waren, wurden abgezweigt und von einem Lehrer weggebracht. Ich vermute, in ein weiteres Gebäude. Wir haben die Buben dann nur noch vereinzelt bei den ärztlichen Untersuchungen gesehen, bei denen wir auch nicht mehr miteinander sprechen durften.

Personal

Das Heim wurde von katholischen Nonnen geführt. Nachträglich konnte ich recherchieren: Die Schwestern kamen aus dem Kloster Mallersdorf – Mutterhaus der Armen Franziskanerinnen.

Zusammenhängend ist dazu zu sagen: Ich und meine Schwester Eva wurden in Mallersdorf geboren und lebten nun in München Perlach. Meine Lehrer dort und die Frauen im Kindergarten meiner Schwester waren ebenfalls Klosterschwestern. Mir flößten diese Schwestern stets Angst und Entsetzen ein. Meine Schwester ging allerdings gerne in diesen Kindergarten.

Aufteilung

Im Flur im Innenbereich angekommen, wurden meine Schwester Eva und ich „aufgeteilt“. Eva kam in eine andere Gruppe als ich und sollte zu den „Kleinen“. Ich kam in die Gruppe der „Großen“. Lange wurde von den Schwestern diskutiert, ob ich altersgemäß überhaupt in diese Gruppe passen könnte. Man hielt mich für zu jung, entschied sich dann aber doch für die „große“ Gruppe.

Wir mussten uns also sofort trennen. Unser Gepäck wurde von den Schwestern in unsere Schlafräume gebracht. Meine Schwester Eva weinte.

Was später mit meiner Schwester in ihrer Gruppe passierte, konnte ich oft nur durch lautes Weinen erahnen, da wir ständig durch Türen getrennt waren.

Im Zimmer der „Großen“ habe ich bemerkt, dass es anscheinend im Heim mehrere größere Mädchen gab, die ständig dort lebten.

Tagesablauf

Frühes aufstehen, ein paar mal wöchentlich frühmorgens ein langer Marsch in eine Bergkirche in dem dann ein Frühgottesdienst abgehalten wurde. Waschen. Frühstück. Briefe schreiben. Spielen. Mittagessen. Mittagsruhe. Spielen. Abendessen. Waschen. Schlafengehen. Die „größeren“ Mädchen, die ständig dort wohnten, gingen vormittags zur Schule. Ich kann mich an keine Ausflüge erinnern. Einmal waren wir nachmittags zum Schlitten fahren.

Das Essen

Das Essen fand an langen Tischen statt. Für jede Gruppe in deren Aufenthaltsraum. Jedes Kind hatte einen festen Platz mit einer Schublade unter der Tischplatte. Dort hinein kamen die vorgefertigten, mitgebrachten Briefkarten.

Es gab sehr fettes Fleisch, das ich als Kind nicht essen konnte. Mir graute einfach davor und ich würgte es ständig heraus. Ich musste es aber aufessen. Ich musste solange vor dem Teller sitzen, bis ich aufgegessen hatte. Es ging noch weiteren Kindern so.

Ich konnte das nicht essen und habe erbrochen. Um diese Tortur nicht weiter mitmachen zu müssen, habe ich das restliche Essen mit dem Fett in die Schublade unter mir geschüttet. Um das Briefpapier zu schützen habe ich mit Brot eine Barriere gebaut.

Als der Kuraufenthalt endete, war die Schublade voll, das Briefpapier leer und alles schimmelig. Aber dieses Essen brauchte ich wenigstens nicht mehr essen.

Meine Schwester Eva hatte solchen Hunger, dass sie einmal den Essenslift im Vorraum abwartete und anfing, die Suppen für das Mittagessen schon aus dem Lift zu löffeln. Sie war 5. Dann hörte ich nur noch Geschrei und es wurde nach mir gerufen. Ich sollte kommen und mir das Balg ansehen, das so sträflich gehandelt hatte. Meine Schwester wurde vor allen anderen Kindern verprügelt bis sie sich einnässte. Ich musste mit meiner weinenden Schwester dann zur Strafe mit ihr in die Schlafräume und sie umziehen. Wir durften erst zum Abendessen wieder in die Aufenthaltsräume. Wir mussten uns gegenseitig trösten. Niemand durfte dort an diesem Abend mehr mit uns sprechen.

Wir bekamen zu den jeweiligen Essen mehrere Tabletten auf den Tellerrand gelegt. Was das für Tabletten waren, kann ich natürlich nicht mehr sagen.

Manchmal kullerten die Tabletten in die Suppe und haben das Essen verbittert. Wir mussten trotzdem Essen. Es ist mir ein Mädchen in Erinnerung, das nicht die Suppe essen wollte und der die Suppe von einer Schwester regelrecht gewaltsam mit dem Löffel verabreicht wurde.

Einmal gab es einen Apfel zur Nachspeise. Mein Apfel war wurmig und auf einer Seite faulig. Aber ich musste abbeißen. Als die Schwester nicht mehr guckte, steckte ich den Apfel in meine Schürzentasche. Beim nächsten Toilettengang dachte ich mir aus, könnte ich den Apfel in der Toilette entsorgen. Das tat ich auch. Ich wusste nicht, dass Äpfel im Wasser schwimmen. Eine Klosterschwester riss die Toilettentür auf, guckte ins Klo, sah den Apfel. Ich musste ihn herausholen und sollte den Apfel vor allen Kindern essen. Ich versuchte es und musste wieder erbrechen. Die Strafe war, ich sollte den Apfel im Laufe des Tages essen, mein Erbrochenes aufwischen und die Strafe der „großen“ Mädchen abwarten. Das tat ich.

Ich steckte den Apfel wieder in die Schürzentasche. Dort gammelte er und wuchs sozusagen durch den Stoff durch bis wir wieder nach Hause kamen.

Ich kann mich nicht an gute und entspannte Essen dort erinnern.

Körperhygiene

Wir mussten 1 x in der Woche duschen. Dazu wurden wir alle in einen großen Raum im Keller gebracht. Der Raum war mit Holzpaletten ausgelegt und die Duschköpfe waren an der Raumdecke angebracht. Wir mussten unsere Unterwäsche anlassen und durften uns nicht am Unterleib berühren. Auch durften wir uns gegenseitig nicht anfassen, nicht lachen.
Dann wurde die Raumtüre geschlossen und von außen die Dusche aufgedreht. Das ging über Heiß- bis Kaltwasser. Es gab für uns keinen Schutz im Raum. Ein großes Kind machte uns vor, wie wir uns mit dem Waschlappen wo waschen sollten. Heiß- oder Kaltwasser kam willkürlich und wir konnten nicht aus. Eine Schwester stand vor der Tür und beobachtete die Prozedur durch eine Glasscheibe. Manche Kinder schützten sich, indem sie die Hände vor ihr Gesicht hielten. Manche weinten andere standen einfach total erstarrt da. Ich durfte meiner kleinen Schwester nicht helfen.

Toilettengänge durften nur zu angegebenen, bestimmten Zeiten statt finden. Sollte man das nicht aushalten, folgten Strafen. Eckestehen. Auslachen. Kein Nachmittagskaffee.

Spielzeug

Meiner Meinung nach gab es kein altersgerechtes Spielzeug in meiner Gruppe. Ich klebte Wochenlang nur kleine Tiere aus Plastikfolie auf eine Plastikunterlage. Gesellschaftsspiele durfte ich nicht mitspielen oder nur dann, wenn man mich auch bestrafen konnte. Wie es bei den „Kleinen“ aussah, weiß ich nicht und meine Schwester Eva erinnert sich auch nicht mehr.


Arztbesuche und Medikamente

Einmal wöchentlich kam ein Arzt und auch der Pfarrer. Die Schwestern waren an diesem Tag immer sehr aufgeregt. Pfarrer und Arzt wurden hofiert. Wir mussten uns gut und sauber anziehen und durften nicht sprechen. Der Arzt schlug uns mit einem Hämmerchen aufs Knie und hörte die Lunge ab. Weiter passierte meiner Ansicht nach nichts. An diesem Tag bekamen wir manche von den Jungs die mit uns ankamen wieder zu sehen, durften aber nicht mit ihnen sprechen.

Tabletten bekamen wir in größeren Mengen täglich auf den Tellerrand gelegt. Ich kann mich erinnern, dass ich einmal eine Spritze bekam.

Feste

Am Nikolaustag bekamen Eva und ich von unseren Eltern einen Nikolaussack zugeschickt. Wir freuten uns so sehr. Jedes Jahr brachte uns der Nikolaus ja etwas. Damals waren es Äpfel, Nüsse, Orangen, Lebkuchen und einen Schokoladennikolaus.

Es wurde am Nikolaustag nach dem Abendessen die Kinder alle einberufen. Vor unseren Augen wurde dann der Inhalt unseres Nikolaussackes an alle verteilt. Eva und ich bekamen nichts. Mit den Worten einer Schwester: Da kann man mal sehen, was Kinder hier bekommen, die sonst alles haben. Wir waren nicht reich.

Wir hatten einmal ein Geburtstagskind, die etwas Süßes von den Eltern bekam, dort wurde es genauso gehandhabt.

Eine Strafe für Kinder, deren Eltern ihnen ein kleines Geschenk andachten.

Briefe

Die mitgebrachten Briefkarten wurden ein- oder zweimal wöchentlich an die Eltern geschrieben. Meine erste Karte enthielt wahrheitsgemäß den Satz, dass es uns Kindern hier nicht gefällt, Heimweh hatten und wir wieder nach Hause möchten. Dieser Brief wurde von den Schwestern abgefangen, gelesen. Daraufhin wurde der Brief vor meinen Augen und allen anderen Kindern zerrissen und ich musste schreiben: „Liebe Mama, lieber Papa, wie geht es Euch? Uns geht es gut. Liebe Grüße, Eure Eva und Michaela.“ Diese Briefe hatte meine Mutter aufgehoben bis sie verstarb.

Mir wurde gedroht, dass meine Eltern uns nicht mehr zurück haben wollten, wenn ich nicht das schreibe, was die Schwestern sagten.

Nachtruhe

Ich schlief in einem kleineren Schlafraum mit hohen Decken mit weiteren 3 Mädchen aus der großen Gruppe, die auch zur Kur dort waren.

Meine Schwester musste in einem sehr großen Schlafsaal schlafen in dem viele kleinere Mädchen schliefen.

Der Schlafraum war durch eine Tür mit unserem Zimmer verbunden. Wir durften die Tür aber nicht öffnen. Wir taten es aber doch. Mehrer „größere“ Mädchen hatten ja ein Geschwisterkind mitgebracht. Es war gut zu sehen, dass unsere Geschwister ja sozusagen neben uns lagen.

Das Licht wurde durch die Schwestern ausgeschaltet und durfte nicht mehr angeschaltet werden. Es durfte Nachts nicht mehr zur Toilette gegangen werden. Es durfte nicht mehr miteinander gesprochen werden.

Oft weinten wir größeren Mädchen leise in unseren Betten.

In den Nächten wurden die Schlafraumtüren willkürlich aufgerissen. Licht angeschaltet und kontrolliert, ob wir großen Mädchen im Bett waren.

Bei den „Kleinen“ wurden die Bettdecken weggerissen, die Kinder aus dem Bett gezogen und die Laken kontrolliert. Manche von den Kleinen hatten eingenässt. Die Laken wurden herausgerissen aus den Betten, die Kinder am Arm gepackt und durch anschreien und Schläge bestraft. Es wurde jedesmal ein Kind ausgesucht, das dann im Keller in einen kleinen, fensterlosen Raum gesperrt. Dort musste es die Nacht verbringen. Ob es am Tage noch dort war, kann ich nicht sagen, da ich tagsüber nicht in die Räumlichkeiten der „Kleinen“ kam.

Das Einsperren der „Kleinen“ haben wir „Größeren“ nur herausgefunden, weil manche von uns Nachts an dieser Tür im Keller barfuß, im Schlafanzug und mit dem Gesicht zur Wand im Dunkeln auf den kalten Fliesen „stehen“ musste. Wenn wir zum Beispiel Nachts noch miteinander sprachen oder auf die Toilette huschten.. Wenn man auf Grund der Kälte zur Toilette musste, musste man einnässen, durfte sich nicht wegbewegen und handelte sich wieder eine Strafe für den nächsten Tag ein.

Wir Größeren haben dann beschlossen, dass wir jede Nacht nach den Kleinen schauen müssten. Die Kinder sollten sagen, ob sie eingenässt hätten. Dann haben wir Großen die Laken im Dunkeln abgezogen und haben unsere eigenen Laken eingelegt. Die eingenässten Laken versuchten wir Großen über unserer Heizung zu trocknen, wenn die „Kontrolle“ vorüber war.

Also hatten wir Nachts viel zu tun. An viel Schlaf war nicht zu denken. Wir mussten leise damit umgehen und ständig auf der Hut vor Kontrolle sein.

Einmal kam die Schwesternkontrolle und wir sprangen alle in unsere Betten. Mein Bein war noch nicht unter der Bettdecke verschwunden. Also musste ich diese Nacht das „stehen“ übernehmen und sah die Tür des „Gefängnisses“ und hörte darin ein Kind. Wir konnten und durften nicht durch die Tür miteinander sprechen. So haben wir nur leise an die Tür geklopft und haben versucht, etwas durchs Schlüsselloch zu sehen. Das war aber bei der Dunkelheit nicht möglich.

Wir Großen wussten also was geschah mit den Kleinen und damit auch mit unserern Geschwistern und wir konnten nicht helfen, da wir so schlimm bestraft wurden.

Strafen durch „größere“ Kinder

Die Schwestern wiesen die Mädchen an, die anscheinend ständig dort lebten, sich Strafen für mich auszudenken und diese an mir zu vollziehen. Dann sollten die Mädchen etwas „gut“ haben.

Meine Strafen waren:

Mir wurden die Augen verbunden, dann wurde ich um mich selbst gedreht, angehalten, dann wurde meine Hand genommen und auf einen stacheligen Kaktus geschlagen. Die Stacheln musste ich mir selber herausmachen. Meine Handfläche war entzündet.

Ich wurde gekniffen indem mir die Haut gedreht wurde, bis ein blauer Fleck entstand.
Es wurde an meinen Haaren gezogen, Haare ausgerissen und auf die Zehen getreten.

Nach meinen Bestrafungen durch die größeren Mädchen wurden diese von den Schwestern offen hervorgehoben und gelobt.

Strafen durch die Schwestern

Prügel, Essenszwang, Sitzstrafen, Stehstrafen, Haftstrafen, Redeverbot, Lachverbot, Weinverbot, Erniedrigung vor allen anderen Kindern und Schwestern und auslachen in der Gruppe mit Fingerzeigen. Drohungen, dass wir nicht mehr nach Hause dürften und unsere Eltern uns nicht mehr haben wollten.

Wieder Zuhause

Wir haben zuhause nichts davon unseren Eltern erzählt. Wir hatten Angst, wieder in das Heim zu müssen.
Ich hatte Angst vor Erwachsenen. Sogar noch, als ich eine junge Frau war und selbst schon Mama war..
Ich hatte Angst vor Strafe. Ich hatte Angst, ich könnte keine Toilette in der Nähe haben.
Ich hatte Angst vor der Schule und den Lehrern. Dort waren ja auch Schwestern.
Ich war schlecht in der Schule. Ich war still. Ab und an nässte ich ein.

Ich hatte einen starken Gerechtigkeitssinn entwickelt und verspürte Zorn, Enttäuschung und Wut wenn Gerechtigkeit nicht statt fand und ich nichts gegen Ungerechtigkeit tun konnte.

Ich kam nicht mit mehr Gewicht zurück, meine Schwester hatte auch nicht abgenommen. Wir waren auch nicht gesünder als vorher. Wir bekamen weiterhin Kinderkrankheiten und hatten ständig mit Husten zu tun.

Wie es meiner Schwester seelisch und erging kann ich nur erahnen, da wir vor lauter Angst nicht darüber sprachen.

Im Laufe der Jugendjahre entwickelten meine Schwester und ich die Krankheit Morbus-Crohn.

Aufarbeitung

Ich wurde 2011 sehr krank und die Erinnerung an diese Verschickungszeit ließ mich nicht los.

Ich schrieb damals auf, an was ich mich an unseren Aufenthalt im Heim erinnerte und erschrak fürchterlich über diese Misshandlungen.

Ich befragte ich meine Mutter, ob sie von den Zuständen in dem Kindergenesungsheim in Oy Mittelberg gewusst hatte oder etwas geahnt hätte. Sie hatte davon keine Ahnung und nichts bemerkt.
Meine Schwester Eva konnte sich nur an ganz wenig dort erinnern. Aber an das „Loch“, wie sie es nannte, wo die Kinder eingesperrt wurden, an das konnte sie sich erinnern.
Sie machte sich mit meiner Mutter auf den Weg nach Oy Mittelberg und fand auch das ehemalige Kindergenesungshaus dort wieder. Sie konnte es nicht betreten, da dort wieder eine Einrichtung für Kinder darin ist. Aber von außen fand sie den Kellerzugang zu dem dunklen Flur, wo das „Loch“ für die Kleinen war, sofort wieder.

Ich schrieb daraufhin einen Brief an das Mutterhaus der Mallersdorfer Schwestern und bekam da auch Antwort. Mir wurde gesagt, dass die Erziehungsmethoden damals halt so waren, dass ihnen das alles sehr leid täte und ich gerne einmal in das Mutterhaus kommen könnte, um mein Gewissen zu erleichtern. Leider ging mein Brief an das Schwesternhaus sowie die Antwort verloren. Ich bin auf der Suche danach, denn es kann eigentlich nicht sein, dass ich das alles weggeworfen hätte.

Ich lebe nicht mehr in Bayern. Ich betreibe zwei Ferienwohnung auf der Insel Rügen. Auch dort gibt es immer noch eine Mutter-Kind-Klinik. Während DDR-Zeiten war es das Kindergenesungsheim Frohe Zukunft. Bereits zwei mal hatte ich Gäste (Männer) in meinem Haus, die mit Ihrer Mutter kamen um den Ort ihrer Misshandlung zu besuchen und ihren völlig ahnungslosen Müttern alles zu erzählen und das Heim wenigstens von außen zu zeigen.

Durch einen Besuch bei unserem Trauzeugen habe ich erfahren, dass auch er in so ein Genesungsheim verschickt wurde und Erinnerungen durch meine Erzählung bei ihm wieder aufkommen. Er wird seine Mutter fragen, wo er hin verschickt wurde.

Ich bin im Internet darauf gestoßen, dass ein NS-Arzt Dr. Hensel bis ins Jahr 1965 in der Kinderkurklinik Oy-Mittelberg als Arzt tätig war. Dieser Arzt hat in Kaufbeuren in einer Kinderkurklinik während der NS-Zeit Versuche an kranken Kindern und behinderten Kindern zur TBC-Erkrankung vorgenommen und wechselte dann nach Oy Mittelberg. Von diesen „minderwertigen Versuchskindern“ verstarben mehrere. Es gab auch einen Prozess in dem er freigesprochen wurde und seine Arbeit als Arzt fortsetzen durfte.

Zitat Wikipedia: Georg Hensel, Pulmologe, 1939 Oberarzt Kinderheilstätte Mittelberg, führte dort tödliche TBC-Versuche an behinderten Kindern durch. 1946 Freispruch, 1960 neues Verfahren eingestellt.[18]

Für mich hat das alles schon Zusammenhänge und Methode.

Jetzt habe ich diese wunderbare Seite gefunden. Ich bin zutiefst entsetzt über das Leid so vieler Kinder, die jetzt alle schon erwachsen sind.

Alle erworbenen Ängste, alle erworbenen Erkrankungen, alle Misshandlungen an den Verschickungskindern müssen sofort offengelegt werden.


