ZEUGNIS ABLEGEN – ERLEBNISBERICHTE SCHREIBEN

Hier haben sehr viele Menschen, seit August 2019, ÖFFENTLICH ihre Erfahrung mit der Verschickung eingetragen. Bitte geht vorsichtig mit diesen Geschichten um, denn es sind die Schicksale von Menschen, die lange überlegt haben, bevor sie sich ihre Erinnerungen von der Seele geschrieben haben. Lange haben sie gedacht, sie sind mit ihren Erinnerungen allein. Der Sinn dieser Belegsammlung ist, dass andere ohne viel Aufwand sehen können, wie viel Geschichte hier bisher zurückgehalten wurde. Wenn du deinen Teil dazu beitragen möchtest, kannst du es hier unten, in unserem Gästebuch tun, wir danken dir dafür! Eure Geschichten sind Teil unserer Selbsthilfe, denn die Erinnerungen anderer helfen uns, unsere eigenen Erlebnisse zu verarbeiten. Sie helfen außerdem, dass man uns unser Leid glaubt. Eure Geschichten dienen also der Dokumentation, als Belegsammlung. Sie sind damit Anfang und Teil eines öffentlich zugänglichen digitalen Dokumentationszentrums. Darüber hinaus können, Einzelne, die sehr viele Materialien haben, ihre Bericht öffentlich, mit allen Dokumenten, Briefen und dem Heimortbild versehen, zusammen mit der Redaktion als Beitrag erarbeiten und auf der Bundes-Webseite einstellen. Meldet euch unter: info@verschickungsheime.de, wenn ihr viele Dokumente habt und solch eine Seite hier bei uns erstellen wollt. Hier ein Beispiel

Wir schaffen nicht mehr, auf jeden von euch von uns aus zuzugehen, d.h. Ihr müsst euch Ansprechpartner auf unserer Seite suchen. ( KONTAKTE) Wenn Ihr mit anderen Betroffenen kommunizieren wollt, habt ihr weitere Möglichkeiten:

  1. Auf der Überblickskarte nachschauen, ob eurer Heim schon Ansprechpartner hat, wenn nicht, meldet euch bei Buko-orga-st@verschickungsheime.de, und werdet vielleicht selbst Ansprechpartner eures eigenen Heimes, so findet ihr am schnellsten andere aus eurem Heim.
  2. Mit der Bundeskoordination Kontakt aufnehmen, um gezielt einem anderen Betroffenen bei ZEUGNIS ABLEGEN einen Brief per Mail zu schicken, der nicht öffentlich sichtbar sein soll, unter: Buko-orga-st@verschickungsheime.de
  3. Ins Forum gehen, dort auch euren Bericht reinstellen und dort mit anderen selbst Kontakt aufnehmen

Beachtet auch diese PETITION. Wenn sie euch gefällt, leitet sie weiter, danke!

Hier ist der Platz für eure Erinnerungsberichte. Sie werden von sehr vielen sehr intensiv gelesen und wahrgenommen. Eure Erinnerungen sind wertvolle Zeitzeugnisse, sie helfen allen anderen bei der Recherche und dienen unser aller Glaubwürdigkeit. Bei der Fülle von Berichten, die wir hier bekommen, schaffen wir es nicht, euch hier zu antworten. Nehmt gern von euch aus mit uns Kontakt auf! Gern könnt ihr auch unseren Newsletter bestellen.

Für alle, die uns hier etwas aus ihrer Verschickungsgeschichte aufschreiben, fühlen wir uns verantwortlich, gleichzeitig sehen wir eure Erinnerungen als ein Geschenk an uns an, das uns verpflichtet, dafür zu kämpfen, dass das Unrecht, was uns als Kindern passiert ist, restlos aufgeklärt wird, den Hintergründen nachgegangen wird und Politik und Trägerlandschaft auch ihre Verantwortung erkennen.

Die auf dieser Seite öffentlich eingestellten Erinnerungs-Berichte wurden ausdrücklich der Webseite der „Initiative Verschickungskinder“ (www.verschickungsheime.de) als ZEUGNISSE freigeben und nur für diese Seiten autorisiert. Wer daraus ohne Quellenangabe und unsere Genehmigung zitiert, verstößt gegen das Urheberrecht. Namen dürfen, auch nach der Genehmigung, nur initialisiert genannt werden. Genehmigung unter: aekv@verschickungsheime.de erfragen

Spenden für die „Initiative Verschickungskinder“ über den wissenschaftlichen Begleitverein: Verein Aufarbeitung und Erforschung von Kinderverschickung / AEKV e.V.:     IBAN:   DE704306 09671042049800  Postanschrift: AEKV e.V. bei Röhl, Kiehlufer 43, 12059 Berlin: aekv@verschickungsheime.de

Journalisten wenden sich für Auskünfte oder Interviews mit Betroffenen hierhin oder an: presse@verschickungsheime.de, Kontakt zu Ansprechpartnern sehr gut über die Überblickskarte oder die jeweiligen Landeskoordinator:innen


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2774 Einträge
Frank schrieb am 19.01.2020
Ich war als 10jähriger im Weberhäuschen in St. Peter-Ording. Ich habe drei Briefe nachhause geschrieben; der erste wurde mir zurückgegeben. Ich wurde aufgefordert nichts von meinem Heimweh zu schreiben, sondern nur darüber, daß alles schön ist und das Essen gut. Diese beiden Briefe (mit einem Umschlag und der Postkarte des Heims) kamen nach dem Tod meiner Mutter wieder an mich. Ich wußte nicht das sie noch existierten.
Ich war Zimmerältester mit lauter Jungs zwischen 7-10 Jahren. Die größte Angst bestand vor dem Bettnässen, denn am nächsten morgen wurde kontrolliert und wer erwischt wurde kam an einen Sondertisch und bekam nur trockene Haferflocken zum Frühstück und wurde zusätzlich noch ins Bettnässerbuch eingetragen. Nachts kamen dann Jungs die ins Bett gemacht hatten und weinten. Wir haben dann gemeinsam die Matratze rumgedreht und das Bettlaken mit Handtüchern gerieben und gerieben, bis man keine Feuchte mehr fühlte. Einmal hatte einer unters Bett gemacht und wir haben das dann mit Kleidern und Handtüchern aufgewischt.
Ich habe schon einiges aufgeschrieben, aber es sind auch immer wieder Erinnerungslücken da.
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Angela Nörenberg schrieb am 19.01.2020
Kinderverschickung Schloss Ratzenried !!!

