Anja Röhl – Kinderverschickung als Forschungsgegenstand

Historisches Foto: H. Wessels, aus einem Hausprospekt, 20er Jahre

Es gibt einen neuen Fachaufsatz von Anja Röhl: „Erholungsheime als Forschungsgegenstand“, Auswertung eines Beschwerdebriefes dreier Praktikantinnen aus dem Jahre 1972. veröffentlicht in: Sozialgeschichte online, am 13.4.2022 –

Die Studie „Erholungsheime als Forschungsgegenstand. Erwachsene Zeitzeug*innenschaft am Beispiel eines Beschwerdebriefes im Adolfinenheim auf Borkum

Darin beleuchtet Anja Röhl eingehend den Ende 1972 von drei Praktikantinnen eines Erholungsheims verfassten Beschwerdebrief und die vielfältigen Reaktionen der Verantwortlichen darauf. Es entspinnt sich, wie sich im archivierten Briefwechsel zeigt, ein entlarvender Umgang der Verantwortlichen mit den aufgezeigten schweren Kindesmisshandlungen. Eine festgefügte Einheit aus Heimleitung, lokaler Verwaltung und Regionalpolitik befasst sich in empörender Weise mit den Beschwerden der Praktikanntinnen. Statt die Miss-Stände ernst zu nehmen, beherrscht die Verantwortlichen nur die Angst vor Aufdeckung und einer kritischen Öffentlichkeit. Es geht ihnen, wie Röhl belegen kann, um ihre Bau-Kredite, um die sie fürchten, um die Umgehung der Heimaufsicht, vor deren Auflagen sie zittern, aber niemals um das Wohl der ihnen anvertrauten Kinder. Es kommt soweit, dass den Beschwerdeführerinnen rechtliche Konsequenzen angedroht werden. Es gelingt der Autorin Anja Röhl durch ihre Recherche zu belegen, dass es im Falle des Adolfinenheims mitnichten so war, dass die einzigen Probleme im Personalmangel und in schlechter Bausubstanz bestanden haben. Das Primäraktenstudium hat außerdem viele wertvolle weiterführende Aspekte zum Thema Kinderverschickungen ergeben. So wird deutlich, warum die Kinder-Erholungsheime unbedingt als „Kinderheilstätten“ anerkannt werden wollten. Der Fachartikel von Anja Röhl hat die noch junge Wissenschaft der Kinderverschickungen wieder ein gutes Stück vorangebracht. Anja Röhl knüpft dabei an Ergebnisse dreier Fachtagungen (2019, 2020, 2021) sowie einer Dokumentation der Diakonie Niedersachsen aus dem Jahr 2021 an, die sich dem Thema der Misshandlung von „Verschickungskindern“ widmeten.

Weitere Fachaufsätze in Sozialgeschichte online zum Thema Kinderverschickung:

Sylvia Wagner, Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte: Arzneimittelstudien an Heimkindern, in: Sozial.Geschichte Online, 19 (2016), S. 61–114, [duepublico.uni- duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-42079/04_Wagner_Heime.pdf].

Sylvia Wagner / Burkhard Wiebel, „Verschickungskinder“ – Einsatz sedierender Arzneimittel und Arzneimittelprüfungen. Ein Forschungsansatz, in: Sozial.Geschichte Online, 28 (2020), S. 11–42, [https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00073594].

Siehe auch die Rezension: Marita Schölzel-Klamp / Thomas Köhler-Saretzki, Das blinde Auge des Staates. Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder (Hüttner, Bernd), 5 (2011), 223– 225, [duepublico.uni-duisburg-essen.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-26860/13_Rezensionen.pdf].

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