28.10.2022, Michaela Seliga

Ursula Wünsch - 2022-10-22
Verschickungsheim: Wiek auf Rügen, Erich - Steinfurth in Zinnowitz,Hollandheim in Waschleithe
Zeitraum-Jahr: 1956 1960
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Im Kurier in Berlin las ich den Artikel über Heimweh und Schikane in Kinderkurheimen in der DDR. Mir kommt das Kotzen beim Lesen. Ich war dreimal verschickt und ich habe total andere Erfahrungen gemacht. Mir geht die verdammte Hetze gegen alles, was aus der DDR kommt, so auf den Geist und ich finde die Profilierungssucht mancher
" Wissenschaftler " unerträglich. Ich stelle mich gern einem seriösen Gespräch, falls es einen interessiert. Ich komme aus einem einfachen Haushalt, bin die älteste von 8 Kindern. Habe bis zum 68. Lebensjahr als Diplom Formgestalter gearbeitet - immer freischafend in der DDR und fürs westliche Ausland. Ich werde morgen 76 und ich lasse mir von niemanden ein X vors U machen.
Mit freundlichen Grüßen
Ursula Wünsch

Manja - 2022-10-13
Verschickungsheim: Kröchlendorff
Zeitraum-Jahr: 1988
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich kann mich erinnern, mit einem Bus gereist zu sein.
Ich war das erste Mal weg von zu Hause.
Heimweh war an der Tagesordnung.
Ich würde nach Kröchlendorff verschickt.
Epilepsie und viel zu dünn.... Noch vor Schulbeginn.
Schreiben und etwas lesen konnte ich dennoch damals schon. Ich war etwa 7.
Ich erinnere mich an Schlafsäle, Altersgemischt aber Geschlechtergetrennt.
Morgens musste man sich, egal wie alt, im Schlüpfen auf dem Flur aufreihen und sich gegenseitig mit einer Bürste den Rücken abbürsten. Den älteren Mädchen würden die Arme vor den Brüsten weggeschlagen, die sie dort aus Scham hielten.
Wir mussten vor dem Frühstück Wechselduschen. Oder wurden einfach mit kaltem Wasser abgespritzt weil wir so schwach seien. Wassertreten war auch immer schön. Andere Kinder würden aufgefordert den kleinen Schwächen dabei die Beine zu stellen.
Essen war eine Qual.
Ich saß oft stundenlang im Speisesaal und mir wurde gedroht das ich nie wieder nach Hause dürfte, sollte ich nicht essen.
Es haben sich reihenweise Kinder übergeben.
Weiteressen musste man dennoch.
Einmal saß ich vom Frühstück an, bis weit nach dem Abendessen. Allein das die sogenannte Erzieherin zu Toilette musste rettete mich, das die Frau aus der Küche Mitleid mit mir hatte und es wegwarf. Ich musste natürlich behaupten ich hätte es gegessen.
Niemand durfte Nachts zur Toilette, machte man es dennoch und Würde erwischt wurde man bestraft, in den Wäschekeller gebracht.
Hat man ins Bett gemacht, weil man es nicht mehr ausgehalten hat wurde man daran festgebunden und lag dort den halben Tag.
Wir mussten in unsere Kleidung Wäschetiketten einnägen, waren diese ab und man vermisste etwas wurde man auch den ganzen Tag in den Wäschekeller gesperrt und musste sämtliche Wäsche sortieren.
Ich erinnere mich an ein Mädchen aus Halle, sie war bestimmt 8-9 Jahre älter als ich. Sie erzählte viel. Wie schön ihr Leben sei, ihre Eltern seien reich und sie kaufen nur im Intershop.
Sie lachte immer, egal was sie ihr antaten.
Es wurden mit uns Freizeitaktivitäten unternommen. U. A. Ein jagdspiel...
Kinder in besseren körperlichen Verfassungen, die eher wegen angeblicher sozialer Auffälligkeiten dort waren, wurden als Jäger eingeteilt. Der Rest als Flüchtende. Ja so wurde es genannt.
Sie sollten uns im Wald jagen, finden und rausbringen, wo wir uns hinknien mussten mit den Armen hinterm Rücken und als "gefasst" galten. Sie sollten schreien, laut rufen, mit Ästen klopfen um uns aufzuscheuchen, das war ihr Auftrag.
Eine Erzieherin war nett, sie erzählte uns auf einem Spaziergang einmal das sie dort nicht arbeiten möchte, aber müsse, sie lebte im Nachbarort.
Post nach Hause durfte auch geschrieben werden. Ich konnte ein paar Worte schreiben und habe die anderen gefragt wie man das schreibt.... "bitte holt mich ab, ich möchte nach Hause".
Die Karte wurde gelesen, or allen anderen zerrissen u D ich musste eine neue schreiben. Der Text wurde mir aufgeschrieben und ich musste es abschreiben. Wie schön es sei.... Ich habe geheult, die Tränen waren auf der Karte... Aber so durfte sie abgesendet werden.
Ein Junge wurde zwischendurch abgeholt. Wir waren alle neidisch.
Ich war u. A. Dort um vor der Schule meine Epilepsie Medikamente zu reduzieren. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals dort Tabletten erhalten zu haben. Deshalb nehme ich an, verbrachte ich auch einen Tag auf der Krankenstation. Dort war es wie Erholung.
Heute stelle ich mir immer wieder die Frage wieso wir dort hin mussten.
In der DDR sicher nochmal aus anderen Gründen, politischen Gründen.
Ich bin fest davon überzeugt, daß wir gebrochen werden sollten um erst gar nicht Republikuntreu zu werden.
Ich habe viele Theorien warum das so sein könnte.
Ich habe lange verdrängt was ich dort erlebt oder gesehen habe. Erst vor ein paar Tagen lernte ich den Begriff "Verschickung" kennen.
Und plötzlich sind die Erinnerungen wieder präsent.

Christine B. - 2022-09-10
Verschickungsheim: Heiligenstadt
Zeitraum-Jahr: 1987
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo,
Auch ich hatte eine heilbehandlung bzw Kur im März und Dezember 1987.
Meine Mutter verstarb.
Alles an was ich mich erinner ist ein großer Waschraum und das ich mir mein Zimmer teilte mit einem Mädchen. Sie war traurig. Sie hatte ein Kuscheltier bzw eine Mond Spieluhr.
Ich weiß nicht warum ich dort war. Evtl weil meine Mutter verstarb in dem Jahr.
Leider fehlen mir weitere Erinnerungen.
Habe aber alles im Impf- bzw. Sozialausweis (DDR) als Eintrag belegt.

Lutz - 2022-08-01
Verschickungsheim: Trautenstein / Zinnowitz / Strausberg
Zeitraum-Jahr: 60 er Jahre
Kontakt: Kontakt: Über die Initiative

Ich bin Jahrgang 58 und war 3 mal in den 60 er Jahren in der DDR auf Kur. Trautenstein, Zinnowitz und Strausberg. Leider vermengen sich Erinnerungen. Es waren die traurigsten Wochen jeweils in meiner Kindheit, Ich bin allein bei meiner Mutter aufgewachsen. In der Diagnose des Arztes stand zu mir: ..."magerer Knabe...". So war die Begründung für eine Kur gegeben. Alle Heime unterschieden sich nicht wesentlich. Ich kann mich an militärische Disziplinierung, unheimliche menschliche Kälte und Erniedrigungen erinnen. Tätliche oder sexuelle Übergriffe gab es nicht. Es gab wenig zu essen. Mich hätte mein Endgewicht interessiert. Gleichzeitig mussten in gemeinschaftlichen, riesigen Speisesräumen kollektiv Tischsprüche aufgesagt werden. Norden, Süden, Osten; Westen doch in Strausberg schmeck's am besten. Ich habe vor mich hin immer ..."zu Hause schmeckt's am besten" gemurmelt. Im Kurheim in Zinnowitz ist beim Spielen ein Puppenkinderwagen zerbrochen. Dieser war nicht für die darin überschwenglich transportierten Kinder ausgelegt. Als der Schaden aufflog, hat ein Erzieher vom Typ Glatzeder ein riesen Fass aufgemacht und die ganze Gruppe tyrannisiert. Uns schwante Polizei, Gefängnis, riesen Schadenersatz vor. Ich hatte Ängste ausgestanden ohne Ende. Einziger Trost waren Mosikcomics mit den Digedags, welche ich Nachts unter der Decke mit der Taschenlampe las. An das Mosaikcover zu der Zeit und Umgebung kann ich mich noch heute erinnern. Gelitten danach habe ich eigentlich nie. Ich konnte die Zeit schnell vergessen. Auch wenn es schwer war und vielleicht selbst die sogenannte "schwarze" Pädagogik vielleicht überbewertet wird, sind vielleicht auch derartige Erinnerungen und Erfahrungen wichtig. Letzlich waren diese auch von Solidarität Gleichaltriger und Zuversicht geprägt, dass die Zeit irgendwann zu Ende geht. Meine Mutter (Jahrgang 30 / in der NS Zeit BDM Führerin) hat sich wirklich nie danach für die Zeit in den Heimen interessiert. Sicher war sie mal froh auch ein wenig Zeit für sich damit gehabt zu haben. Ich denke es muss auch alles immer im Zeitkontext gesehen werden. Die heutige, ich nenne es mal rein "weiße Pädagogik" ist auch nicht unbedingt das Wahre. Disziplin, Wertschätzung von elementaren Dingen kommt heutzutage offenkundig bei Heranwachsenden in einer Blase sozialer Medien nicht vor. Ich sehe (in der Masse )eine entfremdete, allgemeinindividualisierte Generationsmasse junger Menschen vor mir.

André - 2021-12-09
Verschickungsheim: Kurhaus Binz
Zeitraum-Jahr: 1994
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich habe mich bisher nie damit beschäftigt, bis meine Mutter mich darauf aufmerksam gemacht hat, bzw erzählt hat wie ich mich nach der "Verschickung" verhalten habe. Zu dem Zeitpunkt der Kur war ich 6 Jahre alt. Wo genau die Kur gewesen (wie die Kur Einrichtung hieß, ist nicht mehr bekannt)war sind wir uns leider nicht mehr bekannt. Es handelte sich um eine ehemalige DDR Kur Einrichtung und die alten "Hasen" waren noch aktiv dort. Aus der Zeit selber kann ich mich nur wage erinnern und schreibe deswegen nur kurz und knapp wie ich mich laut meiner Mutter und ihrem Freund nach der kur Verhalten habe. Man muss vorher erwähnen das ich vor der Kur ein ruhiges Kind war. Habe selten gerne Geredet. Nur damit nicht bei den nächsten Zeilen das Gefühl aufkommt das meine Mutter mehr hätte machen können oder so.

An was ich mich selbst erinnern kann ist das wir als Strafe wenn wir nicht artig waren uns nackt an die Wand stellen mussten und mit kaltem Wasser abgespritzt worden bis man angefangen hat zu frieren oder der Rücken anfing zu bluten aufgrund des Waserrstrahls. Zudem wurde jeglicher Versuch sich anders als gewünscht zu Verhalten, sofort mit körperlicher Strafe unterbunden. Ich kann mich auch daran erinnern das es sowas wie steh Strafen gab, wenn man nachts Geredet hat musste man wenn man erwischt worden war den Rest der Nacht neben seinem Bett stehen.

Meine Mutter hat mir unter Tränen, nachdem sie durch eine Dokumentation erfahren hat was den Kindern auf solchen kuren wieder fahren ist, erzählt das ich seit ich dort war keine emotionale Bindung zugelassen habe. Sachen die mir vorher Spaß gemacht haben wurden unwichtig und direkt nach dem Aufenthalt habe ich mich wohl wie ein Zinn Soldat benommen, Kleidung abends akkurat hingelegt, genau wie die Bettwäsche. Dazu kam eine panische Angst vor Wasser, Baden war laut meiner Mutter okay, aber soweit das Wasser aus der Dusche kam oder es geregnet hatte war ich sehr panisch. Dies zu überwinden hat wohl fast 3 Jahre gedauert. Meine ersten worte zu meiner Mutter waren "Sie haben mich nicht gebrochen".

Im Endeffekt haben sie es wohl doch. Ich bin wegen ads in Therapie und dabei kam die Theorie auf, nach dem ich ihr das mit der verschickung erzählt habe, das die Probleme der emotionalen Bindung, Vertrauen und auch andere emotionale Ausdrücke wie Freude, Wut usw für mich nicht möglich sind weil ich wohl aufgrund der Erfahrung dort einfach aufgehört habe emotionales zu zulassen. Mit 33, aber auch schon früher, merke ich es an meinem Umfeld das dieses irgendwie anders tickt.

Nachdem ich hier einige Berichte gelesen habe, bin ich froh das dies anscheinend endlich aufgehört hat kleine Kinder alleine auf die Kur zu schicken.

Danke für eure tollen Beiträge, den diese habe mir geholfen dies hier zu schreiben.

Doreen - 2021-11-27
Zeitraum-Jahr: Februar 1983
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo, ich bin leider unsicher über den genauen Ort des Kurheimes. Es war Bernburg / Eisleben / Köthen. An diese 3 Ortsnamen kann ich mich erinnern. Ich habe in Freital gewohnt und war dort im Kurheim 4 Wochen lang bis knapp vor meinem 8. Lebensjahr. Die Kinderärztin riet meiner Mutter zu dieser Kur, da ich eine schlechte Esserin war und mich überwiegend von Milchgerichten ernährt hatte, aber ich habe Joghurt in der DDR verabscheut. Ich ging zur Kur nur mit meiner besten Freundin Anke, ohne sie wäre ich nicht dahin gefahren. Die ersten Nächte ging es mir schlecht, bis ich es hingekriegt hatte, meine Mutter telefonisch auf der Arbeit zu erreichen, damit sie es organisiert, dass meine Freundin zu mir in dieses 4-Bett-Zimmer verlegt wird. Ich habe damals stark unter Trennungsangst gelitten. Es ging mir nachher dort nicht schlecht. Ich wurde zu Hause in der Schule gemobbt, dort war eine andere das Mobbingopfer, wobei ich sogar manchmal ein bisschen mitgemacht habe. Nachher ging das Mobbing in meiner Schule weiter, bis zum Ende der Schulzeit trotz 2er weiterer Schulwechsel. Wir hatten 2 verschiedene Erzieherinnen im Heim, die eine war nett, die andere nicht. Diese andere wollte uns immer zum Essen zwingen, bzw. alles aufzuessen. Ich verabscheute Käse, meine Freundin auch. Sie zwang sich den hinter, ich nicht. Ich mogelte, indem ich den als letztes in den Mund steckte und dann gleich aufs WC ging und ihn ausspuckte. Es gab dort einen selbstgemachten Kirschjoghurt zu essen, ich habe von dem zu Hause geschwärmt. Ich erinnere mich leider gar nicht an die Umgebung, ob wir einen Ausflug nach Naumburg gemacht haben, vermute ich nur. Aber ich musste in der Kälte und Nässe raus in Gummistiefeln wandern, das habe ich gehasst. Die Waschprozeduren waren schon sehr soldatenmäßig: alle hintereinander anstehen waschen mit Waschlappen und Zähneputzen, das hat mir nie behagt. Ansonsten fand ich es ne gute Zeit, die zwischenmenschlichen Kontakte waren schön.

Thomas Schläger - 2021-11-02
Verschickungsheim: Kinderkurheim Ettersberg
Zeitraum-Jahr: 1983
Kontakt: Keine Angaben

Ich war im Frühjahr 1983 für 6 Wochen im Kinderkurheim Ettersverg bei Weimar. Es war sehr schön, vormittags Schule, Mittagsschlaf, nachmittags Ausflüge. Viele Wanderungen in die schöne Natur, auch mal zu Goethe und Schiller nach Weimar.
Natürlich auch viele Geschichten aus dem nahegelegenen KZ Buchenwald erzählt bekommen, wobei es dabei politisch motiviert natürlich immer nur um Kommunisten, Antifaschisten und Ernst Thälmann ging. Judenverfolgung wurde nie auch nur ansatzweise erwähnt.

Die Erzieherinnen waren DDR-typisch streng, aber nicht ungerecht. Ich war einer von den Flegeln, der Soohn einer Kollegin meiner Mutter war ein Jahr nach mir dort und die Erzieherinnen konnten sich noch an mich erinnern "der war ein lauter Rabauke"
Die einzige Strafe: Ich und ein paar andere Rabauken durften nicht mit zum Besuch ins KZ Buchenwald, was uns mit unserer mangelhaften Disziplin begründet wurde. Das kann ich auch heute noch sehr gut nachvollziehen. Eine KZ Gedenkstätte ist kein Ort an dem man 8-10 jährige Kinder rumtoben lassen möchte die nicht hören können.

In meiner Erinnerung war es eine schöne Zeit, wir haben dort viel Blödsinn gemacht. Alle Kinder und auch die Erzieherinnen sind fair mit uns umgegangen.

Anja - 2021-06-11
Verschickungsheim: DDR Kinder kurheim Dahmshöhe
Zeitraum-Jahr: 1986
Kontakt: Kontakt Erwünscht

Ich bin Anja.
Ich bin in der DDR aufgewachsen und wurde 1986 im Alter von 9Jahren in das Kinderkurheim Dahmshöhe, im Ort Altthymen geschickt. In meinem SV Ausweis ist ein Vermerk darüber. Meine Mutter hat die Postkarte aufgehoben die ich von dort geschrieben habe.
Der Hauptsatz lautete,, ich bin die Bett Nummer 18,,
Das sagt schon was aus.
Leider habe ich große Erinnerungslücken...
Wenn ich die ganzen anderen Berichte lese, dann bin ich schockiert und mir wird übel. Ich fürchte ich habe schlimmes erlebt und stark verdrängt...
Es gibt so viele Probleme in meinem Leben und so viel was ich mir nicht erklären kann, wahrscheinlich hängt es mit dieser Kur zusammen.
Meine Mutter sagte mir ich war zum zunehmen dort und als ich zurück gekommen bin habe ich sie abgewiesen, nicht mehr gesprochen und war wesensverändert.
Wer von euch war auch in Dahmshöhe und kann mir weiterhelfen was da vll. Passiert sein könnte?
Wie jeder von uns befinde ich mich in einem Bereich der Aufarbeitung und Heilung....
Vll. Hilft es ja wieder einfach glücklich werden..

Danke

Udo Rosin - 2021-05-05
Verschickungsheim: 2 xBrilon, 1 x Borkum, 2 x Rottach-Egern
Zeitraum-Jahr: 1955, 1957, 1959, 1961, 1963

Als Flüchtlingskind aus der DDR mit gerade 6 Jahren in Köln angekommen, konnte ich laut Gesundheitsamt wegen Untergewicht nicht eingeschult werden!
Ich wurde für 6 Wochen ins Heim nach Brilon geschickt. Die schlimmste Erinnerung beim ersten Aufenthalt war, dass ich und andere Protestanten morgens in der katholischen Kirche permanent knien mussten!
Beim 2. Aufenthalt erinnere ich mich daran, dass ein kleines Kind mehrfach gezwungen wurde das erbrochene Essen wieder aufzuessen!
Als 10jähriger war ich 6 Wochen auf Borkum. Nach wenigen Tagen erkrankte ich an einer Infektion und war mehr als 3 Wochen im Krankenzimmer im Bett!
Mit 12 kam ich ins Heim nach Rottach-Egern, geleitet von einer älteren Nonne. Zwischen 13 und 15 Uhr war Mittagsruhe. Wir mussten still im abgedunkelten Raum in unseren Betten liegen. Wenn das Bett beim umdrehen knarrte, musste der Täter für die restliche Mittagsruhe in der Ecke stehen oder knien! Oft waren Bekannte der Mitarbeiterinnen am Mittag da und aßen auch. So reichte immer wieder das Essen nicht, um alle Kinder satt zu bekommen!
Dies alles berichtete ich meinen Eltern!
Mit 14 sollte ich dann nochmals nach Rottach-Egern. Zuvor wurde ich zu einem vertraulichen Gespräch zum Chef meines Vaters gebeten! Er bat mich Augen und Ohren offen zu halten und ihm nach meiner Rückkehr zu berichten. Dies alles vertraulich und ich sollte im Heim kein Wort dazu sagen! Irgendetwas musste durchgesickert sein, denn im Heim waren sie netter zu mir als 2 Jahre zuvor! Trotzdem gab es wieder viele negative Erlebnisse in den 6 Wochen. Im Prinzip hatte sich für die anderen Kinder nichts positiv verändert!
Nach meiner Rückkehr wurde ich im Beisein meines Vaters und in Anwesenheit zweier anderer Personen über meine Erlebnisse befragt. Wie ich erfuhr, gab es das gleiche Prozedere mit dem Sohn eines Kollegen meines Vaters, der vor mir in der Verschickung war.
Fazit: Das Heim in Rottach-Egern wurde im Hebst 1963 vom Landschaftsverband Rheinland, als zuständiger Träger, geschlossen!
In den späteren Jahren, als viele der Erlebnisse, auch beruflich bedingt, mir wieder in den Sinn kamen, war dies für mich eine besondere Genugtuung!
Als junger Mann war ich mit meiner Frau nochmals in der Region des Tegernsees. Aus dem Kinderheim war ein Hotel geworden!?

Susan Fritzsch - 2021-04-07
Verschickungsheim: Schloß Krumpke/Osterburg, Sachsen-Anhalt
Zeitraum-Jahr: 1983

Ich war noch nicht ganz 3 Jahre, als meine Mutter meinem Kinderarzt nach vielen Versuchen nicht mehr klar machen konnte, dass sie mich nicht alleine zur Kur schicken möchte. Ich war sehr oft krank und auch der Arzt konnte wohl nicht mehr rechtfertigen, warum ich noch nicht bei einer Kur war. Soweit ich weiß, war das bei kränklichen Kindern einfach Gang und Gebe in der DDR. Ich kam 1983 kurz vor Weihnachten zurück nach einem 6-wöchigen Kuraufenthalt.
Ich habe, trotz meines jungen Alters damals, ein paar gruselige Erinnerungen. Tägliches Fiebermessen, bei dem wir minutenlang mit dem Quecksilber- Thermometer im Po allein liegengelassen wurden. Eines Tages sagte eine "Wächterin" ,dass bei einem Jungen, der inzwischen nicht mehr in der Gruppe war, das Thermometer im Po kaputt gegangen ist. Wir lagen während des Messens in Gitterbetten in einem großen Schlafraum. Nach meiner Erinnerung waren es viele Betten. Das Schlafen fiel mir, aus Sehnsucht nach Mama, sehr schwer. Ich weinte oft nachts. Eines nachts kam die "Nachtwächterin" und nahm mir , weil ich mich nicht beruhigte, meine Plüschgiraffe weg , legte sie so auf den großen Schrank am Kopfteil meines Bettes, dass der Kopf noch runter hing, ich sie sehen konnte. Das machte mich noch trauriger. Dann kam die Frau wieder und sperrte mich in einen Raum, von dem eine Treppe hinunter führte. Wenn ich nicht aufhören würde, zu weinen, würde der Weihnachtsmann hoch kommen und mich mitnehmen. Ich war nicht mal 3 Jahre. Ich erinnere mich auch noch an einen weiteren Saal, in dem wir ab und zu spielen durften. Ein Kaufmannsladen war dabei. Von den Erzählungen meiner Mutter erfuhr ich, dass meine Haare nach der Kur komplett verfilzt waren und in meinem Rucksack die Brotdose noch mit dem Brot von vor 6 Wochen gefüllt war, welches sie mir mitgegeben hatte.

Astrid - 2021-03-31
Verschickungsheim: Graal Müritz wahrscheinlich Richard Assmann Klinik
Zeitraum-Jahr: 1980

Hallo, ich bin mit 4 Jahren nach Graal Müritz zur Kur gewesen. Ich dachte immer, es ist bei mir einfach eine persönliche Erinnerung, die ich durch das ganze weitere Leben mitgenommen habe und auch das das nur in der DDR so üblich war, dass Kinder allein zur Kur geschickt wurden. Dann las ich in einer Fachzeitschrift über das Thema und war oder bin geschockt, das dies in ganz Deutschland Standard war. Ich habe nur eine kleine Erinnerung, welche sich aber offensichtlich sehr eingebrannt hat. Ich habe dort nachts eingekotet und durfte dann am nächsten Tag als Strafe einen Ausflug nicht mitmachen. Meine Eltern haben mich damals aber gemeinsam mit dem Zug dorthin gebracht und von meiner Mutter weiß ich auch, dass ich bei der Abholung nach 6 Wochen auf der Heimfahrt kein Wort mehr gesprochen habe. Und das über mehrere Stunden. Dann hatte ich im Verlauf große Verlustängste und wollte immer in der Nähe meiner Mutter sein. Außerdem erzählte sie mir, dass kein Kontakt möglich war und Eltern keine Auskunft bekamen. Einmal schickten die Schwestern eine weiße normale Postkarte auf der mit Kugelschreiber eine Sonne gemalt war und nur der Satz" Salzige Grüße von der Ostsee" Mehr nicht. Ich suche nun Menschen die vielleicht auch dort waren und vielleicht auch schon älter waren und mehr Erinnerungen vorhanden sind. Ich habe seit der Jugend immer psychische Probleme gehabt und mich würde interessieren, ob an diesem Ort auch noch andere Sachen passiert sind. Ich muss aber dazu sagen, dass ich hinterher im Kindergarten und Schule ein unauffälliges liebes Kind war und anscheinend keine Probleme hatte.
Falls sich jemand findet, der auch in den 1975-1980 in Graal Müritz war, kann sich gern melden.
Vielen Dank an Alle, die diese Seite ins Leben gerufen haben!