Wir sind wohl im März bis in den April 1972 da gewesen für 6 Wochen. Wir, das sind meine Brüder Jörn (12), Heiko (9) (2013 verstorben) und meine Schwester
Susanne (8) und ich war damals 7 Jahre alt.

Meine Mutter erfuhr damals sehr kurzfristig von der Zusage für uns alle 4.
Klar, wenn gleich 4 Kinder unter gebracht werden müssen.
Verschickt wurden wir über die Post (die sogenannte Postverschickung).

Also, ich war schon sehr dünn aber der eigentliche Grund der Verschickung war, das meine Mutter mal eine Auszeit brauchte. Bei 4 Kindern ja auch zu verstehen.
Meine Mutter erzählte mir das sie Nächte damit verbrachte Namensschilder in unsere Kleidung ein zu nähen...

Dann war der Tag der Abreise, und wir waren alle aufgeregt und überdreht. Wir fuhren mit dem Zug am späten Abend vom Hamburger Hauptbahnhof los.
Begleitet wurden wir von freiwilligen Postbeamten (also Arbeitskollegen meines Vaters).
Muss für die Begleiter wirklich anstrengend gewesen sein. Meine Geschwister und ich waren in einem Abteil untergebracht und haben die Begleiter mit viel Blödsinn auf Trab gehalten, so das sie am Ende Ihre Abteiltür mit unserer durch ein Band verbunden hatten, damit sie beim öffnen unserer Abteiltür sofort reagieren konnten.

Am morgen sind wir dann angekommen und wurden mit dem Bus nach Ratzenried gebracht.

Übrigens habe ich erst vor vielen Jahren durch meinen Bruder Heiko erfahren das der Ort unserer Kinderverschickung Ratzenried hieß.
Ich wusste es nicht mehr. Dann natürlich gegoogelt und dann kamen einige Erinnerungen wieder.

Aber weiter...
Nun berichte ich dir von meinen Erinnerungen .

Wenn man reingekommen ist war auf der linken Seite der Speise und Aufenthaltsraum der Jungen und auf der rechten Seite das der Mädchen.
Ich habe keine Erinnerung wo die Jungen geschlafen haben. Aber ich weiß das innerhalb des Heimes Jungs und Mädchen getrennt voneinander waren.

Bei den Jungen war Schwester Begmana ( ob sie so geschrieben wird weiß ich nicht ) zuständig, bei uns Mädchen war es Schwester Lioba.

Direkt beim Heim war eine Kirche in die wir Sonntags gingen. Vorher mussten wir immer unsere Schuhe putzen oben draußen auf dem Turm.

Zum Essen, ja auch wir wurden gemästet. Ich erinnere mich an viele Scheiben Brot zum Frühstück, komische Suppen zum Mittag teilweise untypisch für uns norddeutschen. Aber Essen war immer ein Thema weil wir ja zunehmen sollten.
Und wie ich bei vielen anderen lass, auch hier musste erbrochenes gegessen werden und es ging noch schlimmer, nämlich das in die Toilette geworfene Brot musste wieder raus gefischt werden und es musste aufgegessen werden. ( das ist aus der Erinnerung meiner Schwester und mir).
Zum Glück ist das weder mir noch meiner Schwester passiert.

Geschlafen wurde in einem großen Schlafsaal mit gefühlten 20-30 Betten aus meiner Erinnerung..
Ich hatte einen Schlafplatz ziemlich weit hinten beim Fenster und meine Schwester hatte direkt neben mir ihr Bett gehabt.
Sobald wir im Bett waren durfte nicht mehr geredet werden, keinen laut durfte man mehr von sich geben. Die Tür vom Saal war immer angelehnt und die Schwester saß vor der Tür, war sofort da, wenn sie einen laut gehört hat. Die Strafe war immer raus aus dem Schlafsaal und sich in eine Ecke stellen.
Es kam auch vor das Kinder in der Nacht ins Bett gemacht hatten, das fanden die Nonnen Schwestern gar nicht gut und waren oft böse. Die Kinder mussten dann ihre Nachtwäsche selber ausspülen. Ob Sanktionen folgten das weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich war ich wieder eingeschlafen...
Aber ich weiß das ein Mädchen die auch öfters ins Bett gemacht hatte, dann auch ihr „großes Geschäft“ ins Bett gemacht hatte, das ist ein Bild das ich bis heute nicht vergessen habe.
Sie stieg aus ihrem Bett und es hing alles an ihrem Nachthemd und auch sie wurde schimpfender weise raus geholt, musste alles auswaschen und ihr Bett selber abziehen. Sie hatte die ganze Zeit geweint.
Dieses Mädchen wurde von ihren Eltern abgeholt.

Da meine Schwester im Mai 9 wurde durfte sie später in einem anderen Zimmer mit den älteren schlafen, aber nicht lange, dann war sie wieder neben mir.

Ich habe jede Nacht Heimweh gehabt, bin unter die Decke gekrochen und habe geweint und ich habe jeden Abend unser zuhause vor Augen gehabt...

Es durfte aber keiner der Nonnen Schwestern mitkriegen.Man durfte einfach nicht weinen oder gar Heimweh haben, warum weiß ich nicht..

Meine Schwester war mir da schon eine große Hilfe, wir hielten irgendwann abends immer die Hände und streichelten uns gegenseitig die Arme.
Das haben wir dann zuhause noch eine lange Zeit weiter gemacht.


Postkarten schreiben, dafür gab es immer eine bestimmte Zeit wo wir alle schreiben konnten oder mussten... Jeder musste seine Postkarte bei der Nonnen Schwester abgeben und es durfte nichts negativen drin stehen, das weiß ich auch noch. Obwohl ich mich im nach hinein frage ob ich schon richtig schreiben konnte. Aber auch meine Schwester bestätigte das die Post zensiert wurde.

Im Badezimmer mussten wir uns immer in einer Reihe aufstellen zum waschen.

Hinter dem Heim nicht weit weg muss auch ein Spielplatz gewesen sein, dort waren wir öfter und auch die Jungen waren dabei.

