ERWACHSENEN-ZEUGENSCHAFT
An Mitarbeiterinnen und Eltern ehemaliger Verschickungsheime:
An dieser Stelle veröffentlichen wir Berichte der damals erwachsen gewesenen ZEUGEN, ihre Erlebnisse und Erinnerungen sind solche von damals Beobachtenden, die erwachsen waren und deren Erinnerungen nicht durch eigene traumatische Erlebnisse bestimmt wird. Mitarbeiter damaliger der Verschickungsheime sind Kinderpflegerinnen, Kindergärtnerinnen, Köchinnen und Hausmeister, aber auch die Erinnerungen von Eltern tragen wir an dieser Stelle zusammen. Damalige Mitarbeitende schreiben ihre Beobachtungen hier in die Kommentarfunktion ein. Bitte diese Kommentarfunktion nur für Menschen, die in den 50 – 80/90er Jahre erwachsen waren und Zeugen von Kinderbehandlung in Verschickungsheimen gewesen sind. Weitere Berichte von Erwachsener Zeitzeugenschaft Download.
Meldet euch mit Berichten als erwachsene Zeitzeugen: aekv@verschickungsheime.de
Alle anderen Betroffenen, die als Kinder in dieser Heimen gewesen sind, schreiben bitte auf dieser Webseite bei ZEUGNIS ABLEGEN
Hallo,
mein Name ist Ulrich. Ich war im Sommer 1983 für sechs lange Wochen in den Sommerferien im Kinderkurheim „Seeschloss“ in St. Peter-Ording. Ich war damals 8 Jahre alt und das erste Mal alleine von zu Hause weg.
Meine Gruppe wurde von Regina und Cordula betreut. Manchmal auch mit Verstärkung einer Praktikantin (Das könnte eine von Euch beiden gewesen sein. Es gab eine Verabschiedung am Praktikumsende). Ich fand, dass Godber Kraas aussah wie der Knecht Alfred aus Michel aus Lönneberga und die Nachtwache wie Sigi Harreis von den Montagsmalern. Herr Kraas hatte oft nach dem Abendessen Gitarre gespielt. Dort hatte ich das Lied „Wenn die bunten Fahnen wehen…“ kennengelernt und es damals immer gerne mitgesungen. Ich hatte ihn als strengen Heimleiter empfunden. Ausschlaggebend waren Maßregelungen des Personals durch Herrn Kraas, die nicht für unsere Ohren bestimmt waren, dennoch hatten wir Kinder diese oft mitbekommen. Das führte zu keiner guten Atmosphäre im Heim und war für mein Heimweh nicht förderlich.
Einige Kleidungsstücke die mir extra für die Kur gekauft wurden waren gar nicht bei mir im Schrank und ich ging damals davon aus, dass sie bei einem anderen Kind eingeräumt wurden oder sogar gestohlen wurden. In einer Jackentasche hatte ich die Adresse meiner Klassenlehrerin und konnte Ihr deswegen nicht schreiben!
Es gab keine freie Verfügung über unser Taschengeld. Bei Ausflügen bekamen wir lediglich DM 1,50 ausgezahlt. Ich konnte mir dadurch meine wöchentliche Zeitschrift nicht kaufen. Postkarten und Souvenirs (am Ende der Kur) konnte man nur im Heim selbst kaufen.
Bei den Briefen und Karten meiner Eltern habe ich mich immer gewundert, dass auf meine vielen Fragen (fehlende Kleidung/Adresse/kein Taschengeld/zuschicken der Zeitschrift) nicht geantwortet und reagiert wurde.
Beim Mittagessen gab es (gefühlt) jede Woche Fisch, den ich immer liegen ließ. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich zum Essen gezwungen wurde. Ein einziges Mal musste ich aber mit anderen Kindern, die nicht aufgegessen hatten, im Speisesaal sitzenbleiben und wurde aufgefordert aufzuessen. Vielleicht wurde sonst immer ein Auge zugedrückt.
Einige Duschtage waren für mich sehr belastend. Ich kann mich an das panische Verhalten des Jungen erinnern. Er war älter als ich und in einer anderen Gruppe. Die Betreuer hatten es nie geschafft Ihn unter die Dusche zu bekommen. Am Schluss wurde der sichtlich genervte Godber Kraas gerufen, der das dann alleine mit dem Jungen erledigte. Ob es dann besser geklappt hat kann ich nicht sagen.
An viele Begebenheiten kann ich mich also noch genau erinnern (die durch Eure Berichte klarer werden und im Nachhinein einen Sinn ergeben – vielen Dank dafür!)