Karin - 2021-03-05
Verschickungsheim: Kindersanatorium WUNSCHA Bezirk Dresden (DDR)
Zeitraum-Jahr: 1962

Vor kurzem wurde ich durch eine Videoaufzeichnung auf das Thema Verschickungskinder aufmerksam. Ich war tief erschüttert und hatte direkt körperliche Schmerzen. Das war für mich der Anlass, weiter zu recharchieren, da ich im Winter 1962 im Kindersanatorium WUNSCHA (ehemalige DDR) war . Ich habe an diese Zeit des Aufenthalts (4 Wochen) keine Erinnerung. Ich war bereits 7 Jahre alt, in der zweiten Klasse und kann mich an die Zeit davor gut erinnern.(Schuleinfuhrung/erstes Schuljahr). Da ich mein ganzes Leben lang nach Gründen suche, warum ich weder Nähe zulassen kann und mir immer selbst im Wege stehe, vermute ich nun, dass es Ursachen dafür gibt, die eventuell mit dieser Zeit zu tun haben.Es gibt leider niemanden mehr, den ich in der Familie fragen kann und es wurde auch nier darüber geredet. Leider gibt es das Kurheim nicht mehr und auch den Ort Wunscha nicht, da er in den achtziger Jahren dem Bergbau zum Opfer gefallen ist. Weitere Recherchen haben mich bisher nicht weiter gebracht. Vielleicht soll es so sein, dass sich hier jemand findet, der im selben Kurheim war. Im Moment lese ich das Buch "Die Akte Verschickungskinder", welches aber eher die Kinder der BRD betrifft.
Ich hoffe sehr, dass mit Hilfe dieser Homepages, vielen Menschen geholfen werden kann und immer mehr Licht ins Dunkel kommt. Vielen Dank für diese Möglichkeit.
Liebe Grüsse Karin

Nadja - 2021-02-17
Verschickungsheim: Osterburg und Bad Muskau
Zeitraum-Jahr: 1984 und 1991

Hallo,
seit Kurzem sind mir die Erlebnisse die ich während zweier Kuraufenthalte in der DDR hatte, wieder ins Bewusstsein gekommen. Vieles habe ich verdrängt, besonders von meinem ersten Kuraufenthalt mit 5 Jahren in Osterburg, woran ich nur wenig Erinnerungen habe. Aber ich weiß noch, dass dort in sehr großen Schlafsälen in Gitterbetten geschlafen wurde und ich mich nachts gefürchtet habe und nicht schlafen konnte. Auch kann ich mich noch erinnern, das man nackt unter der Höhensonne tanzen musste, gezwungen wurde aufzuessen und das es Strafen gab. Welche , kann ich mich nicht mehr erinnern. Würde es aber gern, um es besser zu verarbeiten.
An den zweiten Kuraufenthalt in Bad Muskau Nähe der polnischen Grenze kann ich mich dafür sehr gut erinnern. Zu beiden Kuren wurde ich geschickt, weil ich zierlich und zu dünn war. Gemein fand ich, dass bei der Kur gleichzeitig Kinder zum Zunehmen und zum Abnehmen waren. Auch die Essenszeiten waren gleich. Während die Kinder die Abnehmen mussten Ihr Essen in winzigen Portionen eingeteilt auf ihren Tellern hatten, mussten sie gleichzeitig mit zusehen, wie die anderen (zu denen ich auch zählte) regelrecht mit Essen vollgestopft wurden. Es gab für uns 6 Mahlzeiten am Tag. Regelmäßig mussten wir uns in Unterwäsche im Gang aufreihen zum Wiegen. Wir haben uns manchmal kleine Sachen in die Socken gestopft, um ein paar Gramm mehr zu wiegen. Aber die größte Folter war für mich folgendes: Jeden morgen musste ich um 5 Uhr aufstehen und in den Keller. Dort gab es Stachelbrause oder Wechseldusche. Die Stachelbrause bestand aus einem Aufsatz aus dem mehrere harte Wasstrahle herauskamen und damit wurde man erst kalt dann heiß abgespritzt. Dafür musste man sich nackt in eine Ecke stellen.
Wechseldusche war dasselbe, nur nicht mit so hartem Wasser. Für mich war es eine Folter. Die nächste Folter war, dass man in die Sauna eingesperrt wurde. Ich hielt es nicht so lange aus und wollte eher raus und habe darum gebettelt. Aber ich musste solange drinn bleiben, bis die Zeit um war. Danach musste sich jedes Kind in eine Badewanne mit eiskaltem Wasser legen, bis zum Kinn und nur danach durfte man gehen. Das hat definitiv ein Trauma bei mir hinterlassen. Ich ertrage keine Hitze über 30 Grad und habe das Gefühl von Panik und ersticken zu müssen und ich meide kaltes Wasser wie die Pest, gehe seit dem fast nie ins Schwimmbad oder in einen See. Nur in warmes Wasser.
Ich würde gerne meine Erinnerungen auch an die erste Kur wieder hervorholen. Da ich hoffe, wenn ich es erinnern kann, es auch besser zu bewältigen und damit umgehen zu können.
Ich bin noch neu hier und froh diese Seite gefunden zu haben. Wenn jemand einen Rat hat, wo ich mehr Hilfe bekommen kann, bin ich dankbar. Das Gefühl, damit nicht allein zu sein, tut jedenfalls gut.
LG Nadja

Katrin - 2021-02-15
Verschickungsheim: Königswusterhausen und Wiek auf Rügen
Zeitraum-Jahr: 1979 und 1980

Hallo,
ich musste gleich zweimal in die Kur fahren, denn ich war zu klein und zu dünn um eingeschult zu werden. Genau kann ich nicht mehr sagen, wann ich wo gewesen bin und was ich wo genau erlebt habe. Ich war erst 5 und dann 6 Jahre alt. Bestimmt habe ich viel verdrängt oder vergessen und das ist wahrscheinlich auch besser so. Wie in der DDR so üblich, ging es sehr militärisch zu. Antreten zum Apell und in Zweierreihe, still stehen. Aber das war ja in der DDR auch an den Schulen so. Obwohl so viele Kinder da waren, habe ich mich sehr einsam gefühlt. Ich kann mich nicht daran erinnern Freundschaften geschlossen zu haben. Wahrscheinlich hatte jeder mit sich selber zu tun.
Wir durften nachts nicht auf Toilette und meine Bettnachbarin hat häufig ins Bett gemacht und nicht nur Urin, sondern Stuhlgang. Sie musste die ganze Nacht in ihrem Haufen liegen und im Schlafsaal hat es furchtbar gestunken. Morgens wurde sie dann ganz schrecklich angeschrien. Sie hat entsetzlich gelitten.
Mein Vater hat mir Süßigkeiten geschickt, die ich nie bekommen habe. Das haben hier ja viele beschrieben. Ich habe es schrecklich empfunden nackt in einer Reihe anzustehen und morgens eiskalt mit abends viel zu heiß mit einem Wasserschlach abgespritzt zu werden. Auch der Gang nackt um die Höhensonne war gruselig. Wir haben uns gefürchtet und ein Mädchen ist umgefallen.
Beim Essen musste aufgegessen werden oder man saß stundenlang vor dem Teller. Im meiner Suppe war ein Knorpel. Den konnte man gar nicht runter bekommen. Ich habe ihn mir in den Mund gestopft ihn im Klo wieder ausgespuckt und mich dabei so geekelt, dass ich mich erbrochen habe. Wenn man die viele Butter nicht aufs Brot geschmiert bekam, musste man sie im Nachgang so essen.
In meiner Erinnerung waren die Erzieher sehr unterkühlt.
Meine Eltern glaubten mir das nicht. Ich habe dann auch einfach nicht mehr darüber nachgedacht und verdrängt, bis mir ein Freund ähnliche Sachen erzählt hat. Niemals würde ich meine Kinder alleine in eine Kur schicken.

Jo Jo - 2021-01-30
Verschickungsheim: Oybin
Zeitraum-Jahr: 1982

Meine Kindheit war durch Missbrauch und Gewalt geprägt. Mein Vater war (bzw. ist) Alkoholiker, die Familie deckt(e) ihn. Die DDR war ein geschlossenes System, in der die Familie einen besonderen Stellenwert hatte: Sie war heilig. Ein geschlossenes System in einem geschlossenen System. Kriminalität hatte es nicht zu geben. Als Opfer war man in der DDR zum Schweigen verdonnert. Nichts durfte nach außen dringen. Ein geschlossenes System in einem geschlossenen System. Man hatte keine Chance, Gehör (geschweige denn Verständnis) zu finden. Die DDR war geprägt durch Anpassung, Disziplin und Leistung. Bis heute habe ich das Gefühl, dass ich nicht reden darf. Während ich schreibe, klopft mein Herz wie wild. Ich traue mich nicht, meinen richtigen Namen zu nennen, weil ich sonst fürchte, bedroht zu werden. Meine jüngste Tochter hat mir Mut gemacht, an die Öffentlichkeit zu gehen.

Nachdem mein stark alkoholisierter Opa sich an mir vergangen hatte als ich ca. 6 Jahre alt war, habe ich versucht, mich meiner Mutter anzuvertrauen. Sie beschimpfte mich als Lügnerin. Bis heute möchte sie nichts davon hören, unterstützt mich nicht bei der Aufarbeitung und verdrängt ihre eigene Geschichte. Nach diesem schlimmen Ereignis wurde ich verhaltensauffällig und aggressiv. Zur Besserung schickte man mich in ein „Erholungsheim“ für schwer erziehbare Kinder nach Oybin. Für mich war es eine Bestrafung für eine Sache, für die ich nichts konnte.

Wie ich in das Heim gekommen bin, weiß ich nicht mehr. Mein Zeitgefühl verschwamm. Über die Länge des Aufenthaltes hatte ich keine Transparenz. Die Erzieherinnen gaben mir das Gefühl, dass ich für immer dableiben müsse. Ich habe innerlich abgeschaltet. Jeden Morgen mussten wir im Dunkeln aufstehen und dann bis 6 Uhr drillmäßig um das Haus joggen. Wer erschöpft war, musste weiter joggen. Ich erinnere mich daran, dass viele Dinge im Heim nackt gemacht werden mussten. Wir mussten unseren Körper massieren und bürsten und wurden dabei von Erwachsenen überwacht. Während wir nackt vor der Höhensonne umherliefen, standen hinter der Lampe Erwachsene, die uns dabei beobachteten. Immer wieder Untersuchungen, nackt. Tagsüber mussten wir kilometerlang bis zur Erschöpfung wandern. Beim Essen mussten wir so lange sitzenbleiben, bis aufgegessen war. Es gab keinen Spaß, kein Lachen. Ruhe. Als ich auf eine Postkarte an meine Eltern schreiben wollte, dass ich wieder nach Hause kommen will, musste ich meine Karte neu und schön schreiben. Nach dem Motto: „Mir geht es gut. Das Wetter ist schön. Alles ist supi.“ Erst dann wurde die Karte abgeschickt. Dieses hilflose Gefühl, alleingelassen zu sein und vielleicht nie mehr nach Hause zu kommen, werde ich nicht mehr vergessen. Mein Opa hatte mir vor der Kur versprochen, mir im Anschluss ein neues Fahrrad zu kaufen.

Über Facebook habe ich einen Mann angeschrieben, der als Kind mit mir zusammen in dem Heim war. Seit ich ihn darauf ansprach, was er in Oybin erlebt hat, erhalte ich keine Antwort mehr.

Im Laufe meines Lebens wurde ich mehrfach Opfer sexueller Gewalt, ich entwickelte eine Art Opferidentität. Dass ich in der DDR nicht alleine mit meiner Geschichte war, weiß ich. Meine Freundin wurde von ihrem Stiefvater ermordet, nachdem er sie jahrelang vergewaltigt hatte, sie schwanger von ihm wurde und sie sich letztlich dagegen wehren wollte. Als ich vor zwei Jahren ein Klassentreffen organisierte, kamen viele nicht, weil sie traumatisiert waren und keine Erinnerungen mehr an damals wollten. Ich habe hart dafür gearbeitet, dass das Treffen für alle zu einer neuen, positiven Erinnerung wurde (bevor meine eigenen Erinnerungen wiederkamen).

Auch mein Körper hat die Geschehnisse über viele Jahre verdrängt mit den Mitteln, die ich am besten konnte: Disziplin, Anpassung und Leistung. Erst letztes Jahr, als ich in einem Krankenhaus war und vorher eine Gehirnerschütterung hatte, kamen meine Erinnerungen wieder. Mein Leben änderte sich schlagartig. Ich wurde aus dem Krankenhaus mit der Diagnose „Posttraumatische Belastungsstörung und Amnesie“ entlassen. Seitdem fehlt mir jegliche Identität. Meine (Angst-)Gefühle sind oft heftig, die Erinnerungen nur bruchstückhaft. Seit dem Krankenhausaufenthalt versuche ich, die Puzzleteile meiner Vergangenheit zu sortieren. Den Kontakt zu meiner Herkunftsfamilie habe ich abgebrochen, um mich zu schützen.

Das Schlimmste, was ich auf dem Weg merke, ist, dass es immer noch sehr schwer ist, Menschen zu finden, die Verständnis haben und einen auf dem Weg begleiten wollen. Dass den Tätern daran gelegen ist, dass die Dinge nicht an die Oberfläche kommen, ist klar. Das Gleiche gilt für die Opfer, die sich oft schämen. Auch der Gesellschaft ist immer noch größtenteils daran gelegen, dass am besten alle Parteien schweigen. Das ist für mich schwer zu verdauen.

Die Corona-Zeit kam mir sehr gelegen, da so niemand merkte, dass ich ungern unter fremde Menschen gehe. Vor mir liegt noch ein langer Weg. Nichtsdestotrotz kann ich sagen, dass ich froh bin, dass ich mein inneres Kind wiedergefunden habe. Im letzten Jahr habe ich sehr viel geschafft. Diesmal weniger durch Disziplin, dafür mehr durch Wahrnehmung und Achtsamkeit.

Bislang habe ich noch nicht die Kraft gefunden, intensiv nach dem Heim in Oybin zu recherchieren, weil ich Angst habe, dass ich die Gefühle nicht verkrafte. Ich habe Bilder des Heimes, von dem es vermutlich keine Unterlagen mehr gibt, im Internet gesehen.

Ich wünsche euch allen, dass ihr euren individuellen Weg findet und eure Geschichten verarbeiten könnt. Wenn man einmal merkt, dass diese schlimmen Gefühle zur Vergangenheit gehören und man Einfluss auf das Hier und Jetzt nehmen kann, dann kann man nur gestärkt da rausgehen.

Johanna B. - 2021-01-26
Verschickungsheim: Glowe (Rügen)
Zeitraum-Jahr: 1954

Hallo,
ich habe heute einen Kurzfilm über Verschickungskinder gesehen und erinnerte mich daran, dass meine Oma mir erzählt hatte, dass sie auch einst auf Kur gewesen sei, weil sie zu dünn gewesen wäre. Sie war von März bis Mai 1954 in Glowe auf Rügen in der ehemaligen DDR als sie zehn Jahre alt war. Die Kinder waren dort in Baracken untergebracht und teilten sich ein Zimmer mit 3-8 weiteren Kindern. Postkarten durfte sie nur nach Kontrolle der Schwestern abschicken an ihre Eltern. Es gab meistens Eintopf mit fettigem Fleisch und alles musste aufgegessen werden. Wenn sie es nicht schaffte, erbrach sie und aß weiter. Die Schwestern waren "Drachen", wie meine Oma sagte, vom alten Schlag in Uniform und der Umgang glich militärischen Maßstäben. Viel mehr wollte sie nicht darüber erzählen, weil sie sich nicht gern daran erinnert.
Ich wünsche Ihnen viel Stärke, die traumatischen Erlebnisse aufzuarbeiten!

Bettina Brendel-Sonnenrein - 2020-11-05
Verschickungsheim: Kinderkrankenhaus im Borntal
Zeitraum-Jahr: 1976
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Ich war 1976 zum Abnehmen für 6 Wochen zur Kur in Bad Sachsa (Harz). Im Sommer wurde ich 15 Jahre alt, meine 10-jährige Cousine war zeitgleich dort. Weil ich die Älteste war, traute man sich nicht mehr, mich zu drangsalieren, habe aber viel miterlebt. Es handelte sich um das "Kinderkrankenhaus im Borntal" in Bad Sachsa. Es bestand aus mehreren Holzhäusern in einer bergigen Wald- und Wiesenlandschaft. Wir waren zunächst in 10-Bett Schlafsälen untergebracht. Ich bekam später das Privileg eines Zweierzimmers. Kinder waren zum Abnehmen, Zunehmen und zur Erholung zusammengewürfelt. Jeder musste täglich seinen Stuhlgang den Diakonissen vorzeigen. Es wurde Strichliste geführt. Konnte ein Kind mal nicht, bekam es ein widerliches, schwarzes Granulat (ich glaube Faulbaumrinde o.ä.) verabreicht. Nicht wenige Kinder übergaben sich am Tisch danach und wurden von den alten Diakonissen gezwungen, ihr Erbrochenes aufzuessen. Allen Anderen wurde beim Zusehen auch ganz schlecht. Für die Kinder, die abnehmen sollten, gab es 600-700 Kalorien am Tag, bestehend aus 1 Apfel, 1 trockenen Scheibe Schwarzbrot und 1 kleinen Becher Magerjoghurt. Jeden Tag das Gleiche zum Frühstück und Abendbrot. Wir hatten ständig Hunger. Nach jeder Mahlzeit mussten wir uns das karge Mahl gleich wieder abtrainierenund eine halbe Stunde joggen im Gelände. Tagsüber hockten wir auf einem Rasenplatz mit Bänken , von Erzieherinnen beaufsichtigt und langweilten uns. Nur selten gingen wir spazieren und kamen aus dem Gelände heraus. Eines Tages kam ein neues Kind. Die Diakonissen erzählten uns, sie sei aus Berlin und unehelich. Diese Mädchen hatte stressbedingten, kreisrunden Haarausfall. Ich erlebte, dass die Diakonissen sie besonders gerne quälten. Sie musste stundenlang auf der Toilette ausharren, weil sie keinen Stuhlgang hatte. Sie sollte solange dort sitzenbleiben, bis es klappte. Das Kind weinte fürchterlich. Wenn wir nicht parierten, drohte man uns damit, es unseren Eltern zu sagen. Dann müssten diese die angeblich anfallenden Kosten von 200-250 DM selbst bezahlen, hieß es. Als ich noch im großen Schlafsaaluntergebracht war, hatten wir eines Abends einen organisierten Apfel reihum von Bett zu Bett geworfen, jede biss einmal ab. Plötzlich fiel der Apfel zu Boden. Die Tür ging auf, der Lichtstrahl vom Flur fiel direkt auf den Apfel und die Nachtschwester (70 Jahre, Diakonisse) tobte. Sie brüllte:"Wer war das?" Keiner antwortete. Meine Cousine hatte schlecht geworfen und vor lauter Stress musste sie dringend auf die Toilette. Die Diakoniise folgte ihr, baute sich vor der offenen Klotür auf und schrie sie die ganze Zeit an. Das war ein grausames Verhör. Meine Cousine weinte fürchterlich, sagte aber nichts. Solche Erlebnisse bleiben im Gedächtnis. Ich litt damals außerdem an Waschzwang. Da ich den dort gar nicht ausleben konnte, weil wir uns abends alle an einem Dutzend Waschbecken komplett einseifen mussten,in eine Reihe stellen und dann nacheinander in einer Wanne von zwei Diakonissen abgebraust wurden, erkämpfte ich mir das Recht, mich nach allen anderen allein zu duschen, um diesem entwürdigendem Ritual zu entkommen. Äußerst unangenehm waren die gemeinsamen Mahlzeiten, es waren auch geistig behinderte Kinder dabei. Volle Unterhosen, Schlüpfer ohne Gummiband, die ständig um die Füße fielen. Andere Kinder saßen mit ihren Süßigkeiten aus Fresspaketen abends neben uns vor dem Fernseher. Die waren zum Zunehmen dort und uns anderen knurrte der Magen bei Wasser und Brot! Das ganze war eine große GelDDRuck-Maschine auf Kosten der Kinder, in der Diakonissen in Fortführung ihres Nazizeit-Gebahrens aus Kinderheimen (wie sie erzählten) ihre sadistische Ader und ihre antiquierten Moralvorstellungen an schutzlosen Kindern auslebten. Natürlich gab es auch ein Ärztehaus, dort wurden viele medizinische Untersuchungen gemacht, aufwendige Tests und psychologische Begutachtungen. Das Ganze unter der Leitung eines Chefarztes, der uns aber nie in der Unterbringung in den Holzhäusern aufsuchte. Ganz besonders schlimm war das ständige, nächtliche Wecken gegen 3 Uhr. Nacheinander mussten wir unseren Urin auf 3 Nachttöpfe verteilen, damit der Mittelstrahl-Urin ständig untersucht werden konnte. Nachtschwester Gertrud sei dank..., die ja schon ein ganzes Kinderheim vor den Russen evakuiert hatte und angeblich ihre Brust gegen das Maschinengewehr eines Soldaten gelehnt hatte, um ihre Furchtlosigkeit zu demonstrieren....Ich weiß, dass diese Klinik Kinder aus ganz Deutschland aufnahm und später noch öfter als vorbildlich in Sachen "Adipositas-Kuren" in den Medien auftrat.