Wir waren auch öfter im Wald und haben uns irgendwelche Höhlen gebaut, das war eigentlich schön.. Auch hier waren die Jungen dabei.

Aber die Wanderungen waren nicht so schön. Stundenlang irgendwelche hügeligen Gras Weiden und die Nonnen Schwestern immer hinter einem mit Rohrstock. Meine Erinnerung, wie Vieh das in den Stall getrieben wurde.

An einem Abend habe ich mit vielleicht 3-4 Mädchen Memory gespielt, als dann die Spielzeit zu ende war und wir ins Bett sollten, räumte die Nonnen Schwester das Spiel ein und wurde ganz böse weil bei eins der Memory Karten eine kleine Ecke fehlte.

Wer war das, schrie sie uns an. Keiner sagte etwas, ich glaube wir hatten alle Angst.Ich weiß nicht wer das war, ich auf jeden Fall nicht.
Wir mussten alle in den Ecken stehen und durften nicht schlafen und sie fragte immer wieder ,wer war das....
Nach gefühlten Stunden durften wir endlich ins Bett, so etwas vergisst man nicht.

Wir haben auch gesungen, aus der Mundorgel, die werden sicher noch einige kennen.

Und wir haben zu Ostern gebastelt. Ich glaube wir durften das auch mit nachhause nehmen.

Und als wir dann wieder zuhause waren haben wir wohl auch alles berichtet das schöne und das schlechte.

Ich weiß, das meine Mutter uns irgendwann erzählte das das Heim geschlossen wurde.

Meine Schwester und ich spielten oft das erlebte noch nach und das hat uns sicher geholfen das ganze besser zu verarbeiten.


Es ist wirklich sehr lang geworden, aber ich wollte nichts auslassen.

Liebe Grüße, Angela.
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Susanne schrieb am 19.01.2020
Hallo,
ich bin 54 Jahre alt, komme aus NRW. Im Jahre 1975 wurde ich sechs Wochen lang nach Oberstdorf, in das
Kindersanatorium "Sonnenhang" geschickt. Ich war untergewichtig und oft krank, so die Begründung der Ärzte, auf die meine Mutter, wohlwollend einging. Da könnte ich Kraft und Gesundheit tanken.
Vom Horror des Heimwehs mit 9 Jahren, ohne irgendeine bekannte Person, ganz zu schweigen, begann dort der Horror auf eine Weise, wie ich sie vorher und nachher nie erlebt habe.
Wir wurden gedemütigt, vor versammelter Mannschaft im Speiseraum vorgeführt, mir wurden Dinge unterstellt, die
ich nie im Leben begangen hatte. Trotzdem hatte ich mich zu entschuldigen. Eines Abends kam eine Betreuerin in unser Zimmer, in dem sechs Mädchen schliefen. Zwei Mädchen schwatzen und lachten noch trotz Verbot. Ohne zu fragen, wer da noch quatscht, riss sie mich aus dem Bett und verdonnerte mich dazu, mindestens eine Stunde alleine im kalten, dunklen Treppenhaus zu sitzen. Niemand half mir, auch nicht die wirklich schuldigen, sie hatten wahrscheinlich auch nur Angst.
Wir mussten bei hohen Temperaturen lange, anstrengende Wanderungen machen, mit minimal rationierten Getränken. Es gab Sportpflicht und eine Kleiderordnung. Briefe nach Hause wurden kontrolliert und mussten oft verbessert werden (logisch), auf Anordnung der Betreuuer.

Es wurden auch Kinder geschlagen, ins Gesicht!! Es war der reinste Horror, ich habe das niemals vergessen.
Meiner Mutter habe ich aus Scham erst viele Jahre später davon berichtet, sie war zwar entsetzt, sagte aber,
da könne man jetzt nichts mehr machen.Ich hätte eben eher was sagen sollen.

Vielleicht bin ich nicht die einzige, die in diesem Zeitraum da war. Ich kann mich zumindest an zwei Betreuerinnen erinnern. Das eine war eine etwas jüngere Frau, mit kurzen Haaren, den Namen hab ich vergessen. Die hatte einen bayrischen Akzent.
Die war sehr schlimm, aber die schlimmste war Ludmilla, eine ältere sehr fiese, dürre Frau. Ich glaube sie war eine Art Leitung oder Direktorin.

In diesem Jahr im Juni 2020, 45 Jahre später, werde ich in Oberstdorf Urlaub machen, ich glaube das Gebäude steht noch. Da will ich diesen Horror verarbeiten und vergessen. Und dann diesen wirklich schönen Ort genießen, denn der hat mit diesen schlimmen Ereignissen in diesem Haus ja nichts zu tun.

Danke fürs Lesen
Susanne
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Gertrud Schokker schrieb am 19.01.2020
Ich war Anfang 1966 in Bad Rothenfelde von der Zeche Moltke in Gladbeck,ich war zu klein und zu dünn .Eingeschult wurde ich erst im Dezember (kurzschuljahr).Ich war auch 6 Wochen da,schlimmste Zeit meines kurzen Lebens.Wir bekamen auch seltsame Dinge zu essen,ich kann mich noch dran erinnern das ein Junge seinen kompletten Teller mit Spinat durch den Speisesaal warf.Wenn wir spazieren gingen immer zu zweit in einer Reihe mit Seil dazwischen,wehe man lies das Seil los.Mich hat man eine Nacht lang in meinem erbrochenen liegen lassen.Aufs Klo durfte man nicht,man hatte einen Topf,den man morgens zu ausleeren wegbringen musste.Ich fühlte mich von meinen Eltern abgeschoben,hatte grade meinen Bruder bekommen und dachte sie wollten mich nicht mehr.Reden konnte und kann ich mit meiner Mutter (Vater verstorben) darüber nicht .
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Kerstin schrieb am 18.01.2020
Hallo, ich wurde im Alter von 5 Jahren nach Sylt verschickt. Das war im Frühjahr 1976.
Einige Erinnerungen sind geblieben. Leider nur negative. Positive Erinnerungen an diese Zeit habe ich gar nicht.