Am Ende der Kur bekamen wir ein liebevoll gestaltetes Tagebuch mit Fotos in einem Schnellhefter geschenkt. Es war alles aus der Sicht eines Kindes geschrieben, wie z.B. „Zum Frühstück gibt es immer frische Brötchen mit einzeln abgepackter Marmelade wie in einem Hotel“ oder „Der Ausflug in die Tolk-Schau nach Schleswig war toll“. Meine Eltern waren begeistert und glaubten mir was Gutes getan zu haben.
Dieses Tagebuch musste im nächsten Jahr als Beweis, dass es eine schöne Zeit an der Nordsee war, herhalten, als es darum ging mich erneut in Kur zu schicken. Das Tagebuch war dann merkwürdiger weise verschwunden und St. Peter-Ording blieb mein einziger Aufenthalt in einem Kinderkurheim.
Ich war 1978 als Praktikantin der Fachschule für Sozialpädagogik Herne, in einem Kinderkurheim der Ursulinen in Winterberg (Sauerland) tätig.
Statt der 6 Wochen, die ich ableisten musste, wurden es nur 3.
Was ich in diesen 3 Wochen erlebte, war erschreckend und bedrückend. In dem von Nonnen geführten Haus , in dem sich Kinder erholen, stabilisieren und Kraft tanken sollten, erfuhren sie stattdessen Erniedrigungen und Demütigungen.
Ein Musterbeispiel an schwarzer Pädagogik!!
Ich möchte aber auch betonen, dass es einige wenige Nonnen gab, die weniger autoritär auftraten, aber dennoch das Machtgefüge gestützt haben, indem sie die Methoden ihrer Mitschwestern tolerierten!
Die Tatsache, dass Geschwisterkinder getrennt wurden und ihnen auch zeitweise verboten wurde sich zu begegnen, war schon sehr grausam. Es herrschte eine sehr autoritäre, rigide Atmosphäre.
Ich erinnere mich nur an einzelne Begebenheiten, die das System aber gut verdeutlichen.
Einem kleinen Jungen wurde für eine bestimmte Zeit (Stunden/Tage?) die Perücke abgenommen, um ihn zu sanktionieren,- vermutlich für eine Banalität! Er hatte keine Haare auf dem Kopf (ich weiß nicht weshalb/Leukämie?) Wie grausam Kinder sein können, die es von Erwachsenen vorgelebt bekommen, kann man sich denken!
Diese Art der Demütigungen und Erniedrigungen wiederholten sich regelmäßig in unterschiedlicher Form.
Dass Kinder trotz Erbrechens weiter essen mussten (unter Zwang-eine Nonne setzte sich neben das Kind), erlebte ich immer wieder.
Das Essen war generell nicht immer genießbar- es gab auch schon mal rohe Bratwürste, wenn zu wenig gebraten wurden!
Die Briefe der Kinder an ihre Familien/Freund-innen etc. wurden kontrolliert und in der Kommunikation manipuliert, damit stets nur Positives berichtet wird. Meist saß eine Nonne direkt daneben.
Es ist zu lange her, als dass ich mich an mehr Konkretes erinnere, aber ich empfinde noch heute das Gefühl von Traurigkeit, Hilflosigkeit, Machtlosigkeit,aber auch Zorn!
Nachdem ich rausgeworfen wurde, schrieb ich später, mit einer weiteren Praktikantin an das Landesjugendamt. Wir trugen all unsere Erlebnisse zusammen und erhofften uns ein konsequentes Vorgehen. Alles verlief im Sande, wir bekamen erst auf eindringliche Nachfragen lapidare Rückmeldungen. Leider war man damals nicht so vernetzt wie heute, und es war uns nicht möglich dran zu bleiben.
Ich glaube, dass es für viele Kinder ein traumatisierender Aufenthalt war,- und die Tatsache, dass sie vermutlich zuhause nicht darüber reden konnten, ihnen nicht geglaubt wurde oder ihr Erlebtes keine Relevanz hatte, wird das noch verstärkt haben.
Es tut mir so unendlich leid.
Hallo,
ich bin Ute und habe mein Vorpraktikum (11 Monate) 1983 im Kinderkur-und Erholungsheim “Seeschloß” in St.Peter Ording zur Erzieherin absolviert. Ich war zum Beginn des Praktikums im Januar 17 Jahre alt und das erste mal in der Arbeitswelt tätig, also völlig unerfahren. Heute wundere ich mich, dass ich nach diesem Praktikum überhaupt den Beruf des Erziehers erlernt habe, denn ich habe in dieser Zeit viele sehr unschöne und sehr ungerechte Dinge in diesem Kinderkurheim erlebt.