Hubert S. - 2020-10-03
Verschickungsheim: Pinneberger Kreiskinderheim "Heimattreue"
Zeitraum-Jahr: Januar/Februar 1962
Meine-Empfindung: es war schrecklich dort

Ich bin Jahrgang 1953 und mit knapp 9 Jahren von Anfang Januar bis Mitte Februar 1962 in das Pinneberger Kreiskinderheim "Heimattreue" in St. Peter Ording/Ortsteil Garding verschickt worden. Heute heißt das nach Verkauf und Umbau  "Hotel Strandhaus" .


Auch dort gab es noch Anwendung "schwarzer Pädagogik", aber zum einen nicht so extrem ausgeprägt, wie es hier im Forum wiederholt drastisch von anderen berüchtigten Heimen beschrieben wird.


Zum anderen war ich als Drittklässler doch schon etwas älter und allein schon durch die Fähigkeit des Lesens und Schreibens etwas unabhängiger als die ganz jungen Verschickungskinder. Schließlich kam für mich noch günstig hinzu, dass ich zusammen mit meinem gleichaltrigen Klassenkameraden Alwin F. verschickt wurde und wir auch während der ganzen Zeit unseres Heimaufenthaltes in der gleichen Gruppe "größerer Jungs" zusammen und z. B. im Schlafsaal Bettnachbarn waren.


Strenge Erziehung und sog. schwarze Pädagogik mit auch sogar körperlicher Züchtigung waren zumindest in der Erziehung von Jungs in den 50er und auch noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hier in Schleswig Holstein weit verbreitet und auch gesellschaftlich akzeptiert - sogar bis zu einem gewissen Grad von relativ brav-angepassten Kindern wie mir; es durfte nur nicht grob ungerecht und gar brutal dabei zugehen.


Ich denke, dass dieser ungemein harte, lieblose und auf Drill sowie unbedingten Gehorsam ausgerichtete Erziehungsstil nicht nur und ausschließlich auf die Nazizeit zurück geht, sondern noch weiter ins deutsch-wilhelminische Kaiserreich und zu den Preußen zurück reicht, wo ja bekanntlich ausgediente ehemalige Unteroffiziere, Feldwebel etc. in den Schuldienst übernommen und auf die Kinder losgelassen wurden.


Das alles hat die uns Kinder erziehende Generation ihrerseits wohl ebenfalls durchlaufen und mehr oder weniger am eigenen Leibe erfahren müssen, und das erklärt zumindest für mich manches, womit ich es aber keineswegs etwa entschuldigen will.


Schließlich muss und sollte man als denkender Erwachsener nicht alle Fehler, die an einem selbst begangen wurden, etwa an anderen einem anvertrauten schwachen und schutzbefohlenen Kindern selber wiederholen.


Besonders unverständlich und unentschuldbar erscheint mir als selbst bekennendem kath. Christen ein solch liebloses Vorgehen seitens christlicher Ordensleute, die es doch eigentlich innerhalb des Christentums ganz anders gelernt und erfahren haben sollten.


Zu mir und meiner Familie:


Meine Eltern sind Heimatvertriebene aus Niederschlesien, mein Vater war als ehemaliger Soldat bis 1945 in russ. Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg lebten die Eltern rd. 10 Jahre im Osten der DDR und sind mit uns beiden dort geborenen Kindern wg. der dortigen Perspektivlosigkeit für sie und uns Ende 1956 in den Westen "rübergemacht", wo mein Vater wieder wie vor dem Krieg in Schleswig Holstein eine Stellung im Staatsdienst fand. Wir lebten seit 1958 im Kreis Pinneberg nordwestlich von Hamburg.


Ich wurde 1959 mit 6 Jahren eingeschult und war außer in Sport und Musik ein guter bis sehr guter Schüler.


Wegen meiner schwächlichen körperlichen Konstitution und Untergewicht wurde ich dann Anfang Januar 1962 in besagtes Kinderkurheim des Kreises Pinneberg verschickt. Wir blieben dort ca. 6 Wochen bis nach der großen Sturmflut am 16./17. Februar 1962.


Wie schon erwähnt, habe ich dieses Heim zwar auch nicht in guter Erinnering; verglichen mit den Berichten aus anderen Einrichtungen hier im Forum dürfte es jedoch noch eines der weniger schlimmen Kinderverschickungsheime gewesen sein - zumindest zu der Zeit Anfang der 1960er Jahre. Allerdings waren sowohl ich selbst als gottlob auch meine Eltern nach meiner "Kur" dort ein für allemal vor einer etwaigen Wiederholung gründlichst "kuriert".


Wir wurden mit Omnibussen von unseren Wohnortes dorthin gefahren. Ich kann mich erinnern, dass ich bereits am Ankunftstag (eine Karte?) an meine Eltern schrieb, in der ich über Heimweh klagte und dass es mir dort nicht gefalle - dafür wurde ich zur Rede gestellt, denn sämtliche ausgehende Post wurde überprüft und zensiert, wenngleich ich mich nicht entsinne, dass etwas zerrissen wurde und neu geschrieben werden musste. Eher glaube ich, dass die Erzieherinnen, auch hier "Tanten" genannt, ggf. eigene relativierende bzw. beschwichtigende Kommentare zu ihres Erachtens "allzu krassen" Briefen einzelner Kinder verfassten. Ich kann mich gut erinnern, dass ein etwas älterer Junge (geschätzt ca. 14 Jahre) aus unserer Gruppe richtig massiv Ärger bekam, als er während eines unserer gemeinsamen Gruppen-Spaziergänge einmal einen von ihm verfassten Brief oder eine Karte, die von den "Tanten"  nicht prüfend gelesen worden war, selbstständig in einen öffentlichen Briefkasten am Wege steckte. Nach meiner Erinnerung gab's einen riesigen Bohei deswegen unter Hinzuziehung der Heimleitung und einen strengen öffentlichen Verweis - wahrscheinlich, um uns übrige einzuschüchtern, damit das Beispiel keine Schule machte.


Ich hab jedenfalls trotzdem von meinem Heimweh geschrieben - allerdings etwas vorsichtiger und allgemeiner, und vielleicht gab es dadurch zumindest für mich kleine Verbesserungen, wie z. B. dass ich Kinder- bzw. Jugendbücher lesen durfte, wenn ich mal dort krank war.


Ich kann mich an sich nur an weibliche Erzieherinnen in besagtem Heim erinnern, auch die Heimleiterin war eine Frau - geschätzt ca. 40 Jahre und übrigens von mir als nett und einfühlsam empfunden.


Unsere unserer Gruppe zugeteilte Tante hieß Ruth Noack oder Nowak, war ca. 60 Jahre alt und nicht mies oder gar gewalttätig aber m. E. recht bequem und zumindest bzgl. der täglichen Gruppenspaziergänge absolut ideenlos:


Wir gingen täglich vormittags nach dem Frühstück mit ihr den immer wieder ewig gleichen langweiligen Weg bis zum Ortskern von St. Peter Ording und da bis zu einem dortigen Andenkengeschäft, das sie dann allein betrat, um sich darin mit der mit ihr offenbar befreundeten Inhaberin bzw. Verkäuferin eine gefühlte kleine Ewigkeit lang ausgiebig zu unterhalten und aufzuwärmen, während wir draußen in der Januarkälte frierend herumstanden und warten mussten, bis es dann auf dem gleichen Weg wieder zurück ins Heim ging.


Spielen o. ä.: Fehlanzeige. So ging das die gesamten 6 Wochen lang tagein und tagaus. Ich erinnere  mich lediglich an 2 Strandbesuche während der gesamten Zeit von 6 Wochen - zumindest einem davon mit der o. gen. Heimleiterin und einem weiteren  wohl nach der Sturmflut vom 16/17. Februar - das war beide Male spannend und abwechslungsreich für uns Jungs und hat Spaß gemacht, war aber die absolute Ausnahme, obwohl das Heim und heutige Hotel nur ca. 200m vom Strand entfernt hinter einer Dünenkette liegt. Ansonsten sind wir nur höchstens eine Handvoll Male mit Vertretungen unserer "Tante" mal andere Wege spaziert, einmal fand dabei wohl auch so eine Art Geländespiel in einem lichten Kiefernwäldchen statt - sonst stets nur die immer gleichen unglaublich öden geschilderten Spaziergänge mit "Tante" Ruth.


Bei Regenwetter fielen die vormittäglichen Spaziergänge allerdings aus, dann konnten wir Gesellschaftsbrettspiele im Essensraum machen. Ich habe dort Monopoly kennen gelernt, das sehr viel Spaß machte.


Die übrigen Erzieherinnen dürften zwischen Anfang 20 und bis ca. Mitte 50 gewesen sein. Sie sind mir nicht als besonders freundlich in Erinnerung - eher verschlossen und unnahbar.


Von einer der jüngeren, die gelegentlich während der Mittagsruhestunde auch mal bei uns Aufsicht führten, fing ich mal eine Ohrfeige ein, weil sie mich mit offenen Augen im Bett liegend erwischte. Den Rest der betr. Mittagsstunde schlief ich darauf dann allerdings richtig tief.


Die täglich verordneten Mittagsschlafpausen waren für Kinder wie mich, die an so etwas nicht gewöhnt waren, im übrigen eine große Zumutung und Tortur.


Als unangenehm empfand ich, dass wir alle bis auf die 3 schon älteren Jungs unserer Gruppe uns zu bestimmten Gelegenheiten voreinander und den Erzieherinnen völlig nackt ausziehen mussten und so gemeinsam anzutreten hatten.


Das  haben - zumindest anfänglich - auch viele andere Jungs so empfunden, denn das waren wir weder von Zuhause noch etwa von der Schule (Sport) her gewohnt.


Die Anlässe, zu denen wir uns gemeinsam voreinander und vor den Erzieherinnen nackt ausziehen mussten, waren zum einen das wöchentliche Ganzbad bzw. gemeinsame Duschen Freitag nachmittags zum anderen das mehrfache Antreten zur Bestrahlung, die in Dreiergruppen in einem großen saalähnlichen Raum stattfand und schließlich bei der mindestens 2maligen Arztvisite. Dabei sehe ich das Nacktsein zum Baden/Duschen noch in gewisser Weise ein, obwohl die älteren nachpubertären Jungs ja schließlich auch davon ausgenommen waren, während zu den beiden übrigen Anlässen eine völlige Nacktheit mir keinesfalls zwingend notwendig erscheint. Da ich ein schwächliches und mageres Kind war und mich äußerlich nicht besonders attraktiv empfand, kam mir die hier verordnete Nacktheit wie eine öffentliche Bloßstellung vor.


In sehr unangenehmer Erinnerung habe ich zudem noch die Sonntagabende, wo im großen Eßsaal gemeinsame Gesellschaftsgruppenspiele unter Beteiligung aller Kindergruppen stattfanden. Da ist mir ein "Spiel" in besonders schlechter Erinnerung, bei dem es darum ging, dass ein hochkant stehender Teller von einem Kind in Drehbewegung gesetzt wurde und dieses Kind nun ein anderes Kind bezeichnen durfte, welches den sich drehenden Teller greifen musste, bevor er zu drehen aufhörte und somit zu Boden ging. Schaffte das aufgerufene Kind dies, so war es nun selbst an der Reihe, den Teller neu zum Drehen zu starten und ein weiteres Kind zu benennen, welches ihn ergreifen sollte. Schaffte das Kind es aber nicht, den Teller rechtzeitig zu ergreifen, bevor er zu drehen aufhörte, so musste es sich quasi "freikaufen", indem es vor allen Kindern im Saal ein Lied singen musste. Davor hatte ich immer eine Riesenangst zum einen wegen meiner Schüchternheit, so vor allen zur Schau gestellt zu werden und mich produzieren zu müssen und zum anderen, weil ich seit Kindesbeinen ziemlich unmusikslisch bin und ausgesprochen schlecht und falsch singe. Meist habe ich mich quasi irgendwie bei diesem mir verhassten "Spiel" drücken können oder den Teller noch rechtzeitig erwischt, einmal gelang es mir aber offenbar nicht, da ich relativ spät benannt wurde, als der Teller schon ins Trudeln kam. Ich sollte also singen, was für mich aber einer öffentlichen Blamage gleichgekommen wäre, und so blieb ich trotz wiederholter Aufforderung stumm. Darauf wurde ich dann auf Kommando der Erzieherinnen öffentlich von allen durch Auslachen verspottet. Eine tief sich ins Bewusstsein einprägende Erinnerung, die gewiss nicht zuträglich war für die eigene Weiterentwicklung und u.a. zur Ausprägung eines gesunden Selbstbewusstseins.


Neben diesen mir in besonders unangenehmer Erinnerung gebliebenen Ereignissen in diesem Heim sind mir noch das ungewohnt lieblose Frühstück mit Früchtetee aus Blechbechern und Fruchtaufstrich auf ungewohntem  dunklem Graubrot sowie der zwangsweise verordnete gemeinsame Mittagsschlaf in schlechter Erinnerung.


Ebenso das untersagte nächtliche Aufsuchen der Toilette. Als einziges Zugeständnis an unsere menschlichen Bedürfnisse waren des Nachts in unserem großen Schlafsaal vorne in Türnähe zwei 10Liter-Zinkeimer aufgestellt, in die man bei Bedarf urinieren durfte.


Auch ich habe dort in diesem Heim meinen 9. Geburtstag erlebt. Von den Eltern per Post zugeschickte Süßigkeiten sollte auch ich abgeben, damit sie "gerecht" verteilt würden.


Zum Schluss meines Heimaufenthaltes ereignete sich Mitte Februar 1962 noch die schwere Sturmflut, was u. a. zur Folge hatte, dass meine Eltern zu Hause in der Nähe Hamburgs wg. zeitweisen Stromausfalls und unterbrochener Telefonverbindungen bei noch keinem eigenen privaten Telefonanschluss tagelang nichts Sicheres über mein Schicksal in Erfahrung bringen konnten. Durch diesen Schrecken und die damit einhergehende Ungewissheit waren auch sie von einer etwaigen Wiederholung einer Verschickung ihres Kindes gründlichst kuriert.


Gewichtsmäßog hatte ich nach der Kur mit lediglich 1-2 Pfund nur wenig zugenommen.


Alles in allem war dieses Verschickungsheim, so wie ich es erlebt habe, jedoch noch deutlich weniger schrecklich als zahlreiche andere hier geschilderte Einrichtungen.


Mir hat's trotzdem gereicht - ich hätte da nicht noch einmal hingewollt.


Bemerkenswert finde ich übrigens beim Lesen der Berichte anderer ehemaliger Verschickungskinder, dass hier immer wieder gehäuft von Verschickung in der kalten Jahreszeit die Rede ist.


Wurden besagte Heime etwa in den warmen Monaten anders genutzt, oder ist das etwa nur ein zufälliger subjektiver Eindruck meinerseits, dass so viele Verschickung im Herbst und Winter erfolgten?

Irene Grimm - 2019-09-11

Heute bin ich nach einem Bericht bei Report Mainz auf diese Seite aufmerksam geworden. 1962 in Leipzig geboren gehöre ich nicht zu den sog. "Verschickungskindern", aber auch in der DDR gab es solche Kureinrichtungen. Bis heute dachte ich, dass ich mich falsch erinnere, da ich nur Rudimente erinnere. Im Oktober 1967 war ich mit 5 Jahren für 6 Wochen in Bad Salzelmen, heute Sachsen-Anhalt, zur Kur, da ich häufig an Bronchitis litt. Noch im Alter von 25 Jahren hatte ich Alpträume. Ich erinnere mich an das Gefühl totalen Verlassenseins, nur eine der "Erzieherinnen" hat etwas Freundlichkeit ausgestrahlt, sie war schon älter. Die anderen waren sehr streng und distanziert. Wenn es die Erzieherinnen für sinnvoll hielten, wurden wir auch geschlagen. Geschlafen wurde in großen Sälen. Wir mussten in großen Räumen duschen, an der Decke hingen im Rechteck viele Duschköpfe und es war überall Dampf und Wasser. Ich hatte Angst, habe mich am Türrahmen festgeklammert und wurde mit Gewalt in den Raum gezerrt. Beängstigend waren Spaziergänge entlang der Gradierwand, von der ich erst seit einem Besuch in Bad Salzelmen weiß, davor hielt ich das Bauwerk aus meiner Erinnerung für Ruinen von Wohnhäusern. Ich erinnere mich noch an einen Tag, an dem ich krank war. Es gab eine separate Krankenstation in einem anderen Gebäude als die Gruppenräume. In dieser Nacht wurde ich ganz allein in dem Gebäude gelassen. Als ich zur Toilette musste, suchte ich in dem Gebäude nach den Sanitärräumen. Ich habe geweint, ich war allein und habe mich gefürchtet. Am Ende des Aufenthaltes gab es ein Gruppenfoto, das ich noch besitze. Es zeigt außer mir 14 Kinder und die einzige freundliche Erzieherin, ich denke, sie hieß Frau Klose.
Darüber hinaus habe ich nur sehr verschwommene Erinnerungen, die immer mit Angst verbunden sind.
Nach meiner Rückkehr nach Hause stellten meine Mutter und meine Großeltern fest, dass ich mich verändert hatte. Ich wollte mich nicht berühren lassen, lehnte körperliche Nähe ab. Einen weiteren Kuraufenthalt lehnten sie zu meinem Glück ab.
Bis heute nahm ich an, dass es niemanden gibt, der ähnliche Erinnerungen hat wie ich. Außerdem dachte ich an, dass ich meine kindlichen Eindrücke überzeichne und zu viel hinein interpretiere. Allerdings hat das Erlebnis mein Leben nicht unwesentlich geprägt, nicht nur wegen der lang anhaltenden Alpträume. Manchmal braucht es offenbar über 50 Jahre, um zu sehen, dass auch andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Mitte der 90er Jahre habe ich Bad Salzelmen besucht. Vieles erkannte ich wieder, Beängstigendes war in meiner Erinnerung viel größer als in der Realität, was vermutlich auch an meiner damals geringen Körpergröße lag.
Falls es jemanden gibt, der die Kinderkureinrichtung in Bad Salzelmen kennt und auch in den 60ern dort war, wäre es schön, hier von deren Eindrücken zu lesen.

Sabine - 2019-09-11

Ich musste 1974/75 in der ehemaligen DDR im Alter von 8 Jahren nach Salzwedel zu einem Kuraufenthalt. Ich bin zum Essen gezwungen worden, wurde mit Büchern geschlagen, in den Keller eingesperrt und die Briefe an meine Eltern wurden rezensiert. Bis heute habe ich Ängste, wenn es auf Reisen geht.
Ich hätte nicht gedacht, dass meine Erelebnisse von damals in der Gegenwart thematisiert werden könnten. Vielen Dank!

Tina - 2019-11-12

Hallo.
Ich bin nur zufällig auf den Bericht gestoßen und wahrscheinlich eine der Jüngsten "Opfer".
Leider habe ich auch noch keine Zweitmeinung zu meiner " tollen" ,unvergesslichen Kureinrichtung gefunden. Seit Jahren verfolgt es mich. Und eigentlich bin ich auch auf der Suche nach meinen Zimmergenossen ( ein Junge und ein Mädchen), um herauszufinden, ob ich mich nicht täusche und es Tatsache alles so stattgefunden hat und ob sie genauso darüber denken und fühlen ,wie ich.
Es war März/ April 1990 Wendezeit.
DDR Regime noch in voller Blüte.
Ein Schularzt hatte mich kurz vor Einschulung dahin geschickt- in meinen ganz persönlichen Alptraum für 6 Wochen.
Zum Zunehmen- ich sah wohl danach schlimmer aus, als wie ich hingefahren bin. Es war für mich schrecklich. Ich saß am ersten Tag vor meiner Gräupchensuppe und hatte nur geweint.
Niemand hat mich getröstet- nur strenge Blicke.
Dies hat sich auch durchgezogen- das Strenge.
Ich weiß noch, dass wir das letzte Zimmer Treppe raufkommend links hatten. Neben uns war ein 4 Bettzimmer mit 4 frechen Jungen.
Sie haben mein Lieblingskuscheltier kaputt gemacht.
Darüber war ich sehr traurig- auch da kein Trost.
Nun zur Einrichtung:
Wir mussten stundenlang ewig durch den Wald spazieren gehen, Wassertreten im dunklen Keller mit Smaragdgrünen Fliesen, man musste vor seiner Leberwurst Schnitte sitzen bleiben, bis man sie aufgegessen hatte. Kleine 5/6 Jährige kinder hatten einen Nachttopf unterm Bett, den jedes Kind abwechselnd morgens entleeren musste.
Nachts lauschten wir an der Tür und hörten das Nachtpersonal Schuhe putzen.
Von Liebe und Trösten keine Spur.
Und dann kam das Schlimmste- Windpocken.
Bis ich überhaupt untersucht wurde, dauerte Stunden, anschließend wurde ich ins Zimmer isoliert ohne Spielzeug, Bücher, etc....man hat ewig niemand gesehen. Ich wollte nur nach Hause. Mir ging es sehr schlecht.
Später habe ich erfahren, dass meine Eltern telefonisch darüber informiert wurden und alles gut dargestellt wurde. Trotzdem sind sie gekommen und wollten mich besuchen- vielleicht hätten sie mich mitgenommen. Doch nein, sie wurden an der Tür abgewimmelt " zum Wohle des Kindes ". Ich musste Tatsache da bleiben und habe noch nicht einmal meine Eltern gesehen. Wie kann man nur so grausam sein?
Leider sind es nur wenige Erinnerungen, doch leider kann ich nichts Positives berichten.
Meine Eltern haben mir berichtet, als sie mich abholten, habe ich kein Wort mehr mit ihnen gesprochen. Wie tief muss diese Kinderseele verletzt gewesen sein und geschädigt? So sehr, dass es mich nach 30 Jahren immer wieder einholt und nicht in Vergessenheit gerät.
Diese sogenannten "Erzieherinnen" sollten sich in Grund und Boden schämen.
Ich würde es Ihnen so gerne selbst sagen und fragen, warum sie sich so verhielten....

Tina - 2019-11-25

Diese Verschickungen gab es leider noch bis Anfang der 90er. Ich war 1990 in einem Kurheim der ehemaligen DDR. 6 Wochen Alptraum.