Ich erinnere mich an die Vorabuntersuchung. Die fand in Hamburg in den Mundsburg Türmen statt. Es war ein riesen Raum mit vielen Erwachsenen und Kindern. Wir mussten uns dort bis auf die Unterhose ausziehen. Auch ältere Kinder (Jugendliche) mussten das. Dann wurden wir untersucht und befragt, ob wir 4 Wochen verschickt werden wollen. Als 5 jährige hat man wahrscheinlich noch nicht die Ahnung, was 4 Wochen sind. Ich dachte zumindest, es würden 4 Tage sein.

An die Fahrt selber habe ich wenig Erinnerungen, nur das viele weitere Kinder mit in dem Zug waren.

Dort angekommen wurden unsere Koffer von den Mitarbeitern ausgepackt und der Inhalt begutachtet. Ich leide unter einer Hauterkrankung und habe dadurch sehr trockene Haut. Die Heimleitung nahm mir meine Hautcreme ab (Nivea - damals gab es nichts anderes). Die Begründung "die ist zu fettig für Dich". Die ganzen 4 Wochen hatte ich keine Möglichkeit mich einzucremen, was zu schuppiger Haut mit sehr schmerzhaften Rissen an Händen, Armen und Beinen bei mir führte.

Ich wusste, dass meine Eltern mir Taschengeld mit in den Koffer gelegt haben. Von diesem Geld habe ich nur einen kleinen Bruchteil bekommen. Davon durfte ich mir bei einem Ausflug ein kleines Spielzeug kaufen. Dieses Spielzeug wurde bei der Rückkehr promt einkassiert. Dieses Spielzeug sowie das restliche Geld ist auf nimmerwiedersehen verschwunden.

Wir mussten regelmäßig Briefe nach Hause schreiben. Ich konnte zu dem Zeitpunkt noch nicht schreiben - wer weiß, was die Mitarbeiter in die Briefe geschrieben haben. Ich erinnere mich an eine junge Mitarbeiterin, die wirklich bemüht war. Die hat die Briefe für die Kinder geschrieben, die noch nicht schreiben konnte. Ich hatte in einem Brief über die Hauteinrisse berichtet und darüber, dass ich mich nicht eincremen darf. Dieser Brief ist niemals an meine Eltern geschickt worden. Ich hatte unter jeden Brief ein Bild gemalt und daher weiß ich, das der Brief nicht geschickt wurde.

Eine Erinnerung hallt bis heute nach. Bei einem Toilettengang bekam ich das Türschloß nicht mehr auf und habe verzweifelt versucht die Toilettenbox zu verlassen. Mein Klopfen und Schreien wurde nicht gehört. Es hat ewig gedauert, bis mich jemand befreite. Danach gab es keine tröstenden Worte.

Ich mag mich bis heute nicht gerne auf Toiletten einschließen.

Warum ich verschickt wurde, weiß ich nicht. Ich war weder zu dünn noch zu dick. Gesundheitliche Probleme hatte ich auch nicht (bis auf diese Hauterkrankung). Wahrscheinlich machte man es zu der Zeit eben.

Meine Eltern haben aber zum Glück davon abgesehen, mich nochmal zu verschicken. Auch mein jüngerer Bruder (der als Kind mehr gesundheitliche Probleme hatte als ich) wurde nicht verschickt.
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Armin schrieb am 18.01.2020
Hallo,
ich war 1964 im Alter von drei Jahren zusammen mit meiner älteren Schwester auf Schloss Katzenelnbogen in Rheinland-Pfalz. Natürlich wurden auch wir, wie so viele andere Geschwister, getrennt. Ich habe nur wenige eigene Erinnerungen an diese Zeit, das meiste weiss ich aus den Erzählungen meiner Schwester.
Leider gibt es kaum Informationen dazu im Internet ausser, dass das Schloss 1948 vom evangelischen Hilfswerk zum Kinderheim umgebaut und bis 1972 betrieben wurde.
Es wäre sehr schön, sich mit anderen Menschen austauschen zu können, die auch zu dieser Zeit auf Schloss Katzenelnbogen waren.
Deshalb wäre ich über eine Nachricht sehr froh und sehr froh bin ich auch darüber, dass dieses Thema nun endlich an die Öffentlichkeit gelangt.
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Elke schrieb am 17.01.2020
Ich war auf Wangerooge etwa 1967 oder 1968, zweite oder dritte Klasse. Ich sollte zunehmen, mir war immer schlecht. Das war wohl der Anlass meiner Verschickung.

Ich kann mich an nichts erinnern. Ich weiß nichts von einer Zugfahrt, auch keine Fähre, keine Hin- oder Rückfahrt ist erinnerlich.

Ich weiß nur noch, dass die Post zensiert wurde und ich nichts von meinem Heimweh schreiben durfte. Ich weiß noch, das der Arzt bei der Abschlussrunde fragte, wem es denn nicht gefallen hätte. Ich habe mich als Einzige gemeldet und wunderte mich, dass die anderen alles zu toll gefunden haben. Dann war das Erlebte vermutlich in Ordnung. Ich glaube auch nicht, dass ich zu Haus erzählte habe. Fragen kann ich meine Eltern leider nicht mehr, da sie nicht mehr leben.

Nach dem Lesen der anderen Berichte kommen mir auch Erinnerungen.

An die Mittagsschlafzeit. Ich habe ein Bild vor Augen, viele Betten nebeneinander und ich lag darin mit einem Handtuch über meinen Augen. Früher dachte ich immer, dass sei eine Erinnerung aus der Kindergartenzeit. Aber im Kindergarten war ich nur eine ganz kurze Zeit, dann wurde ich dort nicht mehr hingebracht. Im Kindergarten gab es auch keine Betten. Vielleicht war es doch in der Kur?

Als Kind hatte ich Alpträume. Es war immer eine riesengroße Zudecke über mir, schwer und bedrohlich.

Jetzt leide ich aber nicht mehr. Ich frage mich nur, warum ich mich nicht erinnern kann.

Nach der Kur musste ich das Kurzschuljahr wiederholen, deshalb nehme ich an, dass ich nicht in den Ferien, sondern in der Schulzeit dort war.