Ich erinnere mich z.B. daran, dass ich an meinem ersten Arbeitstag überhaupt in meinem Leben, ALLEINE! mit einer Gruppe von Kindern, zu einem Spielplatz geschickt wurde, der eine ziemlich weite Strecke zu Fuß vom Kinderheim entfernt lag, um mit den Kindern außer Haus zu sein. Es wurde für SEHR wichtig gehalten, dass die Koffer korrekt ausgepackt, schriftlich festgehalten wurde, was jeder mitgebracht hatte, und es wurde auch sortiert, was bleiben durfte und was nicht. (Und rechtlich war das gar nicht erlaubt, was ich aber erst später in meiner Ausbildung erfahren habe). Auf diesem Spielplatz hat sich dann auch tatsächlich, trotz meiner superangespannten Lage aufpassen zu müssen, ein Kind eine ziemlich blutige Platzwunde am Kopf durch einen Sturz zugezogen. Ich hatte in meiner Panik Glück, dass mir eine andere Erzieherin aus einem anderen Kinderheim zur Hilfe eilte und mir half.
Ich erinnere mich auch an die von Jutta (s.o.) beschriebene Situationen, wo Kinder ihr Essen unbedingt unter Aufsicht aufessen mussten; und speziell an ein türkisches Kind, dass gezwungen wurde das Schweinefleisch auf seinem Teller aufzuessen. SCHRECKLICH! Denn es ging häufig um die Zunahme oder Abnahme des Gewichtes der Kinder.
Außerdem kann auch ich mich an dieses duschen unter Tränen erinnern. Und daran, dass die Post der Kinder kontrolliert wurde. Ich wurde, als Praktikantin, auch häufig sehr ungerecht und überhaupt nicht wertschätzend vom Chef behandelt; so wurde ich z.B. einmal im Speisesaal vor voller Belegschaft von ihm wegen meines angeblich nicht aufgeräumten Zimmers zusammengefaltet. Ebenso hat er auch einmal in meiner Gegenwart eine ausländische Mutter am Telefon übels beschimpft, sie solle doch erstmal die deutsche Sprache ordentlich lernen, bevor sie ihr Kind sprechen kann.
Ich habe bestimmt aus Selbstschutz viele Dinge aus dieser Zeit verdrängt, denn ich habe mich diesem Chef gegenüber sehr machtlos gefühlt, hatte keine echte Unterstützung durch mein Elternhaus und hatte auch Angst vor ihm. Aber schon bald habe ich mich gefragt, wie Godber Kraas überhaupt ein Kinderheim leiten durfte und niemand dagegen etwas unternommen hat.
Ich wünsche mir sehr, dass er die kleinen Seelen nicht zu sehr verletzt hat, für die er eigentlich sorgen sollte.
Ich bin Jutta, und habe 1983 im Sommer für 3 Monate als Praktikantin im Kinderkurheim Seeschloss in St. Peter Ording gearbeitet. Das Praktikum erfolgte 1 Jahr nach meinem Abitur; es war ein vorbereitender Teil für mein Sozialpädagogikstudium.
Die Athmosphäre im Haus unter Leitung von Godber Kraas entsprach genau seiner unterkühlten strengen Leitung. Die Mitarbeiter wurden bei bestimmten Aktionen kontrolliert und häufig verbal “gemaßregelt”. Es ging nich darum, ob wir etwas “falsch” gemacht hatten; es ging allein um die aktuelle Stimmungslage des Leitenden.
Doch für die Kinder war die Gesamtathmosphäre noch viel belastender; nicht erholsam wie angedacht.
Zwei Geschehnisse habe ich bis heute nicht vergessen können:
Der kleine Manfred mußte im Beisein aller sein Mittag aufessen…bis er sich übergab.
Der Leiter hatte sich zu dieser Aktion vor die Tür gestellt, damit niemand vorzeitig gehen konnte.
Ein anderer Junge wurde gegen seinen Willen zum Duschen gezwungen, unter entsetzlichem Geschrei. Später sickerte durch, in seinen Unterlagen sei eine Wasserphobie genannt:
Ursache war der Brand des Elternhauses mit großem Löscheinsatz.
Ich habe mehrfach versucht, meine KollegInnen zum “Aufstand” zu bewegen: sie hatten Angst um ihre Jobs und vor Godber Kraas selbst.
Allein mit Praktikantenstatus habe ich mich nicht getraut. Und genau das nehme ich mir bis heute übel. Ich bin sehr froh, heute und hier nun endlich ein klein wenig gutzumachen.