Heide Wruck - 2019-12-08

Kinderkurheim Sinnershausen bei Hümpfershausen in der Nähe von Meinungen, damals in der DDR


Mein Name ist Heide, geb. 1952, und ich kam etwa 1960/61 in oben genanntes Kurheim, zusammen mit meinem 1 Jahr jüngeren Bruder. Wir wurden auch getrennt und kamen in verschiedene Gruppen. Wir waren beide sehr dünn und sollten zunehmen. Die ganze Atmosphäre gefiel mir nicht, wir wurden schikaniert und zum Essen gezwungen. Frühs standen wir in einer Schlange, um uns vom Direktor des Heimes persönlich den Löffel mit Lebertran pur in den Mund schieben zu lassen. Davor hatte jeder das Grausen. Ich konnte nicht essen, musste mich bei jeder Mahlzeit übergeben und man ließ mich lange allein vor dem Teller sitzen, beschimpfte mich und wenn ich auf den Fußboden kotzte, musste ich selber Eimer und Lappen holen und es aufwischen. Es gab noch andere Kinder, die waren in der gleichen Lage wie ich, aber bei mir war es am Schlimmsten, da ich sehr sensibel bin. Mit meiner Gesundheit ging es steil bergab, ohne dass es jemanden interessierte. Ich wurde immer dünner und schwächer, jeder Spaziergang war für mich eine Qual, da ich kaum noch laufen konnte. Ich trank nur noch Wasser aus den Wasserhähnen im Waschraum. Es wurde so schlimm, dass ich aus dem Bett nicht mehr aufstehen konnte und die dann mal einen Arzt holten, der sich an das Fußende meines Bettes stellte und mich ebenso beschimpfte wie die Erzieherinnen, dass wenn ich nicht esse, sie mich ins Krankenhaus stecken wollen. Ich war schon total apathisch vor Schwäche. Mein kleiner Bruder hat mir das Leben gerettet. Er schrieb auf seine Ansichtskarte, die wir mal schreiben sollten, dass es ihm in der Kur gefallen würde, nur der Heide ginge es so schlecht. Darauf rief mein Vater im Heim an, hörte nichts Gutes aus dem Gespräch heraus und setzte sich durch, mich abzuholen. Da war ich schon so schwach, dass ich nur noch liegen konnte. Ich selbst habe nicht mehr registriert, wie schlecht es mir ging. Er setzte sich mit dem Direktor auseinander, dass sie mir nicht geholfen haben, nicht die Eltern benachrichtigt haben. Er legte mich in eine Taxe, es ging zum Bahnhof, dort musste ich im Abteil liegen und auch zu Hause im Bett bleiben. Auch dort konnte ich nichts essen, stand immer noch unter Schock. Mein Vater redete mir immer wieder zu, sie brachten mir frische Kirschen aus dem Garten ans Bett und da begann ich in Zeitlupe eine Kirsche zu essen, nachdem ich sie erst zerlegt und von allen Seiten angeschaut habe. Ab da konnte ich wieder langsam was essen. Also, ich habe etwa 3 Monate gebraucht,um wieder auf die Beine zu kommen und um wieder in die Schule gehen zu können. Mein Bruder hat die restliche Zeit noch in der Kur ausgehalten, ich weiß nicht, wie er das gemacht hat. Er war es, der mich auf euch aufmerksam gemacht hat!!!! Eine der schlimmsten Frauen dort war die Frau Domke und der Direktor mit seiner Frau.

Christel M. Ianuschewa-Strobelt - 2019-12-17

Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass Anja Röhl eine Verlinkung www.verschickungsheime.org/DDR-kurkinder eingerichtet hat, auf der Betroffene Ost über ihre eigenen schmerzvollen Erlebnisse in DDR-Kinderkurheimen berichten können. Herzlichen Dank, liebe Anja, für diese Zusammenarbeit! Hier soll über eine gesamtdeutsche Geschichte berichtet werden, die in Ost und West Kinderseelen sehr verletzt hat. So hoffe ich sehr, dass es ein nächstes gemeinsames Treffen geben wird - vielleicht auf Schloss Kröchlendorff in der Uckermark.
Christel M. Ianuschewa-Strobelt, Berlin

Gerald Frühsorge - 2019-12-18

Mein Name ist Gerald Frühsorge. Ich bin 1959 auf die Welt geschickt worden. Meine Kindheit verbrachte ich in einem kleinen Dorf nahe Dessau. Dort, wo das Land so eben wie ein Bügelbrett ist. Und wo die Luft damals so dick war wie der Nebel in Südengland. Umweltverschmutzung in höchsten Grade. Im Industriedreieck der DDR. Bitterfeld war nicht weit.
Im Jahr 1967, es waren meine ersten Sommerferien, schickte mich meine alleinerziehende Mutter in das Kinderkurheim Schloss Kröchlendorf. Kinderstrafvollzugsanstalt wäre eine treffender Bezeichnung. Es war mein erster Ausflug in die Ferne. Vier Wochen sollte ich hier sein. Als die vorbei waren wußte ich, es war eine Reise um das Gruseln zu lernen. Das, was ich in diesen vier Wochen erlebt und erduldet hatte, möchte ich erstmals nach außen tragen. Seit meinem Aufenthalt dort sind mehr als 52 Jahre vergangen. An Vieles kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß weder Namen von Erzieherinnen (Wachpersonal), noch von anderen Kindern. Nur ein Name ist mir in Erinnerung geblieben. Konrad. Er war so alt wie ich und in meiner Gruppe. Wir trafen uns 1969 zufällig im Theater in Wolfen.
Wir Kinder sind mit dem Bus nach Kröchlendorf gefahren worden. Bei der Ankunft wurde uns das Taschengeld abgenommen. Nicht jeder hatte welches. 10 MDN hatte meine Mutter mir mitgegeben. Weiß nicht wofür es verwendet wurde.
Vom ersten Augenblick an war mir bewußt, daß es hier ganz anders sein wird als in meiner kleinen Welt, die ich bis dahin kannte. Es herrschte ein rüder Ton. Einschüchternd. Die Erzieherinnen haben klargestellt wie das hier ablaufen sollte.
Die Erinnerungen und die bösen Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machte, sind absolut authentisch. Sie sind immer dieselben geblieben, haben sich im laufe der Jahre nicht verändert. Haben sich eingebrannt.
Zu den Malzeiten ging es besonders drakonisch zu. Vor der Essenausgage mußten wir in einer schmerzhaften Zwangshaltung am Tisch sitzen. Die Arme über die, für Kinder im Alter von sieben Jahren, viel zu hohen Stuhllehnen nach hinten über die oberste Sprosse gelegt. Das Essen war nicht kindgerecht. Erbrechen war an der Tagesordnung. Nachts habe ich oft gesehen, daß das Treppenhaus von Erbrochenem bedeckt war. Und die Kinder dazu. Mit Eimern und Wischlappen. Ich war auch dabei.
Kaum vorstellbar, für den der das nicht selbst erlebt hat , davon möchte ich nun erzählen. Während des Essens mußte ich mich übergeben. Ich erbrach mein Essen auf Tisch und Teller. Eine Erzieherin kam und zwang mich unter Androhung von Strafe mein Erbrochenes aufzulöffeln.
Solange, bis ich weinend zusammengesunken war.
Wir Konnten unsere Kleidung nicht selbst aussuchen. Der Kleiderschrank war verschlossen. Die Sachen, die wir anziehen sollten, legten die Erzieherinen heraus. Ich hatte zwei kurze Schlafanzüge im Gepäck. Eines Morgens lag einer davon auf meinem Bett. Samt Unterwäsche und Strümpfen. Das ist doch Nachtwäsche sagte ich. Es half nichts. Zwei Wochen lang bin ich tagsüber in meinen Schlafanzügen herumgelaufen. Guck mal, da ist wieder der Junge im Schlafanzug. Nicht nur einmal hatte ich das gehört. Habe mich so geschämt.
Einmal in der Woche war Schreibtag. Ich glaube am Montag. Die Post, die wir verschicken wollten, wurde auf den Inhalt hin kontrolliert. Nicht selten standen die Inhalte der Zensur nicht stand. Nocheinmal." Das Wetter ist schön. Das Essen schmeckt. Ich fühle mich hier wohl".
Dann ging die Post ab.
Die Gruppen, die zusammengestellt wurden, bestanden aus Kindern verschiedenen Alters. 6 bis 9 jährige. Ohne weiteres nachdenken für jeden nachvollziehbar, was das für die Schwächsten einer Gruppe bedeutete. Zusätzliche Schikane, Drangsalierung und Gewaltanwendung.
Nur eine Erzieherin, noch sehr jung, ist mir in guter Erinnerung geblieben. Sie war sehr liebevoll. Auf einem meiner zwei Fotos aus dieser Zeit ist sie zu sehen.
Viele Erinnerungen sind mir nicht geblieben. Ein paar kleine Begebenheiten nur.
Bis heute weiß ich nicht, warum meine Mutter mich nach Kröchlendorf geschickt hatte.
Auf diese Frage habe ich keine Antwort bekommen. Unverständlich für mich auch, daß sie meinen Erzählungen offensichtlich keinen Glauben geschenkt hat. Sie hat sich nie die Zeit genommen mehr darüber zu erfahren.
Ich wünsche mir, daß jeder, der die Kommentare der Kurkinder liest und ähnliche Erfahrungen gemacht hat, sich die Zeit nimmt und an dieser Stelle sich mitteilt.
Hier geht es nicht "nur" um die Aufarbeitung und Benennung des Unrechts das uns widerfahren ist. Es geht immer darum, den Schutz der schwächsten in unserer Gesellschaft sicherzustellen. Es geht um unsere Zukunft. Unsere Kinder. Ihre Rechte müssen respektiert und durchgesetzt werden.

Christel M. Ianuschewa-Strobelt - 2019-12-20

Kommentare ehemaliger DDR-Kur-Kinder könnt ihr unter
www.verschickungsheime.org/DDR-kinder-info/ lesen

Sabrina - 2019-12-20

Ich bin Anja Röhl mehr als dankbar für diese Möglichkeit, mich endlich mitteilen zu können und mit anderen Betroffenen in Kontakt treten zu können. Überhaupt zu erfahren, dass man eben nicht als Einzige diese Erfahrung machen musste oder sie sich womöglich nur eingebildet hat.
Mag sein, dass mich das Gelesene und meine Erinnerungen an diese Zeit , die jetzt natürlich geballt wieder zurück kommen, etwas dünnhäutig machen..
Ich bin froh hier eine von vielen zu sein und nicht länger mit meiner Geschichte allein da zu stehen. Auf der Seite der DDR Kurkinder bin ich gerade die Einzige... DAS war der Grund meines Kommentars. Um den link ging es mir nicht.
Falls ich mich im "Ton" vergriffen habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.

Willi Schmidt - 2020-01-14

Die Geschichte der Verschickung beginnt mit dem Gips-Bett. Ich bin noch sehr klein. Etwas ist schief gewachsen bei mir, die Wirbelsäule ist nicht in der Form, in der sie sein soll, mein rechtes Bein ist länger als das linke. Aber so ein kleiner Körper ist noch dehnbar, kann angepasst werden. Mir wird ein Gips-Bett verordnet. So wird es jedenfalls genannt. Das ist ein weißes, hartes Brett, in leicht gebogener Form, ungefähr so lang wie ich groß bin, mit mehreren blauen Riemen an den Seiten. Das Gips-Bett bekommen wir mit nach Hause und ich muss mich mit dem Rücken darauflegen. Dann werde ich mit den Riemen festgeschnallt, an Füßen, Händen und Hüfte, so dass ich mich nicht bewegen kann. So muss ich liegen. Ich weiß nicht wie lange, wie oft. Eine Stunde, einen Tag, täglich, immer. Es kommt mir vor, als liege ich immerzu im Gips-Bett. Ich zerre irgendwann an den Fesseln, weil ich mich bewegen will, es ist schrecklich, sich nicht bewegen zu dürfen, ich will aufstehen, rennen, immerzu will ich rennen, und das tue ich auch immer, wenn ich losgeschnallt werde, angezogen bin, hinaus, und rennen, den Fußball suchen, ihn mitnehmen, auf die Wiese hinter dem Haus, und rennen. Bis ich wieder angeschnallt werde und liegen muss, im Gips-Bett. Dann hilft nur noch träumen, sonst nichts.
Als ich älter werde, brauche ich nicht mehr ins Gips-Bett. Es wird Gymnastik verordnet und das Tragen einer Einlage im linken Schuh wegen den unterschiedlichen Beinlängen. Ein Zentimeter ungefähr, wovon ich nichts merke.
Für die Gymnastik muss ich nach Marburg in die Orthopädie.
In den Fluren und im Wartesaal riecht es vermodert. Ich schäme mich beim Ausziehen. Aber die kühlen Hände der Frau im weißen Kittel tun wohl, wenn wir die Übungen machen.
Später, als ich älter bin, kann ich schon allein mit dem Bus nach Marburg fahren. Die Gymnastik ist jetzt auch im Schwimmbad der Orthopädie. Im warmen Wasser werden ich an den Hüften gehalten und mache Bewegungen, lerne allmählich auch schwimmen, zuerst mit dem Schwimmreifen, kann schaffe ich es schon ohne, ein Stückweit im Wasser.


Eines Tages werde ich dann von der Orthopädie in die Hautklinik geschickt. Seltsame Flecken haben sich auf meiner Haut herausgebildet. Vor allem auf der rechten Seite, an Armen, Hüfte, Beinen und es sieht aus, als wäre ich da stark sonnengebräunt, während die restliche Haut ganz hell ist. Der Arzt in der Hautklinik ist sehr interessiert. Er macht sich Notizen, murmelt etwas vor sich hin, es hört sich an wie: Eine besondere Ausprägung. So noch nie gesehen. Er spricht lange mit Mama, aber es scheint nichts Schlimmes zu sein, weder der Arzt noch Mama schauen ernst. Der Arzt mustert mich nochmal, schüttelt leicht den Kopf und lächelt mich an. Dann spricht er mit Mama einen Termin ab.
Ich stehe in einem Saal in der Uniklinik. Neben mir der Arzt, vor mir, um mich herum Männer und Frauen in weißen Kitteln, ich erkenne sie nicht genau, ich werde angeleuchtet und trage nur eine Unterhose. Der Arzt sagt: „Schauen Sie. Schauen Sie genau. Diese ungewöhnlichen Flecken auf der Haut des Jungen. Die Flecken in dieser Form sind ein seltenes Phänomen.“ Ich muss mich gerade hinstellen, ich zittere. Er fährt mit seiner Hand meine Wirbelsäule ab. Seine Finger sind kalt. „Typischer Haltungsschaden… schief gewachsen… natürlich zwei unterschiedliche Baustellen, kein Zusammenhang…“ Er fasst mich an den Schultern, dreht mich. Diesmal kommt die Kälte über seine beiden Hände. Ich zittere stärker. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, meine Junge“, sagt er. Dann wendet er sich wieder an die Männer und Frauen in weißen Kitteln. „Und hier: die Flecken ziehen sich über die ganze rechte Seite nach unten, während die linke Seite unauffällig ist. Hier, bis zu den Beinen.“ Dabei streift er meine Unterhose nach unten. „Ein interessanter Fall. Aber unabhängig davon. Der Junge ist für sein Alter zu zart gebaut. Ein schwächlicher Junge… eine Kur täte dem Jungen gut… ich werde mit seinen Eltern sprechen.“


2
Ich werde zur Kur nach Karlshafen geschickt. Das ist gar nicht weit weg von uns. In Nordhessen. Mit dem Zug geht es nach Kassel. Dann der Umstieg in einen kleineren Zug, bis nach Karlshafen. Ich will da nicht hin, aber ich muss. Der Arzt in der Klinik hat das angeordnet und Mama und Papa lassen es ausführen. Ich muss. In Karlshafen ist ein großes Haus voller Nonnen. Jedenfalls sehen sie für mich wie Nonnen aus. An denen ist alles schwarz. Es ist, als würden sie immer Trauer tragen. Die sprechen nur in Befehlen. Am Anfang muss ich alles abgeben, was ich besitze. Nicht einmal die Fußballerbilder von den Spielern des FC Bayern, die ich bei mir trage, darf ich behalten. Ich will das Bild von Franz Beckenbauer nicht abgeben, ich sage, dass ich das von meinem Papa habe, mit einem Autogramm drauf. Und einen Wimpel. Der hängt bei mir zu Hause über dem Bett. Aber die Nonne ist unerbittlich, ich muss mich fügen und ihr das Bild geben. Ich sehe, wie sie es in den Papierkorb wirft.
Dann komme ich zu den an¬deren Kindern in den riesigen Räumen. Alle Räume sind riesig und in allen Räumen sind immer alle Kin¬der zugleich. Nur Jungs allerdings; in dem Waschraum, dem Essraum, dem Schlafraum. Es riecht schrecklich nach Seife und Zahnpasta. Beim Waschen nimmt eine der Nonnen einen Waschlappen und zeigt mir, wie ich mich zu waschen habe, auch zwischen den Beinen. Sie reibt mit dem Waschlappen ganz fest auf mir, da wo der Pimmel ist, dass es sehr weh tut. Mir schießen Tränen ins Gesicht, da kriege ich eine Ohrfeige. Zum Essen gibt es immer Hagebuttentee. Den mag ich nicht, ich will lieber Kaffee trinken, wie daheim, aber das ist verboten, die Nonnen befehlen mir, den Hagebuttentee zu trinken, ich würge ihn hinunter, sonst bekäme ich gar nichts. Ich fürchte mich vor ihrer Trauerkleidung.
Der bittere Geruch des Hagebuttentees. Kriecht langsam in die Nase. Das Ansetzen der großen, weißen Tasse an den Lippen. Die lauwarme Flüssigkeit. Der Hustenreiz. Das ruckartige Herunterschlucken. Der krampfhafte Schmerz im Bauch. Das Unterdrücken des Brechreizes. Und wieder das ruckartige Herunterschlucken der Flüssigkeit. Der bitter-abstoßende Geschmack auf der Zunge. Die Hitze, die sich über das Gesicht ausbreitet. Die aufsteigenden Tränen in den Augen. Und weiter. Sich zwingen. Der nächste Schluck. Der Schmerz im Bauch. Das kurzzeitige Absetzen der Tasse. Der strenge Blick der Nonne. Und weiter: unter Tränen, mit zittrigen Fingern, die an der Tasse kleben, der nächste Schluck, immer weiter, bis die Tasse endlich leer ist. Das Aufatmen, endlich. Die Entspannung im Bauch. Das sich abwischen der Tränen. Das beruhigte Sitzen auf dem Stuhl am Tisch. Der auf die leer getrunkene Tasse gerichtete Blick.


Im Schlafsaal stehen ganz viele Betten mit eisernem Gestell. Die Wände sind gelblich verblasst, über der Tür hängt ein großes Holzkreuz. Abends geht das Licht aus und wir liegen mit all den vielen Kindern in dem riesigen Schlafsaal, ohne müde zu sein. Da reden noch einige Kinder, es wird nicht gleich still. Und dann kommen die Nonnen durch unsere Reihen zwischen den Bet¬ten gerast und geben uns Ohrfeigen, alle bekommen Ohrfei¬gen, egal, ob man ruhig gewesen ist oder nicht. Das geht so lange, bis alle still sind, bis alle ihr Weinen ins Kissen gedrückt haben, damit es verstummt.
Zu Hause bekomme ich nie eine Ohrfeige und werde nie geschlagen. Nur einmal bekomme ich schwer Geschimpftes, weil ich gelogen habe. Es kommt aber heraus, und da packt sie mich an den Schultern und schüttelt mich und schimpft mich ganz laut, dass ich nicht lügen darf, auf keinen Fall lügen. Das sagt Papa auch immer und sie haben ja recht: es ist nicht richtig zu lügen. Es war nur, weil, Mama und Opa streiten oft, das kann ich nicht aushalten. Das kommt manchmal ganz plötzlich. Dann fliegt etwas durch die Gegend, wie neulich eine Schüssel Mehl und Mama knallt die Flurtür so heftig zu, dass die Scheibe zersplittert. Ich weiß nicht, warum sie sich so streiten, ich hau dann ab und verkrieche mich.


Zur Kur in Karlshafen gehört eine besondere Art des Badens. Dazu geht es im Schlafanzug, das große Badetuch in der Hand, hinter der Nonne her, die Treppe hinunter. Da ist ein großer, hellgrün gekachelter Raum, in dem stehen mehrere Badewannen, durch weiße Vorhänge getrennt. Auf Geheiß der Nonne ziehe ich meinen Schlafanzug aus und steige in die Wanne. Solbad nennen die das hier. Wasser mit Salz drin, so ein besonderes Salz, sagen die. Aber immerhin ist das Wasser so warm wie in der Orthopädie, wo ich Wassergymnastik machen muss. Und wenn ich erstmal in der Wanne sitze, werde ich in Ruhe gelassen und kann so für mich hindenken. Fast wie daheim, wenn ich in der Küche auf dem Holzkasten sitze, wo das Holz für den Herd drin ist und aus dem Fenster schaue.
Ich werde aus dem Träumen herausgerissen. Die Nonne fasst mir an die Schulter. Ihre Hand ist kalt. Ich muss raus aus dem warmen Wasser, steige aus der Wanne. Ich reibe mir die Augen. Dann erstarre ich. Ein Strahl eiskalten Wassers. Die Nonne duscht mich kalt ab. Ich friere. Ich zittere. Ich kriege eine Gänsehaut. Endlich darf ich mich abtrocknen.