Elke
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Ilona Gruber schrieb am 15.01.2020
kenne ich auch, wurde so ca 1963-64 vom Arzt nach Bad Herrenalb zur Erholung geschickt, da ich zu wenig Gewicht hatte, war 6 Wochen in diesem Heim, das Essen war grauenhaft und wir haben vor Hunger an Papiertaschentüchern geknabbert. Man wurde dauernd bestraft. War auch mehrmals auf der Krankenstation mit Fieber und Erbrechen. Jedes mal wenn ich spucken musste, war ich die Böse und durfte nicht mit den anderen Kindern spielen. Ein Tag vor Ende der Kur haben die Schwestern meine Eltern kontaktiert, dass sie mich abholen sollen wegen Fieber. Mein Vater ist mit meiner Oma gekommen. Kaum war ich im Auto, war schwups mein Fieber weg und ich habe im Auto gesungen. Abends bin ich mit meiner Mutter zum Bahnhof um meinen Koffer abzuholen. Die Aufsichtsperson, die die Kinder wieder nach Pirmasens begleitete hat meine Mutter angeschrien wieso sie ein fieberhaftes Kind an die zugige Bahn mitbringt. Meine Mutter war stinksauer und hat Dampf abgelassen. Das war meine einzige Kinderkur, meine Eltern haben das nie wieder mit sich machen lassen.
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Christine schrieb am 15.01.2020
BAD SASSENDORF...
Ich war 1978 in BAD SASSENDORF. Werde ich nie vergessen. Mit 6 Jahren, 6 Wochen weg. Erbrochenes essen kenne ich. Abends erklang ein Gong, Dann musste man sofort schlafen. Dann kam eine Person und kontrollierte mittels Taschenlampe ins Gesicht strahlen, wer nicht schläft. Wenn man mit dem Auge gezuckt hat, musste man auf dem Flur stehen. Barfuß. Kalt. Stehen an der Wand... keine Ahnung wie lange. Man durfte nicht einschlafen. Einmal hatte ich beim Urinieren starke schmerzen und Blut im Urin. Ich bat die Erzieherinnen zuhause anzurufen. Ist nie gemacht worden. Später berichtete meine Mutter, sie hätte oft in der Einrichtung angerufen, aber ihr wurde immer erzählt, dass ich gerade so schön spielen würde (was nicht stimmte). Als ich nach 6 Wochen nach hause kam (alleine mit dem Zug), erkannte meine Mutter, dass es ein großer Fehler war mich dort hinzuschicken. Sie sagte, ich stieg aus und gab ihr völlig emotionslos und förmlich die Hand zum Gruß... danach hatte ich Aggressionen gegen sie und biß ihr (währen ich unter dem Eßtisch saß) in die Beine etc. (weiß ich nur von Erzählungen).
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Willi Schmidt schrieb am 14.01.2020
Die Geschichte der Verschickung beginnt mit dem Gips-Bett. Ich bin noch sehr klein. Etwas ist schief gewachsen bei mir, die Wirbelsäule ist nicht in der Form, in der sie sein soll, mein rechtes Bein ist länger als das linke. Aber so ein kleiner Körper ist noch dehnbar, kann angepasst werden. Mir wird ein Gips-Bett verordnet. So wird es jedenfalls genannt. Das ist ein weißes, hartes Brett, in leicht gebogener Form, ungefähr so lang wie ich groß bin, mit mehreren blauen Riemen an den Seiten. Das Gips-Bett bekommen wir mit nach Hause und ich muss mich mit dem Rücken darauflegen. Dann werde ich mit den Riemen festgeschnallt, an Füßen, Händen und Hüfte, so dass ich mich nicht bewegen kann. So muss ich liegen. Ich weiß nicht wie lange, wie oft. Eine Stunde, einen Tag, täglich, immer. Es kommt mir vor, als liege ich immerzu im Gips-Bett. Ich zerre irgendwann an den Fesseln, weil ich mich bewegen will, es ist schrecklich, sich nicht bewegen zu dürfen, ich will aufstehen, rennen, immerzu will ich rennen, und das tue ich auch immer, wenn ich losgeschnallt werde, angezogen bin, hinaus, und rennen, den Fußball suchen, ihn mitnehmen, auf die Wiese hinter dem Haus, und rennen. Bis ich wieder angeschnallt werde und liegen muss, im Gips-Bett. Dann hilft nur noch träumen, sonst nichts.
Als ich älter werde, brauche ich nicht mehr ins Gips-Bett. Es wird Gymnastik verordnet und das Tragen einer Einlage im linken Schuh wegen den unterschiedlichen Beinlängen. Ein Zentimeter ungefähr, wovon ich nichts merke.
Für die Gymnastik muss ich nach Marburg in die Orthopädie.
In den Fluren und im Wartesaal riecht es vermodert. Ich schäme mich beim Ausziehen. Aber die kühlen Hände der Frau im weißen Kittel tun wohl, wenn wir die Übungen machen.
Später, als ich älter bin, kann ich schon allein mit dem Bus nach Marburg fahren. Die Gymnastik ist jetzt auch im Schwimmbad der Orthopädie. Im warmen Wasser werden ich an den Hüften gehalten und mache Bewegungen, lerne allmählich auch schwimmen, zuerst mit dem Schwimmreifen, kann schaffe ich es schon ohne, ein Stückweit im Wasser.

Eines Tages werde ich dann von der Orthopädie in die Hautklinik geschickt. Seltsame Flecken haben sich auf meiner Haut herausgebildet. Vor allem auf der rechten Seite, an Armen, Hüfte, Beinen und es sieht aus, als wäre ich da stark sonnengebräunt, während die restliche Haut ganz hell ist. Der Arzt in der Hautklinik ist sehr interessiert. Er macht sich Notizen, murmelt etwas vor sich hin, es hört sich an wie: Eine besondere Ausprägung. So noch nie gesehen. Er spricht lange mit Mama, aber es scheint nichts Schlimmes zu sein, weder der Arzt noch Mama schauen ernst. Der Arzt mustert mich nochmal, schüttelt leicht den Kopf und lächelt mich an. Dann spricht er mit Mama einen Termin ab.
Ich stehe in einem Saal in der Uniklinik. Neben mir der Arzt, vor mir, um mich herum Männer und Frauen in weißen Kitteln, ich erkenne sie nicht genau, ich werde angeleuchtet und trage nur eine Unterhose. Der Arzt sagt: „Schauen Sie. Schauen Sie genau. Diese ungewöhnlichen Flecken auf der Haut des Jungen. Die Flecken in dieser Form sind ein seltenes Phänomen.“ Ich muss mich gerade hinstellen, ich zittere. Er fährt mit seiner Hand meine Wirbelsäule ab. Seine Finger sind kalt. „Typischer Haltungsschaden… schief gewachsen… natürlich zwei unterschiedliche Baustellen, kein Zusammenhang…“ Er fasst mich an den Schultern, dreht mich. Diesmal kommt die Kälte über seine beiden Hände. Ich zittere stärker. „Du brauchst doch keine Angst zu haben, meine Junge“, sagt er. Dann wendet er sich wieder an die Männer und Frauen in weißen Kitteln. „Und hier: die Flecken ziehen sich über die ganze rechte Seite nach unten, während die linke Seite unauffällig ist. Hier, bis zu den Beinen.“ Dabei streift er meine Unterhose nach unten. „Ein interessanter Fall. Aber unabhängig davon. Der Junge ist für sein Alter zu zart gebaut. Ein schwächlicher Junge… eine Kur täte dem Jungen gut… ich werde mit seinen Eltern sprechen.“