Ich habe Heimweh. Hier lässt man mir keine Ruhe. Immer sind die Nonnen um mich herum und passen auf, hüten, kontrollieren. Malen dürfen wir nur in die vorgedruckten Formen im Malbuch. Ich will das vorgedruckte nicht malen, ich will das malen, was in meinem Kopf ist, aber das darf ich nicht. Ich starre an die Wand. Wenn ich lange auf die Wand starre, entstehen Bilder auf der Wand, als würde ich sie malen in meinem Kopf. Ich darf mein eigenes Bild nicht malen, deswegen male ich es in meinem Kopf an die kahle Wand.
Die Nonnen geben mir keine Zeit zum Nichtstun, zum Schauen. Immer muss ich was tun, und zwar das, was die Nonnen wollen. Nicht einmal vor dem Schlaf lassen sie mich in Ruhe. Sie wollen mich zerstören. Wenn ich mein Weinen ins Kissen drücke, sinne ich nach einem Ausweg. Über mir spüre ich den riesigen, bedrohlichen Schatten der Nonnen. Da kriege ich Fieber. Und als das Fieber nicht weggeht, kommt der Arzt. Es sind die Masern. Da sind überall die roten Flecken und das Fieber, die Erlösung. Ich entkomme ihnen.
Jetzt darf ich im Krankenzimmer liegen. Da bin ich meistens allein und das macht mich froh, denn ich habe meine Zeit wiedergewonnen. Einmal darf ich sogar Kaffee trinken, weil ich so krank bin und mir deshalb etwas wünschen darf.
Ich denke an Papa. Von ihm wünsche ich mir immer das Hasenbrot. Die Hände von Papa riechen nach Teer. Sie riechen immer nach Teer. Der Papa ist die Woche über unterwegs und teert Straßen. Freitagabends wird er von einem Bauarbeiterbus vor unserem Haus abgesetzt. Er kommt dann müden Schrittes mit seiner vollgepackten, abgewetzten Ledertasche zur Küchentür herein, stellt die Tasche ab und lächelt. Ich renne dann auf ihn zu und drücke meinen Kopf an die von Teergeruch durchzogene Arbeitshose, bis er seine rauen, warmen Hände über mein Gesicht gleiten lässt.


Die letzten paar Tage der Kur sitze ich im Krankenzimmer dann leicht ab, ich zähle sie heimlich jeden Abend, und dann darf ich wieder heim.


3
Ich sehe mich im Garten vom Haus Ditmarsia in St. Peter Ording. Wir spielen Völkerball im Garten. Ich habe kurze, blonde Haare, bin schmal, meine Arme sind sehr dünn, und auch meine Beine, man sieht das jetzt, wo ich in kurzer, schwarzer Turnhose umherrenne. Dafür, dass ich deutlich schmaler und kleiner bin als die meisten anderen, sind meine Beine aber erstaunlich lang. Ach, wenn wir doch mal Fußball spielen dürften, aber das dürfen wir nicht, ich schwitze, der Schweiß läuft mir über das Gesicht, über Arme und Beine, und immer weiter rennen, nicht stillstehen, das ist viel besser, als selbst zu werfen, beim Werfen habe ich keine Kraft und auch keine Technik, der Ball fliegt viel zu langsam, verhungert geradezu in der Luft, keine Chance, damit einen der anderen Jungs abzuwerfen, du wirfst wie ein Mädchen, wie ein Mädchen, und das Lachen poltert über mich hinweg, ich versuche es poltern zu lassen und es wieder zu vergessen, lieber wieder rennen, rennen und rennen und schwitzen und rennen und am Schluss, wenn das Spiel zu Ende ist, am Boden liegen, im Gras, ausgestreckt, grüne, feuchte Streifen auf Beinen und Armen.
Später gibt es kalten Kakao und Streuselkuchen. Unter Bäumen, im Schatten, auf langen Bänken hockend. Ich vertiefe mich in dieses Bild, trinke den Kakao, etwas gierig, mit großen Schlucken, kaue genüsslich den Streuselkuchen, spüre die Ruhe dieser schattigen Nachmittage. Aber sie sind selten, und wenn, dann nur von kurzer Dauer. So, jetzt singen wir gemeinsam, und dann geht es rein. Duschen und umziehen. Die Aufforderungen der Tanten kommen schnell und dulden keinen Widerspruch. Und schon stehen wir auf, treten an in gerader, fester Reihe und eine der Tanten stimmt ein Lied an.
Die zweite Verschickung, ungefähr drei Jahre später. Diesmal eine wesentlich weitere Reise. St. Peter Ording an der Nordsee. Haus Ditmarsia.
Wir fahren nachts. Ich bin mit fünf anderen Kindern im Liegewagenabteil. Ich kenne alle ein bisschen, kommen aus Nachbardörfern. Agnes geht mit mir in die gleiche Klasse, dunkelblonde Locken, dicke Brille. Wir plaudern, spielen Auto-Quartett, sind vergnügt. Das Zuhause ist noch nah. Die Färbung der Worte, der Klang der Laute sind vertraut. Geschlafen wird kaum. Alle sind aufgeregt, keiner ist allein so lange und so weit von zu Hause fort gewesen. Außer mir. Aber an die Zeit in Karlshafen will ich nicht denken, diese Zeit ist, als hätte sie gar nicht existiert.
Der Nachtzug, der diesmal ein Sonderzug ist, mit Kindern aus Mittelhessen, tuckert seinen gleichbleibenden Rhythmus über die Gleise, mal schneller, mal langsamer, auf seinem Weg zum Kurort an der Dithmarschen Nordseeküste, unweit der Kreisstadt Husum.
Alles, was jetzt kommt, ist neu, denke ich. Es mischen sich Neugier und Furcht. Ich betrachte aus dem Zug, nachdem es hell geworden ist, langgezogene, abgeerntete Felder, dazwischen kleine Wäldchen mit niedrigen Bäumen, keine Hügel am Horizont.
Es ist früh am Morgen. Wir Kinder aus dem Hessischen werden in verschiedene Heime aufgeteilt. Zwei Betreuerinnen des jeweiligen Heimes nehmen uns in Empfang, lassen uns in Zweierreihen antreten. Das Gepäck wird in Kleinbussen wegtransportiert. Ich muss mich von Agnes und meinen anderen Bekannten trennen. Agnes werde ich in den nächsten sechs Wochen nicht wiedersehen, zwei andere Jungs nur von weitem. Wir marschieren los in den fremden Ort. Der Wind ist kräftig und fremd.


In der Anfangszeit ist das Wetter schlecht, und es werden Spiele gespielt, es wird gesungen. Es gibt einen Chef, der spielt Akkordeon. Der hat einen blonden Vollbart und ein kantiges Gesicht. Trägt immer ein blaues Hemd. Der Chef hält Vorträge, über Ebbe und Flut, über das Land, wo wir uns befinden, was eine Halbinsel ist, oder ähnliche Dinge. Manchmal fragt er auch die Hauptstädte verschiedener Länder ab, oder wo welcher Fluss fließt. Wenn der Chef da ist (er ist nicht oft da), ist es ein wenig wie Schule. Vielleicht ist er Lehrer, wahrscheinlich sogar.
„Wie heißt die Hauptstadt von Kuba?“, fragt er und lässt seinen Blick über uns schweifen.
Das ist einfach, denke ich, und sehe den Globus vor mir, der bei uns im Wohnzimmer steht, daneben liegt mein großer Erdkundeatlas auf dem Tisch. Ich schalte die Lampe ein, die im Globus ist, drehe ihn und stoppe mit dem Finger ein Land, wo ich sein will. Dann schaue ich im Atlas nach, was es über das Land zu lesen gibt.
Ich melde mich und komme dran: „Havanna“, antwortete ich.
„Richtig.“ Dann denkt der Chef nach, während er uns alle genau beobachtet. „Und die Hauptstadt der Niederlande?“, fragt er schließlich.
Ich habe nicht gleich eine Antwort darauf, über die Niederlande habe ich noch nichts im Atlas gelesen, obwohl ich natürlich Johan Cruyff kenne und Ajax Amsterdam. Aber ist es auch Amsterdam?
Alle schweigen und der Chef hebt den Zeigefinger, als sei er ein unsichtbarer Stock. „Ja, unsere Nachbarn. Scheinbar leicht und doch nicht leicht“, sagt er, und fügt hinzu: „Es ist nicht immer das, woran man zuerst denkt, also?“
Da meldet sich der Junge, der neben mir sitzt. Er ist schmaler und kleiner als ich selbst und trägt eine dicke, runde Brille.
„Den Haag“, antwortet der Junge, als er vom Chef drangenommen wird.
Deshalb wird er hier „der Professor“ genannt, denke ich. Soll außerdem ein Ass in Mathematik sein.
Der Chef scheint zufrieden und führt dann weiter aus: „Den Haag ist Regierungssitz und Parlamentssitz. Aber für die Holländer ist trotzdem eigentlich doch Amsterdam die Hauptstadt.“ Dann kommt der Chef zu den Flüssen. Zuerst will er wissen, an welchem Fluss Wien liegt. Das weiß ich natürlich. Auch ohne Atlas. Meine Mama spricht dauernd von Wien, dass sie da hinwill. Ich glaube vor allem wegen der Sissi.
Jetzt will er wissen, an welchem Fluss Magdeburg liegt. Wieder schweigen wir alle und ich überlege, ob ich mich melden soll, während der Chef weiterredet, immer den Blick auf uns gerichtet. „Von der Ostzone weiß man ja heute nicht mehr viel. Und. Kann es einer beantworten?“
Ich melde mich, komme dran und sage: „Die Elbe. Magdeburg liegt an der Elbe.“
„Das stimmt. Woher weißt du das denn, mein Junge?“ Er schaut mich an, der Zeigefinger ist verschwunden, jetzt sind seine Hände gefaltet.
„Ich gucke Fußball im DDR-Fernsehen“, antworte ich. „Da spielt doch der 1. FC Magdeburg. Und da sagt das der Reporter: die Elbstädter.“
Der Chef geht ein paar Schritte auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter. „Gut aufgepasst, mein Junge. Aber mit dem Fernsehen der Ostzone müssen wir vorsichtig sein. Alles Propaganda der Kommunisten. Also Vorsicht.“


Wenn es nicht regnet, spielen wir Völkerball. Nie Fußball. Ich frage mich warum. Es fehlt mir sehr, das Fußballspielen. Zu Hause spiele ich jeden Tag. Außer sonntags. Vielleicht mag der Chef kein Fußball. Ich verpasse die Sportschau, darf kein Fußball schauen. Völkerball spielen ist immerhin besser als Schwimmen. Ich mag nicht schwimmen. Ich schäme mich. Mein Körper ist zittrig und schief und fleckig.


Im Ditmarsia ist das Wasser aus den Duschen kühl und hat einen kräftigen Strahl. Mich fröstelt beim ersten Mal. Tante Bärbel heißt die Betreuerin, die beim Waschen dabei ist. Sie trägt einen blauen Badeanzug und hat lange schwarze Haare, die jetzt nass und strähnig über den Schultern hängen. Sie seift uns drei Jungs, die unter der Gemeinschaftsdusche stehen, ein, sich waschen lässt sie uns selbst. Passt aber auf, dass wir es auch überall tun, auch die Ohren nicht vergessen. Und wenn wir allzu schnell die kühle Brause verlassen wollen, scheucht sie uns wieder zurück. Aber immerhin tut es nicht weh, und ich denke für einen kurzen Moment an Karlshafen, aber nur ganz kurz, dann vergesse ich wieder Karlshafen.
“Zu warm zu duschen ist nichts für Jungs,” sagt Tante Bärbel und lacht, “nich, ihr wollt doch stark werden.” Und sie sagt nicht schtark sondern stark mit st. Ich wundere mich. Die Töne hier an der Nordsee klingen so klar und kühl. Und kühl sind die Hände von Tante Bärbel, die kräftigen Hände mit den geröteten Fingerspitzen, wenn sie mich einseift, über den Rücken, den Hintern, die Beine, den Bauch. Da kitzelt es, ich bin schrecklich kitzlig auf dem Bauch. Und Tante Bärbel kitzelt extra und lacht wieder. Jetzt schäme ich mich auch nicht mehr wie anfangs, als ich mich ausziehen musste vor Tante Bärbel oder Tante Hiltrud oder Tante Jutta. Außer dem Chef sind alle Betreuer Frauen, und obwohl sie alle “Tante” genannt werden, sind sie noch sehr jung. Bis auf die Älteste, die Tante Waltraud. Die hat am meisten zu sagen, hinter dem Chef, sie geht nie mit unter die Duschen.
“Du hast ja richtige Flügel”, sagt Tante Bärbel, “Engelsflügel.”
Ich verstehe nicht, was sie meint. Bis sie es mir zeigt: Die hervorstehenden Schulterknochen an meinem schmalen Rücken.
“Mädchen haben Engelsflügel”, sagt Tante Bärbel, “Jungs nicht. Jungs brauchen kräftige Schulter, um Engel tragen zu können. Damit sie losfliegen können. Aber das schaffen wir bei dir auch noch, wirst du sehen.”
“Hast du auch Engelsflügel?”, frage ich zaghaft.
“Na klar”, antwortet Tante Bärbel und zeigt sie mir und ich darf sie anfassen. Die jetzt feuchten und glatten Flügel der Tante Bärbel. Aber nur kurz, denn an dieser Stelle ist sie kitzlig und sie lacht auf. Dann haben wir Spaß miteinander, beim Kitzeln, wir drei Jungs und Tante Bärbel. Sie zeigt uns noch, wie man sich sorgfältig abtrocknet und die Zähne putzt. Dann in den Schlafanzug und ab ins Bett.


Wir liegen zu sechst im Zimmer, aufgeteilt in Zwei-Etagen-Betten. Ich liege unten, ich kann aus dem Fenster nach draußen sehen, Richtung Dünen. Dahinter muss das Meer sein, aber das ist zu weit, um es zu sehen. Neben mir, im Bett nebenan, unten, liegt der Professor.
Wenn ein Gewitter aufkommt, schlafe ich schlecht. Angespannt liege ich im Bett. Hände krallen die Bettdecke, mein Blick huscht zum Fenster hinaus, wo es grell aufblitzt, schließen kann ich die Augen nicht, dann wird das Blitzen nur schlimmer, ich muss hinsehen, in den Blitz hineinschauen. Mein Herz rast, der Himmel ist schief, die Sterne wackeln, vom Sturm gerüttelt treibt der Mond aus der Bahn, er wird ins Meer stürzen. Dann wird alles vorbei sein.
“Bist du wach?”, fragt eine ängstliche Stimme von nebenan. Der Professor zieht vorsichtig den Kopf aus der Decke. Um ihn beim nächsten Donner wieder zu verbergen.
“Du musst in den Blitz sehen”, sage ich leise, “das hilft. Und dann zählen, bis der Donner kommt. Soviel Kilometer weit weg ist dann das Gewitter.”
Der Professor zählt laut mit. Die Entfernung verringert sich. Unsere Gesichter sind einander zugewandt.
“Und wenn es gleichzeitig blitzt und donnert…” Wir schweigen und schauen uns an. Bis der Professor flüsternd weiterspricht. “Dann trifft uns das Gewitter mittendrin. Dann brechen wir mitten auseinander. Wie wenn Papa das Holz auseinanderschlägt, mit der Axt. Und dann?”
“Und dann fliegen wir zu den Sternen. Dann ist alles schief und wackelt und alles ist neu.” Auch ich flüstere, als tauschten wir ein Geheimnis aus, welches niemand erfahren dürfe. Dann strecken wir die Arme aus und fassen einander an den Händen. Bis das Gewitter vorbei ist, bis wir einschlafen können.
Ich hasse alle Wärter auf der Welt. Jetzt und für alle Zeit. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Neben mir schläft der Professor. Er trägt eine dicke runde Brille. Alle lachen über ihn. Ich will sein Freund sein. Es ist die Nacht, als das Gewitter aufzieht. Die Sterne wackeln und sind schief. Schiefer als mein Rücken und schiefer als mein Blick. Die Wärter sind überall. Sie verkleiden sich. Wir müssen zurückschlagen. Wir, die Kinder von Ditmarsia, müssen zurückschlagen. Der Arzt, der in der Klinik meinen Körper ausstellte, der Chef von Ditmarsia. Ich habe euch nicht vergessen.


Der Chef unternimmt Wanderungen mit uns. Dann hat er sein Akkordeon dabei und stimmt frohe Lieder an. Blau, blau, blau blüht der Enzian. Oder: Schwarz-braun ist die Haselnuss. Wir Jungs müssen laut und deutlich singen. Die Lieder schmettern, wie er sagt. Mit Schmackes, wie er sagt. Wir singen Holladihi. Holladiho. Wir sind fröhlich. Wir müssen fröhlich sein. Wir sind Kinder. Und dann durch die Wälder marschiert. Dicht an dicht. Eine geschlossene Reihe müsst ihr bilden, ruft der Chef. Und immer voran, ohne Rast und Ruh, ruft der Chef. Schwarz-braun ist die Haselnuss, schwarz-braun bin auch ich, bin auch ich. Schwarz-braun muss mein Mädel sein, gerade so wie ich.
Wir Jungs verstehen nicht, was wir singen, aber es lässt uns zucken in Beinen und Armen. Im Takt schreiten wir voran. Leicht geht das, wie von selbst. Vorneweg der Chef. Mit kantigem Gesicht und blauen Augen. Auf, auf, Kameraden, auf, auf – auf, auf. Mit Akkordeon und donnernder Stimme. Wir lagen vor Madagaskar. Und hatten die Pest an Bord. In den Fässern da faulte das Wasser. Und täglich ging einer über Bord. Auf, auf. Voran. Und hinterher die Tante Jutta. Mit blondem dichtem Zopf. Und lächelnd. Hinterher.


Schwarzbrot und Graubrot. Butter. Jagdwurst, Salami, Schnittkäse, Quark. Manchmal Essiggurken. Und Hagebuttentee. Morgens wenigstens Milch. Aber kein Kaffee. Und süße Milchsuppe mittags. Und Milch für den Grießbrei. Und Milch für den Milchreis. Mit Obst. Mit Apfelmus. Milchbrötchen. Aber kein Kaffee. Ich beschwere mich beim Professor darüber.
“Was haben die bloß gegen Kaffee”, schimpfe ich, “ich trinke zu Hause immer Kaffee.”
“Ich auch”. Der Professor versteht: “Da ist bloß der Chef dran schuld, der will das so. Der Chef, der mit seinem Tee.” Der Professor verzieht den Mund.
“Teetrinker!”, verurteile ich und spiele Würgen. Wir lachen. Der Professor nimmt die Brille ab. Das macht er selten (außer beim Schlafen und Duschen natürlich). Es ist, als wolle er mir seine Freundschaft zeigen. Ich staune: wie groß seine Augen sind. Tief liegen sie in den Höhlen. Geschützt vom Glas der Brille. Sein Gesicht ohne Brille hat sich verändert, ist härter und fester geworden. Ich habe eine Tür geöffnet bekommen und durch einen Spalt ein Geheimnis sehen dürfen. Wie stark der Professor in Wahrheit ist. Kein Chef wird ihn kleinkriegen.
Ich habe nach Hause geschrieben und mich darüber beschwert, dass es keinen Kaffee gibt. Genauer gesagt: ich habe es versucht. Der Brief wurde nicht weggeschickt. Wurde eingezogen. Der Chef persönlich hat mir einen neuen diktiert: Mir geht es hier sehr gut. Das Wetter ist schön. Das Essen ist gut. Die Betreuer sind nett. Ich habe jetzt kein Heimweh mehr.
Die Stimme war streng, ich hatte keine Chance. Aber ich vergesse nicht, dass es eine Lüge war. Und erzähle es dem Professor. Ich verstehe das nicht, sage ich ihm, man soll doch nicht lügen, das weiß ich von meinem Papa. Wir versuchen es nochmal. Ich schreibe die Wahrheit, auch, dass der vorige Brief gelogen war, eine aufgezwungene Lüge. Aber die Briefmarke. Wie sollen wir an eine Briefmarke kommen? Wir bekommen kein Geld und sind immer unter Aufsicht. Es ist unmöglich, allein das Haus zu verlassen. Vielleicht nachts, aber wir liegen zu sechst im Zimmer, und den anderen ist nicht zu trauen.
“Wir kleben einfach keine Briefmarke drauf”, schlägt der Professor vor, “deine Eltern müssen dann die Briefmarke zahlen, aber die wissen dann ja, dass es von dir kommt und zahlen das dann bestimmt.” Ich bin einverstanden. Wie klug der Professor ist. Als wir wieder durch den Ort gehen und am Briefkasten vorbeikommen, lenkt er die Tanten ab und ich werfe schnell den Brief ein.


Ich stehe an der Tür zum Waschraum und lausche. Geräusche von spritzendem Wasser und Auflachen. Ich erkenne das Lachen des Professors und das von Tante Bärbel. Ich schleiche mich hinein und gucke durch den Spalt der Zwischentür. Gerade kitzelt Tante Bärbel wieder den eingeseiften Professor unter dem Wasserstrahl. Und der wehrt sich auflachend. Bis Tante Bärbel das Wasser abdreht und ihn fortschickt. “Abtrocknen. Anziehen. Und ab!”, befiehlt sie gespielt streng, dass es hallt im Waschraum. Der Professor gehorcht. Und während ich mich hinter der Tür verstecke, hat er sich sehr schnell fertiggemacht und ist hinausgeschlüpft.
Da geht wieder die Brause. Ich schaue durch den Spalt. Betrachte Tante Bärbel. Sie hat keinen Badeanzug an. Ich zögere kurz, dann ziehe ich den Schlafanzug aus, schlüpfe unbemerkt in den Duschraum und husche unter die Dusche. Für einen Moment erschrickt Tante Bärbel, und ich umschlinge von hinten ihren Bauch. Sie lacht kurz auf, dann drückt sie mich an sich, meinen Kopf an ihre Brust.
„Ich spüre deine Engelsflügel“, sage ich. Und für einen Moment stehen wir so da, umschlungen, während die Wassertropfen über uns hüpfen. Dann lässt sie mich los. Ich will gar nicht loslassen und halte mich an ihr fest. Da stößt sie mich weg, mit Wucht, dass ich ausrutsche und zu Boden falle.
Warum ist sie auf einmal so böse mit mir? Was habe ich Falsches getan? Mir schießen Tränen ins Gesicht, während noch immer das Wasser über mich läuft und die Tränen hinwegspült.
Tante Bärbel dreht das Wasser ab. Hockt sich zu mir, und fragt mich, ob ich mir weh getan habe. Ich gebe keine Antwort, drehe den Kopf weg, als sie mich trösten will, gucke auf den nassen Kachelboden.
“Bist doch noch so klein”, sagt Tante Bärbel, ganz ruhig geworden. Sie wickelt sich in ein großes Handtuch und reicht mir eins. Ich nehme es mechanisch und trockne mich ab, wie ich es gelernt habe.
Plötzlich steht der Chef im Bad. Ich sehe als erstes seine nackten Füße in dunkelblauen Badelatschen, dann die ganze kräftige, große Gestalt in hellblauer Trainingshose mit weißen Streifen. Schweigend sieht er uns an, dann macht er eine kleine Bewegung mit der Hand und sagt mit freundlicher Stimme zu mir: „So jetzt aber schnell ins Bett. Auf, Auf.“
Ich gehe. Aber nicht gleich ins Bett, sondern bleibe im Badvorraum stehen und beobachtete durch den Türspalt den Chef und die Tante Bärbel.
Der Chef schaut Tante Bärbel von oben nach unten an, ich sehe ein Grinsen auf seinem Gesicht. Tante Bärbel hat den Kopf gesenkt und guckt nach unten. Es ist still. Aus der abgedrehten Dusche fällt ein Wassertropfen herab, dann noch einer, und noch einer. Der Chef geht einen Schritt auf Tante Bärbel zu. Sie bewegt sich nicht, ich sehe die Gänsehaut bei Tante Bärbel, obwohl es doch ganz warm ist. Da kriege ich Angst, drehe den Kopf weg, husche lautlos davon, verkrieche mich ganz schnell unter der Bettdecke und schließe die Augen, ohne einschlafen zu können.