2
Ich werde zur Kur nach Karlshafen geschickt. Das ist gar nicht weit weg von uns. In Nordhessen. Mit dem Zug geht es nach Kassel. Dann der Umstieg in einen kleineren Zug, bis nach Karlshafen. Ich will da nicht hin, aber ich muss. Der Arzt in der Klinik hat das angeordnet und Mama und Papa lassen es ausführen. Ich muss. In Karlshafen ist ein großes Haus voller Nonnen. Jedenfalls sehen sie für mich wie Nonnen aus. An denen ist alles schwarz. Es ist, als würden sie immer Trauer tragen. Die sprechen nur in Befehlen. Am Anfang muss ich alles abgeben, was ich besitze. Nicht einmal die Fußballerbilder von den Spielern des FC Bayern, die ich bei mir trage, darf ich behalten. Ich will das Bild von Franz Beckenbauer nicht abgeben, ich sage, dass ich das von meinem Papa habe, mit einem Autogramm drauf. Und einen Wimpel. Der hängt bei mir zu Hause über dem Bett. Aber die Nonne ist unerbittlich, ich muss mich fügen und ihr das Bild geben. Ich sehe, wie sie es in den Papierkorb wirft.
Dann komme ich zu den an¬deren Kindern in den riesigen Räumen. Alle Räume sind riesig und in allen Räumen sind immer alle Kin¬der zugleich. Nur Jungs allerdings; in dem Waschraum, dem Essraum, dem Schlafraum. Es riecht schrecklich nach Seife und Zahnpasta. Beim Waschen nimmt eine der Nonnen einen Waschlappen und zeigt mir, wie ich mich zu waschen habe, auch zwischen den Beinen. Sie reibt mit dem Waschlappen ganz fest auf mir, da wo der Pimmel ist, dass es sehr weh tut. Mir schießen Tränen ins Gesicht, da kriege ich eine Ohrfeige. Zum Essen gibt es immer Hagebuttentee. Den mag ich nicht, ich will lieber Kaffee trinken, wie daheim, aber das ist verboten, die Nonnen befehlen mir, den Hagebuttentee zu trinken, ich würge ihn hinunter, sonst bekäme ich gar nichts. Ich fürchte mich vor ihrer Trauerkleidung.
Der bittere Geruch des Hagebuttentees. Kriecht langsam in die Nase. Das Ansetzen der großen, weißen Tasse an den Lippen. Die lauwarme Flüssigkeit. Der Hustenreiz. Das ruckartige Herunterschlucken. Der krampfhafte Schmerz im Bauch. Das Unterdrücken des Brechreizes. Und wieder das ruckartige Herunterschlucken der Flüssigkeit. Der bitter-abstoßende Geschmack auf der Zunge. Die Hitze, die sich über das Gesicht ausbreitet. Die aufsteigenden Tränen in den Augen. Und weiter. Sich zwingen. Der nächste Schluck. Der Schmerz im Bauch. Das kurzzeitige Absetzen der Tasse. Der strenge Blick der Nonne. Und weiter: unter Tränen, mit zittrigen Fingern, die an der Tasse kleben, der nächste Schluck, immer weiter, bis die Tasse endlich leer ist. Das Aufatmen, endlich. Die Entspannung im Bauch. Das sich abwischen der Tränen. Das beruhigte Sitzen auf dem Stuhl am Tisch. Der auf die leer getrunkene Tasse gerichtete Blick.

Im Schlafsaal stehen ganz viele Betten mit eisernem Gestell. Die Wände sind gelblich verblasst, über der Tür hängt ein großes Holzkreuz. Abends geht das Licht aus und wir liegen mit all den vielen Kindern in dem riesigen Schlafsaal, ohne müde zu sein. Da reden noch einige Kinder, es wird nicht gleich still. Und dann kommen die Nonnen durch unsere Reihen zwischen den Bet¬ten gerast und geben uns Ohrfeigen, alle bekommen Ohrfei¬gen, egal, ob man ruhig gewesen ist oder nicht. Das geht so lange, bis alle still sind, bis alle ihr Weinen ins Kissen gedrückt haben, damit es verstummt.
Zu Hause bekomme ich nie eine Ohrfeige und werde nie geschlagen. Nur einmal bekomme ich schwer Geschimpftes, weil ich gelogen habe. Es kommt aber heraus, und da packt sie mich an den Schultern und schüttelt mich und schimpft mich ganz laut, dass ich nicht lügen darf, auf keinen Fall lügen. Das sagt Papa auch immer und sie haben ja recht: es ist nicht richtig zu lügen. Es war nur, weil, Mama und Opa streiten oft, das kann ich nicht aushalten. Das kommt manchmal ganz plötzlich. Dann fliegt etwas durch die Gegend, wie neulich eine Schüssel Mehl und Mama knallt die Flurtür so heftig zu, dass die Scheibe zersplittert. Ich weiß nicht, warum sie sich so streiten, ich hau dann ab und verkrieche mich.