Margrit Goodhand - 2020-03-02

Hallo Ihr Lieben, ich musste mit 6 Jahren nach St. Peter Ording. Eine meiner klaren Erinnerungen ist, dass ich ganz dringend auf die Toilette musste, was nach "Licht aus" verboten war. Ich weiss nicht ob ich trotzdem gegangen bin oder ins Bett gemacht habe. Ich glaube ich bin trotz der Warnung eines groesseres Maedchens gegangen. Trotz Empfindungen von starken Durst- und Hungergefuehlen, habe mich vor dem Essen geekelt und musste sitzenbleiben bis der Teller gelehrt war. Ich erinnere mich an Fruchtsuppen, Haferschleim, und einmal Gulasch mit hartem Fleisch. Einmal wurde ganz schnell ein Einzelfoto bei den Duenen nahe am Haus von mir gemacht--mein Gesicht ist eine kleine Maske mit gezwungenes Laecheln und traurige, unterschattende Augen. Man konnte mich fuer ein vorhergehendes Gruppenfoto nicht finden. Ich wurde gefragt wo ich war und hatte selbst keine Ahnung. Wir mussten nackt im Sackhuepfen zum Bestrahlen. An das Huepfen konnte ich mich erinnern, aber nicht die Bestrahlungen. Beim Postkartenschreiben hatte ich grosse Schwierigkeiten, da ich ja nur sechs Jahre alt war. Ein groesseres Maedchen hat versucht mir zu helfen und gab als ADDResse St. Peter Ording an... ich hab die Karte noch, die in einem Umschlag zu meinen Eltern ging. Als einer der kleinsten Kinder, fuehlte ich mich oft in Gruppenbewegungen rum- oder vowaerts gestossen. Ich kann mich nur an einen Strandbesuch erinnern, mit viel Gegenwind und Schwierigkeiten im Sand vorwaerts zu laufen. In der "Schule" habe ich nichts verstanden. I wundere mich was ich eigentlich noch verdraengt habe um zu ueberleben. Mein Name damals war Margrit Benirschke. Mit 14 haben meine Eltern mich in den Heiligenhof in Bad Kissingen gesteckt wo ich fuer ein Jahr "Haushaltspraktikantin" von Nazisymphasizers fuer Haus- Dienst- und Feldarbeit ausgenutzt wurde. Meine Kindheit und Jugend waren versaut in Deutschland und die Angst vor meiner Zukunft in Deutschland
war groesser als die Angst vor dem Unbekannten. Hier studierte ich Sozialarbeit und bin lizenziert. Gibt es Information ueber andere Verschickungskinder in den US?

Gerhard Borsdorf - 2020-04-07

Gerhard


Ich bin ca.1962 als 8jähriger nach Donaueschingen "verschickt" worden, wohl weil unsere Familie aus der DDR geflüchtet war und mein Vater ein noch geringes Einkommen hatte und daher diese Möglichkeit für sein Kind geboten bekam. Dass wir in dem Heim in einem großen Baderaum als Gruppe (nur Jungs) nackt duschen mussten, war mir unangenehm. Dass dann eine der "Tanten", eine relativ junge Frau, einen Fotoapparat dazu mitnahm, fand ich gemein. Wir haben versucht, uns möglichst weit von ihr zu „verstecken“ (so weit das möglich war). Die verordneten Schlammbäder haben mir keinen Spaß gemacht. Vor dem Wiegen wurden wir animiert, beim Frühstück noch möglichst viel von der Kakaosuppe zu essen, damit mehr auf die Waage kam (was für ein Unsinn). Einer der Jungs - weiß seinen Namen Adam noch - hat sich nach dem 5.Teller erbrochen. Naja, gegenüber den anderen Berichte noch harmlos. Und es gab auch schöne Momente, wie ein Sommerfest und die Abendrunde mit "Tante" Gertrud (aus Bottrop, sie hätte ich gern mal ausfindig gemacht), wo wir "Der Mond ist aufgegangen" gesungen haben. Insgesamt hat der Aufenthalt aber einen so schlechten Nachgeschmack bei mir hinterlassen, dass ich mich sehr gewehrt habe, als mein Vater mich ein Jahr später wieder "verschicken" wollte, und war sehr erleichtert, als er auf meinen Protest hin darauf verzichtet hat.

Roland - 2020-05-28

Ich bin 1958 geboren und mit 5 Jahren, kurz vor der Einschulung, für 6 Wochen nach Berchtesgaden geschickt worden, weil ich angeblich zu dünn war. Diese 6 Wochen haben mich so sehr traumatisiert, dass ich mein halbes Leben damit verbracht habe, alles aufzuarbeiten und zu verarbeiten. Dies hat mich so viel Energie und Zeit und Geld und Lebeńsfreude gekostet, dass ich jetzt, wo das Thema sogar in der Tagesschau war, eine Rente fordere. (Die Details habe ich auf unzähligen Seiten niedergeschrieben in den Zeiten meiner Aufarbeitung als Erwachsener). Genau wie andere Folteropfer, die z.B. in DDR Gefängnissen misshandelt wurden, sie auch bekommen. Diese Zustände müssen, egal wo, gestoppt und beendet werden. Und für alle Geschädigten muss eine Wiedergutmachung gezahlt werden vom Staat, der diese Heime ja schließlich erlaubt und gefördert hat. Dabei helfe ich gerne, mit den bescheidenen Mitteln die mir zur Verfügung stehen, mit.

Uta Zimmer - 2020-07-29

Ich war vom 04.04.70 bis 13.05.70, 5 1/2- jährig in BAD FRANKENHAUSEN (DDR) und ein reichliches Jahr später in BINZ (Ostsee) jeweils 6 Wochen zur "Kur". Vieles von dem, was sich hier lesen lässt, habe ich auch erlebt und sehe mich auch heute immer mal wieder damit konfrontiert. In Form von Ängsten, Unsicherheiten, Stimmungseinbrüchen. Eine Erinnerung aus Bad Frankenhausen 70 schmerzt mich ganz besonders und vielleicht finde ich auf diesem Weg das beteiligte Mädchen. Während des Mittagsschlafes, bei dem ich keinen Schlaf fand, ebenso, wie meine Bettnachbarin, legten wir stumm unsere Fußsohlen aneinander. So entstand eine Brücke zwischen unseren Betten (und unserem (meinem) Gefühl des Alleinseins. Die Erzieherin entdeckte uns und zur Strafe nahm sie uns unsere Kuscheltiere - mit der Drohung diese zu verbrennen - weg. Nun trug ich die Schuld für das, was diesem für mich lebendigem Wesen, meinen Begleiter widerfuhr. Bis zur Heimkunft, wo sich der Teddy am Koffer fand. Die Erinnerung macht mich sehr wütend.

Maik Weidlich - 2020-08-04

Hallo mein Name ist Maik. Ich wurde als ich fünf Jahre alt war und die DDR ihre letzten Züge ausgehaucht hatte, noch in ein "Kurheim" namens Heinrichshorst in Ragötz in Sachsen-Anhalt geschickt ( höchstwahrscheinlich ).
Dort geschah mit mir genau das gleiche, was ich jetzt schon hundertfach gelesen habe.
Ich hatte schreckliches Heimweh und machte ins Bett. Darauf hin wurde ich von den Betreuerinnen dort verhauen.
Diese Zeit hat mich traumatisiert. Unter den Folgen leide ich bis heute.

Monika - 2020-08-10

Auch ich bin ein Kind der DDR, geboren 1950, und stamme aus einer Kleinstadt ca. 10 km südöstlich von Dessau. 1961 wurde ich in ein Kinderkurheim verschickt. Es ging vom Haupbahnhof Halle/Saale aus nach Wiek auf Rügen in das Kinderkurheim "Frohe Zukunft". Vieles ist bis heute in Vergessenheit geraten, aber eine Sache hat mich mein ganzes Leben lang begleitet.
Einmal wöchentlich wurden wir 11- jährigen Mädchen in einen Waschraum geführt, wo wir uns entkleiden mussten. Anschließend wurden wir mittels Schlauch mit kaltem Wasser abgespritzt. Ich hatte Angst davor und verzog mich in die hinteren Reihen. Als die Erzieherin das bemerkte, holte sie mich vor und ich erhielt eine Gratisdusche, sodass ich keine Luft mehr bekam und der harte Wasserstrahl meiner Haut weh tat. Das wiederholte sich in den folgenden Wochen. Bis heute ist es schlimm für mich, wenn mir beim Duschen versehentlich Wasser über das Gesicht läuft und Tauchen im Schwimmbad ist ganz unmöglich, da bekomme ich Panik.

Sofia Jeltsch - 2020-08-10

Hallo zusammen,
Meine Schwester und ich,waren in den 80ern in einer sogenannten Kur auf Borkum. Wir waren kurz zuvor mit unseren Eltern aus der DDR vertrieben worden, ich litt lange an einer Boruliose. Dort sollten wir uns erholen. Wir beide leiden heute noch unter den traumatischen Erlebnissen dort. Es ist unfassbar, wie Erwachsene Menschen, kranke und belastete Kinder absichtlich erniedrigt, verängstigt und alleine gelassen haben. Ich muss heute mit fast 40 immer noch weinen, wenn ich daran denke. Ich wünsche euch allen, alles liebe,
SOFIA

Sven Gögel - 2020-08-10

Hallo, ich war Zu DDR Zeiten mehrfach an der Ostsee ich leide heute immer noch an den Folgen bin jetzt 42 mehr kann ich nicht sagen weil ich sonst wieder agressiv werde .

Petra Klotz - 2020-08-15

Hallo Andrea,
Was damals gelaufen ist, dass viele Nationalsozialisten auf Posten gesetzt wurden, um die junge Republik ans Laufen zu bringen war mir bekannt.
Aber Kurhäuser für Kinder zu leiten ist wohl nicht "Systemrelevant" gewesen. Alte Seilschaften gepaart mit GelDDRuckmaschine und das mit dem Wissen der Kirchen und Gewerkschaften, ist kriminell und gehört aufgearbeitet.
Danke, dass du mir geantwortet hast

Manuela - 2020-08-16

1983


Ich habe meine Vater noch nicht oft mit Tränen in den Augen gesehen. Als er mir vor Kurzem das erste Mal etwas zu Garz erzählte, und zwar nur diesen einen Satz: “Die Manuela war ein anderes Kind als sie zurück kam” hatte er Tränen in den Augen. Da begann mein “In mich Hinein hören” und nachbohren.
Blass, abgemagert, eingeschüchtert.
So haben mich meine Eltern nach 6 Wochen Kinderkur wegen Bronchitis in der DDR, genauer gesagt in Garz, am Busbahnhof Zwickau in Empfang genommen.
Das Abendbrot an diesem Tag zog ich ewig hin. Ich habe gegessen und gegessen und gegessen. Das einzige was ich erzählte, oder woran sich meine Eltern erinnern ist, dass “böse Kinder in den Keller zu den Mäusen” mussten. Und dass wir unter die kalte Dusche gestellt wurden. 6 Wochen ohne Kontakt zu meiner Familie. Besuch war nicht erlaubt. Hinbringen und abholen auch nicht. Mit 4 Jahren. Im Gepäck hatte ich 6 Fotos vom Strand. Postkartenidylle. In unseren Gesichtern kein Lächeln. Im selben Jahr war ich im Sommerurlaub in Markgrafenheide an der Ostsee mit meinen Eltern und meiner Schwester. Auf jedem Bild lache ich.
Fragmente der Erinnerung an Garz:
- Englischer Garten mit mehreren Gebäuden, langer Weg, wir sind in einer Gruppe Kinder unterwegs
- Medizinischer Saal mit Ihnalationsgeräten, da war ich mehrmals
- dunkles Zimmer mit Doppelstockbetten. Horbynek & Speybel Bild an der Tür. Eventuall gehört das zu meiner Erinnerung an das Ferienlager Lauscha.
Ich habe sonst keine Erinnerung. Es bleibt nur ein verstörendes Gefühl. Mulmig. Ich sei nach kurzer Zeit wieder wie vorher gewesen. Zur Kur musste ich nie wieder.
Garz war meine zweite traumatische Kindheitserfahrung.
Mit 1,5-2Jahren war ich vermutlich mit Scharlach im HBK Zwickau. Für 2-3Wochen. Meine Eltern durften mich 1 Mal besuchen. Ich krallte mich am ein meiner Mutti fest. Ich kam abgemagert wieder. Und in der Entwicklung zurück geschritten, da ich vor dem Krankenhausaufenthalt bereits trocken war und danach wieder Windeln brauchte.
Im Ferienlager Lauscha war ich schon 9-10 Jahre alt und habe natürlich mehr Erinnerungen an diese Zeit und berwiegend Positive. Eine Szene ist mir ganz klar vor Augen. Wir spazieren bergab zu einer Mülldeponie. Jeder sucht sich Schätze. Die er mit heim nehmen darf. Ich habe eine Porzellantasse mit schönen Verzierungen ausgesucht. Ein anderes Kind sagt etwas weil die Tasse einen Sprung hat. Mir ist es egal. Ich freue mich darauf zuhause stolz meinen Eltern diesen Fund zu zeigen. Dann müssen wir alle anstehen und einer Betreuerin unsere Mitbringsel zeigen. Sie macht mich fertig, weil ich keine Glasaugen gesammelt habe. Das kam völlig unerwartet. Heute ist mir klar, dass wir Ferienlagerkinder dazu missbraucht wurden, die Schutthalde nach Verwertbarem zu durchsuchen. Zuhause glaubt mir das niemand.
Dieselbe Kinderärztin, die mch in die Kur verschickt hat, verhinderte dass ich ein Opfer des DDR Dopings wurde. Trotz Bronchitis, die mit den Jahren verschwand, waren meine sportlichen Leistungen so gut, dass ich in die Sportschule gedurft hätte. Damals war ich sehr enttäuscht über die verwehrte Chance. Heute bin ich froh, dass das System mir dort nicht noch mehr schaden konnte und ich eine normale Kindheit in einer 08/15 Dorfschule erleben konnte.


Wer war auch zur Asthma-Kur in Garz?

Andrea Telle Wiryawan - 2020-08-18

Hallo an Alle ?
Kennt jemand vielleicht auch das Kinderkurheim „Hilde Coppi“ in Schleusingen ehem. DDR und das Heim in Kartzow Stadtteil Potzdam bei Berlin?
LG Andi

C.L - 2020-09-03

Hallo zusammen.
Eigentlich habe ich das Gefühl hier nicht hinzupassen, denn mein Vorfall ist aus dem Jahr 2000/1/2, ich weiß es nicht mehr ganz genau, noch weiß ich den Ort, außer das die Kinderkur im alten DDR Bereich lag und der Ort auch nach euren Erzählungen genauso agiert hat. Deshalb schreibe ich das alles mal zu. Egal wohin ich sehe und schaue, sind immer nur Vorfälle aus 70/80/90er Jahre. Sind keine neueren Fälle bekannt? Wir, mein Bruder und ich, kamen aus einer schweren Familiengeschichte und hatten von kleinauf mit dem Jugendamt zutun. Meine Mutter alleinerziehend und überfordert durch die Kinder sollte eine Entlastung haben und wir wurden für 6 Wochen in eine besagte Kinderkur gesteckt. Ich war so zwischen 6-8 Jahre, durch meine PTBS ist es schwer die W-Fragen abzurufen.
 
Dort wurden wir geschlagen. Ich erinnere mich, dass mein Bruder sehr verhaltensauffällig war und einst eine Erzieherin biss, diese hat ihn zurückgebissen vor meinen Augen. Mehr solcher Vorfälle. Ich mussten auch ekeliges Essen aufessen, ich würde sogar auf Diät gestellt. Es gab Gruppenduschen, die Zimmer waren kalt und leer mit Eisengestelle aus Betten jeweils 4-6 oder mehr Kinder in einem Raum. Wir wurden medizinisch vernachlässigt, denn ich hatte einen Ausschlag am Hals, der komplett aufgekratzt war und sehr sehr weh tat. Eine Karte, die wir meiner Mutter schreiben sollten, wurde überprüft, anrufen durften wir nicht. Unser Taschengeld durfte ich zwar ausgeben, aber die Sachen habe ich fast nie nehmen dürfen [Knabbersachen] oder wurden eingezogen und habe ich nie wieder gesehen. Das Schlimmste jedoch war der sexuelle Missbrauch/Übergriff. Ich erinnere mich, dass ich aus dem Zimmer gerufen wurde, nachdem ich angeblich etwas falsch gemacht habe. Dann wurde ich durch dunkle Gänge geführt und gegen meinen Willen in einem Raum berührt. Soweit meiner Erinnerungen, weiter will ich darauf auch nicht eingehen. Der Täter war glaube ich ein alter Mann - zumindest hatte er weiße Haare und sah alt aus für mich [ich war ja eine Grundschülerin]. Er war dort Erzieher, meine ich. Selbstverständlich bin ich nicht zu 100-% sicher, was alles passiert ist, da ich so jung war und es so unglaublich grausam war.
 
Ich versuche mehr Fakten herauszufinden. Meine Mutter sagte mal, die Caritas wäre damals zuständig gewesen. Und das Jugendamt. Mama hat uns angesehen, dass es uns dort extrem schlecht ging, damals hat sie sich beschwert und man sagte zu ihr, dass wir die letzten Kinder dort sind und es eh zumacht. Wie gesagt, ich versuche den Ort rauszufinden, zumal ich schaue, ob ich noch Anzeige und Opferentschädigung bekommen kann.

Wolfgang Buckow - 2020-09-17

Liebe Freunde,


seit meinem 6. Lebensjahr habe ich von 1953 (Wyk auf Föhr) bis 1964
(Langeoog) an diversen Heim-Verschickungen teilgenommen (7 x +2
Ferienfamilien in der BRD und 7 x Ferienlager der DDR bis 1961), verfüge
also über einen reichen Erfahrungschatz.
Während ich von meiner
Frau oder andern Bekannten eher ablehnende Berichte hörte, kann ich die
negativen Erfahrungen persönlich nicht bestätigen. Ich habe die
Möglichkeiten immer gern genutzt und da in Berlin (West) die
Verschickung über das Rathaus (Jugendamt) nur alle 2 Jahre möglich war,
bin ich in der Zwischenzeit auch als “friedliebendes westberliner
Arbeiterkind" in die DDR eingeladen worden. Vielleicht lag es an meinem sonnigen Gemüt, dass ich nur gute Erinnerungen zurückbehalten habe und oft beschriebener Horror bei mir nicht vorkam. Als kleinem Jungen im Kinderheim auf Föhr wendete sich das Heimweh oder die fiebrige Erkältung von Bettnachbarn noch zum Guten, denn ich durfte wegen deren Bettruhe ihre Gummistiefel für Wanderungen durch Schee und Matsch anziehen. (Nur eine Art Müsli aus geriebenen Mohrrüben mit Haferflocken (?) ist mit unangenehm in Erinnerung). Selbst DDR-Veranstaltungen mit morgendlichem Fahnenappell nahm ich mit Humor, mich interessierten vielmehr die hübchen Mädchen bei ersten sexullen Annäherungsversuchen und das überall reichliche Essen.
Familienreisen gab es zu dieser Zeit bei uns nicht.
Ich grüße alle recht herzlich und bin für Nachfragen gern auskunftsbereit.

Annett Schoppnies - 2023-11-24
Verschickungsheim: DDR-Kindererholungsheim Bad Brambach
Zeitraum-Jahr: 1980
Kontakt: Keine Angaben

Kam kurz vor meinem 9. Geburtstag 1980 für mehrere Wochen ins Kindererholungsheim Bad Brambach. Ich war insofern traumatisiert, weil meine Mutter mich wegen ihrer eigenen Überforderung dahin geschickt hatte. Ohne Gründe oder vorherige Ansagen. Ich fühlte mich in diesen Wochen dort sehr einsam und verlassen. Es kam nur einmal ein Paket zu meinem Geburtstag. Mehr nicht. Negativ in Erinnerung war das Essen. Ich wurde mit Bestrafung und Zwang genötigt, Dinge zu essen, die ich nicht mochte. Zum Beispiel Fettstücke in der Suppe, wovon mir immer schlecht wurde. Ich musste stundenlang allein am Tisch sitzen, bis ich dieses Fett gegessen hatte Willen berechen. Das war schlimm. Alles war sehr streng und disziplinär. Nur ein Betreuer war wirklich toll. Er ging mit uns stundenlang auf Bergkristallsuche bei den Steinminen in der Umgebung. Das hatte was von Freiheit und Leichtigkeit. Zur Erinnerung an diesen Menschen habe ich heute noch diese Bergkristalle.