Zur Kur in Karlshafen gehört eine besondere Art des Badens. Dazu geht es im Schlafanzug, das große Badetuch in der Hand, hinter der Nonne her, die Treppe hinunter. Da ist ein großer, hellgrün gekachelter Raum, in dem stehen mehrere Badewannen, durch weiße Vorhänge getrennt. Auf Geheiß der Nonne ziehe ich meinen Schlafanzug aus und steige in die Wanne. Solbad nennen die das hier. Wasser mit Salz drin, so ein besonderes Salz, sagen die. Aber immerhin ist das Wasser so warm wie in der Orthopädie, wo ich Wassergymnastik machen muss. Und wenn ich erstmal in der Wanne sitze, werde ich in Ruhe gelassen und kann so für mich hindenken. Fast wie daheim, wenn ich in der Küche auf dem Holzkasten sitze, wo das Holz für den Herd drin ist und aus dem Fenster schaue.
Ich werde aus dem Träumen herausgerissen. Die Nonne fasst mir an die Schulter. Ihre Hand ist kalt. Ich muss raus aus dem warmen Wasser, steige aus der Wanne. Ich reibe mir die Augen. Dann erstarre ich. Ein Strahl eiskalten Wassers. Die Nonne duscht mich kalt ab. Ich friere. Ich zittere. Ich kriege eine Gänsehaut. Endlich darf ich mich abtrocknen.

Ich habe Heimweh. Hier lässt man mir keine Ruhe. Immer sind die Nonnen um mich herum und passen auf, hüten, kontrollieren. Malen dürfen wir nur in die vorgedruckten Formen im Malbuch. Ich will das vorgedruckte nicht malen, ich will das malen, was in meinem Kopf ist, aber das darf ich nicht. Ich starre an die Wand. Wenn ich lange auf die Wand starre, entstehen Bilder auf der Wand, als würde ich sie malen in meinem Kopf. Ich darf mein eigenes Bild nicht malen, deswegen male ich es in meinem Kopf an die kahle Wand.
Die Nonnen geben mir keine Zeit zum Nichtstun, zum Schauen. Immer muss ich was tun, und zwar das, was die Nonnen wollen. Nicht einmal vor dem Schlaf lassen sie mich in Ruhe. Sie wollen mich zerstören. Wenn ich mein Weinen ins Kissen drücke, sinne ich nach einem Ausweg. Über mir spüre ich den riesigen, bedrohlichen Schatten der Nonnen. Da kriege ich Fieber. Und als das Fieber nicht weggeht, kommt der Arzt. Es sind die Masern. Da sind überall die roten Flecken und das Fieber, die Erlösung. Ich entkomme ihnen.
Jetzt darf ich im Krankenzimmer liegen. Da bin ich meistens allein und das macht mich froh, denn ich habe meine Zeit wiedergewonnen. Einmal darf ich sogar Kaffee trinken, weil ich so krank bin und mir deshalb etwas wünschen darf.
Ich denke an Papa. Von ihm wünsche ich mir immer das Hasenbrot. Die Hände von Papa riechen nach Teer. Sie riechen immer nach Teer. Der Papa ist die Woche über unterwegs und teert Straßen. Freitagabends wird er von einem Bauarbeiterbus vor unserem Haus abgesetzt. Er kommt dann müden Schrittes mit seiner vollgepackten, abgewetzten Ledertasche zur Küchentür herein, stellt die Tasche ab und lächelt. Ich renne dann auf ihn zu und drücke meinen Kopf an die von Teergeruch durchzogene Arbeitshose, bis er seine rauen, warmen Hände über mein Gesicht gleiten lässt.

Die letzten paar Tage der Kur sitze ich im Krankenzimmer dann leicht ab, ich zähle sie heimlich jeden Abend, und dann darf ich wieder heim.

3
Ich sehe mich im Garten vom Haus Ditmarsia in St. Peter Ording. Wir spielen Völkerball im Garten. Ich habe kurze, blonde Haare, bin schmal, meine Arme sind sehr dünn, und auch meine Beine, man sieht das jetzt, wo ich in kurzer, schwarzer Turnhose umherrenne. Dafür, dass ich deutlich schmaler und kleiner bin als die meisten anderen, sind meine Beine aber erstaunlich lang. Ach, wenn wir doch mal Fußball spielen dürften, aber das dürfen wir nicht, ich schwitze, der Schweiß läuft mir über das Gesicht, über Arme und Beine, und immer weiter rennen, nicht stillstehen, das ist viel besser, als selbst zu werfen, beim Werfen habe ich keine Kraft und auch keine Technik, der Ball fliegt viel zu langsam, verhungert geradezu in der Luft, keine Chance, damit einen der anderen Jungs abzuwerfen, du wirfst wie ein Mädchen, wie ein Mädchen, und das Lachen poltert über mich hinweg, ich versuche es poltern zu lassen und es wieder zu vergessen, lieber wieder rennen, rennen und rennen und schwitzen und rennen und am Schluss, wenn das Spiel zu Ende ist, am Boden liegen, im Gras, ausgestreckt, grüne, feuchte Streifen auf Beinen und Armen.
Später gibt es kalten Kakao und Streuselkuchen. Unter Bäumen, im Schatten, auf langen Bänken hockend. Ich vertiefe mich in dieses Bild, trinke den Kakao, etwas gierig, mit großen Schlucken, kaue genüsslich den Streuselkuchen, spüre die Ruhe dieser schattigen Nachmittage. Aber sie sind selten, und wenn, dann nur von kurzer Dauer. So, jetzt singen wir gemeinsam, und dann geht es rein. Duschen und umziehen. Die Aufforderungen der Tanten kommen schnell und dulden keinen Widerspruch. Und schon stehen wir auf, treten an in gerader, fester Reihe und eine der Tanten stimmt ein Lied an.
Die zweite Verschickung, ungefähr drei Jahre später. Diesmal eine wesentlich weitere Reise. St. Peter Ording an der Nordsee. Haus Ditmarsia.
Wir fahren nachts. Ich bin mit fünf anderen Kindern im Liegewagenabteil. Ich kenne alle ein bisschen, kommen aus Nachbardörfern. Agnes geht mit mir in die gleiche Klasse, dunkelblonde Locken, dicke Brille. Wir plaudern, spielen Auto-Quartett, sind vergnügt. Das Zuhause ist noch nah. Die Färbung der Worte, der Klang der Laute sind vertraut. Geschlafen wird kaum. Alle sind aufgeregt, keiner ist allein so lange und so weit von zu Hause fort gewesen. Außer mir. Aber an die Zeit in Karlshafen will ich nicht denken, diese Zeit ist, als hätte sie gar nicht existiert.
Der Nachtzug, der diesmal ein Sonderzug ist, mit Kindern aus Mittelhessen, tuckert seinen gleichbleibenden Rhythmus über die Gleise, mal schneller, mal langsamer, auf seinem Weg zum Kurort an der Dithmarschen Nordseeküste, unweit der Kreisstadt Husum.
Alles, was jetzt kommt, ist neu, denke ich. Es mischen sich Neugier und Furcht. Ich betrachte aus dem Zug, nachdem es hell geworden ist, langgezogene, abgeerntete Felder, dazwischen kleine Wäldchen mit niedrigen Bäumen, keine Hügel am Horizont.
Es ist früh am Morgen. Wir Kinder aus dem Hessischen werden in verschiedene Heime aufgeteilt. Zwei Betreuerinnen des jeweiligen Heimes nehmen uns in Empfang, lassen uns in Zweierreihen antreten. Das Gepäck wird in Kleinbussen wegtransportiert. Ich muss mich von Agnes und meinen anderen Bekannten trennen. Agnes werde ich in den nächsten sechs Wochen nicht wiedersehen, zwei andere Jungs nur von weitem. Wir marschieren los in den fremden Ort. Der Wind ist kräftig und fremd.