Kerstin - 2023-04-03
Verschickungsheim: Kinderkurheim Dr. Arndts Rottleberode/Harz, ehemalige DDR
Zeitraum-Jahr: November/Dezember 1976
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Hallo, ich heiße Kerstin und bin ein Verschickungskind. Der Aufenthalt im Kinderkurheim in Rottleberode muss November bis Dezember (kurz vor Weihnachten) 1976, ich war damals 9 Jahre alt. Die Kur dauerte unendlich lange 6 Wochen. Ich wurde auf Empfehlung des Kinderarztes verschickt, sie sollte gegen meine ständigen Atemwegserkrankungen helfen.
Meine Eltern brachten mich am Tag der Abreise zum Hauptbahnhof meiner Heimatstadt Neuruppin. Ich kann mich erinnern, dass noch ein weiteres Kind - ein Junge im ähnlichen Alter - mit uns dort wartete. Wir wurden mit einem Bus von dort abgeholt.
An die Busfahrt kann ich mich nicht wirklich erinnern. Ich weiß nur, dass unterwegs immer wieder Kinder zustiegen und ich irgendwann etwas von Halle gelesen oder gehört habe. Und Halle war damals so unsagbar weit von zu Hause weg.
Im Kurheim angekommen erinnere ich mich an so etwas wie eine Diele, von der eine dunkle Holztreppe ins obere Geschoss führte. An diese Diele schloss sich ein Flur an, links ging es in die Speisesäle, rechts ging es zu den Toiletten. Hinter den Toiletten weiter auf dem Flur auf der rechten Seite waren große Einbauschränke, in meiner Erinnerung alles aus dunklem Holz. Dahinter wiederum befand sich die Tür zum Zimmer der Heimleiterin.
In die Wandschränke kamen unsere Sachen. Nachdem die Koffer ausgepackt waren, wurden diese auf den Dachboden gebracht. Mein Kuscheltier - ein kleines schwar-weißes Teufelchen - durfte ich nicht mit in mein Bett nehmen, der landete in besagtem Koffer und verbrachte die ganzen 6 Wochen auf dem Dachboden. Das zerriss mir fast das Herz, das Einzige was ich von zu Hause mitgebracht hatte, an dem ich mich als Kind hätte festhalten können, was mir Trost hätte geben können allein in der Fremde, wurde mir genommen.
Die beiden Schlafsäle für die Mädchen waren durch einen breiten gebogenen Durchgang in der Wand verbunden. In dem linken Saal schliefen die "größeren" Mädchen, in dem rechten die kleinen und ganz kleinen. Ich gehörte zu den Großen. Es standen ca 10 oder 12 Betten in jedem der Räume, genau weiß ich es nicht mehr. Mir wurde das Bett hinten links an der Wand zugewiesen. Wir mussten unsere Betten morgens nach dem Aufstehen selbst machen. Da ich das Pech hatte, nicht um mein Bett herumlaufen zu können, um das Laken straff zu ziehen wurde mein Bett immer wieder eingerissen und ich musste erneut anfangen. Und es wurde dabei ja ständig geschimpft. Die Sachen kamen nach dem Auskleiden auf so einen rollbaren Garderobenwagen. Der wurde dann nachts rausgeschoben auf den Flur.
Nachts durfte man nicht zur Toilette gehen. Man durfte eigentlich sowieso nicht alleine zur Toilette, nur in der Gemeinschaft, wenn Toilettenzeit ran war, nach den Mahlzeiten, unter Aufsicht der Erzieherinnen. Einigen Kindern passierte es nachts, dass sie ins Bett machten, auch von den Großen. Diese Kinder wurden morgens nach dem Aufstehen vor allen anderen bloßgestellt. Sie kamen regelrecht an den Pranger und wurden beschimpft. Das Bettlaken wurde auf den Garderobenwagen zur Schau aufgehängt und es gab ein riesen Theater. Obwohl mir selbst das nicht passiert ist, fand ich diesen Zustand unerträglich.
Ich erinnere mich an unermessliches Heimweh. Niemand war da zum Trösten. Man wurde beschimpft, wenn man weinte. Die Briefe und Karten, die wir nach Hause schrieben wurden zensiert. Briefumschläge durften nicht verschlossen werden, sie gingen vor dem Versenden zur Heimleiterin und wurden dort gelesen. Wehe es stand etwas von Heimweh drinnen. Ich habe einmal das Kuvert zu geklebt, weil ich geschrieben hatte, dass ich abgeholt werden will. Der Brief wurde mir postwendend auf den Tisch geknallt, es gab ein riesen Theater und ich musste einen neuen Brief schreiben, natürlich nur mit angenehmen Äußerungen, die mir quasi diktiert wurden.
Meine Mutter kann sich noch an eine Zeile eines meiner Briefe erinnern:"Mein Teufelchen schläft im Koffer." Das zu lesen war für sie furchtbar, sie hat die 6 Wochen hier zu Hause genauso gelitten wie ich dort.
Der Speisesaal war in meinen Erinnerungen auch mit diesem dunklen Holz an den Wänden verkleidet. An das eigentliche Essen kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß noch, dass im Speisesaal ein Eimer für Essensreste stand. Da durfte man aber keine Essensreste rein machen, man musste immer alles aufessen und wenn es einem nicht schmeckte, saß man halt so lange, bis man es sich reingequält hatte. Seither esse ich Käse, den ich vorher nicht gegessen habe und Milchsuppe mit Haferflocken.
Oben unter dem Dach befand sich ein kleiner Raum mit ganz alten Schulbänken, dort hatten wir glaube ich ein oder zwei Mal die Woche 2 Stunden Schulunterricht in Deutsch und Mathe. Ich saß dort unter einer Dachschräge.
Ich glaube mich erinnern zu können, dass der eigentliche Waschraum im Keller war. Waschbecken an Waschbecken. Und das wir mit kaltem Wasser aus dem Schlauch abgespritzt wurden.
Nach dem Mittagessen hielten wir Mittagsruhe. Hinter dem Schlafsaal der kleinen Mädchen war noch ein Raum mit vielen Fenstern in einen ans Gebäude angebauten Turm. Dort mussten wir zugedeckt auf Liegen im Kreis liegen und Ruhe halten, die Fenster wurden geöffnet. Auch schloss sich an den Schlafsaal der Kleinen noch ein Krankenzimmer an. Ich glaube es standen 4 Betten drin. Auch ich wurde krank mit Fieber und musste/durfte dort einige Tage mit noch einem oder zwei anderen Mädchen verbringen. Das war im Gegensatz zu den "normalen " Tagen eine richtige Erholung. Man wurde dort ziemlich in Ruhe gelassen.
Ich kann mich an 2 Erzieherinnen erinnern, die nett waren. Eine junge Frau und eine ältere (damals wahrscheinlich nicht mal annähernd so alt wie ich heute). Die junge ging aber nach den ersten Wochen. In meiner Erinnerung hatte sie da geheiratet und Urlaub. Mit der älteren durften wir während der Mittagsruhe auch mal singen. Sie war auch mit uns spazieren, aber da sind die Erinnerungen ziemlich wage. Ich weiß auch, dass ich inhalieren musste, aber auch hier fehlen die Details.
Einmal bekam ich dort Besuch von einer jungen Frau aus dem Ort, die wir im Sommer desselben Jahres auf einem Zeltplatz in der Nähe unseres Wohnortes kennengelernt hatten. Sie hörte Gespräche über die bevorstehende Kur und sie versprach, mich zu besuchen. Und sie kam wirklich, eine wildfremde Frau. Und sie brachte mir eine Tafel Katzenzungen mit. Diese musste ich sofort abgeben. Ich hätte sie so gern mit den anderen Mädchen geteilt. Nun durfte ich jeden Abend nach dem Abendessen zur Heimleiterin. Diese hatte schon die Tafel aus dem großen dunklen Wandschrank aus meinem Fach geholt. Ich bekam eine Schokokatzenzunge und musste sie gleich dort essen. Danach wanderte die Schokolade wieder in den Wandschrank und wurde weggeschlossen. So passierte es auch mit der Süßigkeit, die mir meine Mutter in einem Paket schickte. Da ich sehr abgenommen hatte, bat ich in einem Brief um Hosenträger, die mir meine Mutter dann auch schickte. Und natürlich war dort auch eine Leckerei im Paket.
Die Heimleiterin war eine kleine hagere ältere Frau mit zu einem Knoten am Hinterkopf gebundenem grauen Haar. In ihrem Zimmer stand so ein Arztschrank aus Metall mit Glasscheiben. Ich kann mich an nichts weiter in diesem Raum erinnern. Aber in diesem Schrank lagen mehrere Spritzen in verschiedenen Größen. Welches Kind hat nicht Angst vor Spritzen. Mir erschienen sie damals überdimensional groß, wahrscheinlich wiederspiegelte das eher meine Angst, die ich jedes Mal hatte, wenn ich zu dieser unfreundlichen Frau musste.
Auch erinnere ich mich daran, dass ich in der Nähe immer Geräusche eines Zuges gehört habe. Wahrscheinlich verband ich mit dem Geräusch ein Stück Heimat, weil auch wir an einer Bahnlinie wohnten.
Kurz vor Weihnachten sollte es dann wieder Richtung Heimat gehen. Ich weiß noch, dass ich in dieser Diele mit meinem Koffer wartete, wie einige andere Kinder auch. Die ersten waren schon abgeholt worden. Dann kam ein Mann zur Tür herein, der Busfahrer, meine Rettung. Und ich werde es in meinem ganzen Leben nicht vergessen, was dann passierte. Er schaute mich an und fragte:"Na Mädchen, wo willst du denn hin? " ich antwortete: "Nach Neuruppin." Daraufhin sagte er: "Neuruppin, das steht gar nicht auf meinem Plan." Ich glaube jeder kann sich vorstellen, was da in mir vorging. Ich dachte, ich komme nie mehr nach Hause. Ich muss jetzt für immer in diesem Haus bleiben. Telefone gab es nicht, Briefe wurden ja kontrolliert. Wie sollten meine Eltern denn wissen wo ich bin. Der Typ hatte natürlich nur geflunkert und war sich der Wirkung seiner Worte in keinster Weise bewusst, hoffe ich. Aber für mich brach in diesem Moment eine Welt zusammen. Der letzte Strohhalm flog gerade davon und ich konnte ihn nicht festhalten. Ich durfte dann doch mit in den Bus steigen und wurde auch in meine Heimatstadt gebracht, wo ich schon sehnsüchtig erwartet wurde. Laut Aussage meiner Mutter habe ich auch ziemlich schnell angefangen zu erzählen, wie es uns Kindern dort ergangen ist.
Es ist schon komisch, woran man sich alles erinnern kann, genauso verwundert es mich aber, dass ich viele Sachen einfach auch nicht mehr weiß oder ich habe sie verdrängt.
Ich kann mich nicht mehr an den Ort selbst erinnern, nicht wo der Junge war, mit dem ich am Bahnhof in Neuruppin stand, ob er wieder mit zurück fuhr. Ich weiß auch nicht mehr, ob die Jungs in der Etage über uns ihre Schlafräume hatten, ob wir etwas mit den Jungs zusammen unternommen haben oder nicht, ob wir spielen durften. Keine Ahnung, das ist alles weg.
Nur an einen Namen glaube ich mich zu erinnern, das Mädchen neben mir im Schlafsaal hieß wohl Heike.
Ich lese nun schon seit längerer Zeit die Berichte im Forum. Es gibt hier so viele, die wesentlich schlimmere Erlebnisse hatten. Und trotzdem lässt mich das alles auch nach über 45 Jahren einfach nicht los. Ich hatte es einige Jahre verdrängt und nur selten daran gedacht, aber je älter ich wurde, um so mehr kam vieles wieder zum Vorschein. Und dann bin ich durch Zufall auf den Beitrag von Anja Röhl im Fernsehen gestoßen. Ich habe immer gedacht, dass ich das alles vielleicht alleine nur so empfunden habe und das Erlebte überbewerte. Man konnte ja mit niemandem seine Erfahrungen austauschen. Aber nun weiß ich, dass es vielen, sehr vielen ähnlich ging wie mir. Das hätte ich nicht für möglich gehalten.
Meine Eltern haben mich danach nie mehr alleine weggeschickt, wenn ich es nicht wollte. Ich war z.B. nie im Ferienlager.
Lange habe ich mir vorgenommen, den Ort wieder zu besuchen und mich der Vergangenheit zu stellen.
Am 04.03.2023 habe ich mich mit meiner 83jährigen Mutter und meinem Bruder auf den Weg nach Rottleberode gemacht. Vorab hatte ich mit der Touristeninformation der nächst größeren Stadt telefoniert. Dort bekam ich die Auskunft, dass das Gebäude noch existiert, es wurde zwischenzeitlich zu einem Mehrfamilienhaus umgebaut.
Kurz vor der Ankunft dort hatte ich ganz schön weiche Knie.und als wir in die Straße bogen habe ich, obwohl einiges verändert wurde, das Haus sofort erkannt und die Emotionen stiegen sofort hoch. Ich begann zu zittern und zu weinen, als ich aus dem Auto stieg. Es war ein sehr emotionaler Moment. Leider hatte ich keine Möglichkeit in das Haus zu kommen. Es war viel kleiner, als ich es in Erinnerung hatte. Am Haus selbst ist eine Tagel angebracht, auf der das Kurhaus abgebildet ist, wie es ursprünglich mal aussah, mit der Inschrift "Dr. Andts Kinderkurheim seit 1925". Mit meinen Erinnerungen an die Eisenbahngeräusche lag ich nicht falsch. Hinter dem Haus ist noch immer der Bahnhof des Ortes. Parallel zur Straße vor dem Kurhaus zieht ein Flüsschen seine Bahnen. An den kann ich mich überhaupt nicht erinnern. Obwohl wir sicher über die kleine Brücke gegangen sind, bei den Spaziergängen. Auch der Ort an sich war mir komplett fremd und unbekannt. Gut es wurde viel gebaut, der Ort hat sich sicher verändert. Aber ich habe so gar keine Erinnerungen, wo wir evtl. lang gewandert sind oder dergleichen.
Ich finde es schon krass, dass so viele Erinnerungen fehlen, da man ja mit 9 Jahren nicht mehr so klein war.
Vielleicht findet sich ja jemand, der auch in Rottleberode war. Ich würde gern in Erfahrungsaustausch gehen.

Sandra - 2022-04-23
Verschickungsheim: DDR / Bad Kösen
Zeitraum-Jahr: 1981
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich bin überrascht, dass es diese Seite gibt und über das Thema berichtet wird. Ich wurde mit 6 (1981) vor Beginn der Schule aufgrund von Bronchitis und ähnlichen chronischen Erkrankungen der Luftwege für 5 oder 6 Wochen zur Kur nach Bad Kösen geschickt. Ich kann mich nur an wenige Dinge erinnern. Im Schlafsaal lagen an die 10 Kinder. Während der gesamten Zeit durfte ich nur ein oder zweimal mit meinen Eltern telefonieren. Wenn ich heute daran denke, drückt es mir noch immer die Tränen und den Schmerz in die Augen. Zurückgekommen bin ich mit dem Zug - Ausschlag im Gesicht und in der Seele zerstört.
Gleich ein Jahr später in der 1. Klasse wurde mir aufgrund von Diphterie ein 5 wöchiger Krankenhausaufenthalt in Senftenberg verordnet - kein Besuch im Zimmer. Das Bild werde ich nicht vergessen - meine Eltern und meine Oma standen draussen vor dem Zaun und ich lag drinnen im Bett und durfte von da aus mit ihnen kommunizieren. Mittlerweile habe ich einiges davon aufgearbeitet. Das Verhältnis zu meinen Eltern werde ich nicht schaffen zu reparieren.

Sindt Ingrid - 2021-12-29
Verschickungsheim: Bad Elster/ DDR Kinderkurheim
Zeitraum-Jahr: 1958 und evtl. 1962
Kontakt: Kontakt: Über die Initiative

Hallo, ich war vor meiner Einschulung 1958 in Bad Elster wegen „ zu dünn“ und Haltungsschwächen.
Nach meiner Erinnerung war ich aus den gleichen Gründen in der 4. Klasse nochmal, bin mir aber nicht sicher und kann meine Eltern nicht mehr fragen. Ich habe an den Aufenthalt kaum Erinnerungen, ich weiß jedoch dass wir immer aufessen mussten, sehr viel Gymnastik gemacht haben, auch mit Zwang ( ich war immer unsportlich) . In Erinnerung ist mir , dass ich erst verspätet eingeschult wurde, wahrscheinlich wegen Krankheit. Ich erinnere mich auch, dass ich während eines Aufenthaltes Windpocken hatte und deshalb allein in einem Zimmer war, und das bei einem kleinen Kind. Ich erinnere mich noch, dass ich anfangs riesiges Heimweh hatte und sehr viel geweint habe. Woran sich meine 2 Jahre jüngere Schwester erinnert sind Gebete , die ich ständig nach der Rückkehr gesprochen habe. Das hat meine Mutter auch meiner 12 Jahre jüngeren Schwester erzählt , es muss sie sehr belastet haben. Sie sagte , wir mussten sie ja hinschicken, weil die so dünn war. Ich habe mit meiner Mutter über dieses Thema kaum gesprochen.
Ich bin jetzt Rentner und man versucht sich mit seiner Vergangenheit zu beschäftigen. Und da beginnt mein Problem. Ich habe nicht nur sehr wenige Erinnerungen an den/die Kuraufenthalte sondern an meine gesamte Vergangenheit einschließlich Ausbildung, Studium und dem Aufwachsen meiner Kinder. Wenn ich Verwandten, Freunden über diese Zeiten spreche, merke ich immer wieder, was ich alles nicht weiß. Das empfinde ich allmählich als sehr belastend. Ich frage mich, ob meine Erinnerungslücken diesem Kuraufenthalt geschuldet sind und würde gern erfahren, ob andere ähnliche Beschwerden/Erfahrungen haben.
Ich würde mich gern mit anderen austauschen.
Ingrid

Anke - 2021-12-08
Verschickungsheim: „Frohe Zukunft“ Kröchlendorff (ehem. DDR)
Zeitraum-Jahr: 1973
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Ich war im Sommer 1973 im Kinderkurheim „Frohe Zukunft“ in Kröchlendorff, weil ich vor dem Schulanfang noch etwas an Gewicht zulegen sollte. Nur soviel - ich war einfach groß und schlank. Aber eben nicht moppelig genug für meine Eltern. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind wie ausgelöscht - außer entsetzliches Heimweh, ständig wahnsinnige Angst, besonders vor der Nachtwache (eine böse Frau in weißem Kittel - welche nachts immer im Türrahmen saß - im Flur brannte ein Licht - und uns bestrafte wenn wir nicht das taten was sie befahl- linksherum- rechtsherum - ), die Betten standen immer ein Junge, ein Mädchen nebeneinander. Neben mir lag ein böser Junge erinnere ich mich… Karten nach Hause wurden diktiert… das blanke Entsetzen die ganze Zeit… alles wie ausgelöscht…keine Namen oder Fotos… ich erinnere mich nur noch an die Ankunft am Heimatbahnhof - ich sehe mich als 6jährige, allein am Bahnsteig auf dem Koffer sitzend - zurückgelassen - meine Mutter war nicht gekommen und die haben mich da einfach sitzenlassen… ich trug ein oranges Frotteekleid und dicke Strumpfhosen - das sehe ich vor mir - irgendwann kam meine Mutter… Ich habe nie darüber geredet, meine Eltern lenken bis heute immer ab und es interessiert auch keinen. Ich leide seit dem an Asthma, Depressionen, Panikanfällen, Essstörungen, Angstzuständen, Platzangst, meine hochsensibel zu sein und würde am liebsten nicht da sein. In all den Jahren der permanenten Trauer um… ??? hatte ich das Gefühl dass da in mir etwas verborgen ist was herausgefunden werden will - ich spüre das sehr stark. Was ist dort passiert? War jemand da in der Zeit? Es war einmal ein Mann dort der mit Zigarettenrauch Seifenblasen machte - weiß das noch jemand… mein ganzes Leben ist zerstört dadurch…

Rudi - 2021-10-01
Verschickungsheim: Sanatorium Dr. Strokorb, Friedrichsbrunn/Harz (DDR)
Zeitraum-Jahr: 1969 Juli-August
Kontakt: Kontakt: Erwünscht

Die Kur war in den Sommerferien, deshalb waren auch Aushilfskräfte als Erzieherinnen tätig.
Manche Erzieherinnen waren freundlich, andere sehr streng. Man wußte nie, woran man war.

Allgemeine Drohungen waren z.B. „Wenn … dann wirst du nach Hause geschickt, und deine Eltern müssen die ganze Kur bezahlen.“ Oder „Wenn ... , dann bleibst du noch den nächsten Durchgang hier.“ Letzteres bekam ich beim (Nicht-richtig-)Essen oder Wiegen öfter zu hören. Zum Wiegen habe ich mir immer Sachen in die Schlafanzugtasche gesteckt, um schwerer zu sein. Das Essen war meistens gut. Aber es gab 2 mal Frühstück, dabei einmal immer einen Brei oder Puddingsuppe. Manche Erzieherinnen achteten darauf, wirklich alles aufzuessen, auch die Milchhaut (die ekelt mich). Vor-dem Teller-sitzen-bleiben, bis alles aufgegessen, oder aber alle am Tisch mußten den gesamten Tischdienst übernehmen.

Alle Kinder, ich war 11 und manche deutlich älter, mußten Mittagsschlaf machen. Bei Nichtschlafen drohte die Verlegung in den Schlafraum der kleinen Kinder, welcher an der Flurseite ein durchgehendes Fenster hatte und gegenüber dem Erzieherzimmer lag. Wir mittleren und die größeren hatten normale 4- oder 6-Bettzimmer. Ob man in der Schlafenszeit auf die Toilette durfte hing auch von den Erzieherinnen ab. "Du bist groß genug und kannst vorher gehen oder dich jetzt zusammenreißen. Wenn nicht, dann kannst du jetzt gehen, bekommst dann aber eine Gummihose." Da ich bei Bettenmachen bemerkt hatte, daß auf der Matratze ein großes rotes Gummituch lag (ich schämte mich deswegen, aber das war sicher in allen Betten so; und ich fand es eklig) nahm ich die Drohung ernst. Ein anderer Junge hat sogar mal aus dem Fenster gepinkelt.

Insgesamt habe ich die Kur trotzdem nicht "schrecklich" in Erinnerung.“

Auf dem Fragebogen hatte meine Mutter „schlechter Esser“ angekreuzt und so etwas wie „unruhiges“ oder „zappeliges Kind“. Beides war sicher richtig, und vielleicht nahm ich deshalb an, dass „es so sein soll“ bei einer Kur.
Das Sanatorium hatte einen Teil für Erwachsene, der Seitenflügel war für Kinder. In dem Durchgang waren Kinder im Alter von etwa 6 bis 16, nur Jungen.
War deshalb das Essen besser, als ich es hier in anderen Berichten lese? Und vielleicht konnte man mit größeren Kindern auch nicht ganz so umspringen wie mit (nur) kleinen Kindern?

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