In der Anfangszeit ist das Wetter schlecht, und es werden Spiele gespielt, es wird gesungen. Es gibt einen Chef, der spielt Akkordeon. Der hat einen blonden Vollbart und ein kantiges Gesicht. Trägt immer ein blaues Hemd. Der Chef hält Vorträge, über Ebbe und Flut, über das Land, wo wir uns befinden, was eine Halbinsel ist, oder ähnliche Dinge. Manchmal fragt er auch die Hauptstädte verschiedener Länder ab, oder wo welcher Fluss fließt. Wenn der Chef da ist (er ist nicht oft da), ist es ein wenig wie Schule. Vielleicht ist er Lehrer, wahrscheinlich sogar.
„Wie heißt die Hauptstadt von Kuba?“, fragt er und lässt seinen Blick über uns schweifen.
Das ist einfach, denke ich, und sehe den Globus vor mir, der bei uns im Wohnzimmer steht, daneben liegt mein großer Erdkundeatlas auf dem Tisch. Ich schalte die Lampe ein, die im Globus ist, drehe ihn und stoppe mit dem Finger ein Land, wo ich sein will. Dann schaue ich im Atlas nach, was es über das Land zu lesen gibt.
Ich melde mich und komme dran: „Havanna“, antwortete ich.
„Richtig.“ Dann denkt der Chef nach, während er uns alle genau beobachtet. „Und die Hauptstadt der Niederlande?“, fragt er schließlich.
Ich habe nicht gleich eine Antwort darauf, über die Niederlande habe ich noch nichts im Atlas gelesen, obwohl ich natürlich Johan Cruyff kenne und Ajax Amsterdam. Aber ist es auch Amsterdam?
Alle schweigen und der Chef hebt den Zeigefinger, als sei er ein unsichtbarer Stock. „Ja, unsere Nachbarn. Scheinbar leicht und doch nicht leicht“, sagt er, und fügt hinzu: „Es ist nicht immer das, woran man zuerst denkt, also?“
Da meldet sich der Junge, der neben mir sitzt. Er ist schmaler und kleiner als ich selbst und trägt eine dicke, runde Brille.
„Den Haag“, antwortet der Junge, als er vom Chef drangenommen wird.
Deshalb wird er hier „der Professor“ genannt, denke ich. Soll außerdem ein Ass in Mathematik sein.
Der Chef scheint zufrieden und führt dann weiter aus: „Den Haag ist Regierungssitz und Parlamentssitz. Aber für die Holländer ist trotzdem eigentlich doch Amsterdam die Hauptstadt.“ Dann kommt der Chef zu den Flüssen. Zuerst will er wissen, an welchem Fluss Wien liegt. Das weiß ich natürlich. Auch ohne Atlas. Meine Mama spricht dauernd von Wien, dass sie da hinwill. Ich glaube vor allem wegen der Sissi.
Jetzt will er wissen, an welchem Fluss Magdeburg liegt. Wieder schweigen wir alle und ich überlege, ob ich mich melden soll, während der Chef weiterredet, immer den Blick auf uns gerichtet. „Von der Ostzone weiß man ja heute nicht mehr viel. Und. Kann es einer beantworten?“
Ich melde mich, komme dran und sage: „Die Elbe. Magdeburg liegt an der Elbe.“
„Das stimmt. Woher weißt du das denn, mein Junge?“ Er schaut mich an, der Zeigefinger ist verschwunden, jetzt sind seine Hände gefaltet.
„Ich gucke Fußball im DDR-Fernsehen“, antworte ich. „Da spielt doch der 1. FC Magdeburg. Und da sagt das der Reporter: die Elbstädter.“
Der Chef geht ein paar Schritte auf mich zu, legt mir die Hand auf die Schulter. „Gut aufgepasst, mein Junge. Aber mit dem Fernsehen der Ostzone müssen wir vorsichtig sein. Alles Propaganda der Kommunisten. Also Vorsicht.“

Wenn es nicht regnet, spielen wir Völkerball. Nie Fußball. Ich frage mich warum. Es fehlt mir sehr, das Fußballspielen. Zu Hause spiele ich jeden Tag. Außer sonntags. Vielleicht mag der Chef kein Fußball. Ich verpasse die Sportschau, darf kein Fußball schauen. Völkerball spielen ist immerhin besser als Schwimmen. Ich mag nicht schwimmen. Ich schäme mich. Mein Körper ist zittrig und schief und fleckig.

Im Ditmarsia ist das Wasser aus den Duschen kühl und hat einen kräftigen Strahl. Mich fröstelt beim ersten Mal. Tante Bärbel heißt die Betreuerin, die beim Waschen dabei ist. Sie trägt einen blauen Badeanzug und hat lange schwarze Haare, die jetzt nass und strähnig über den Schultern hängen. Sie seift uns drei Jungs, die unter der Gemeinschaftsdusche stehen, ein, sich waschen lässt sie uns selbst. Passt aber auf, dass wir es auch überall tun, auch die Ohren nicht vergessen. Und wenn wir allzu schnell die kühle Brause verlassen wollen, scheucht sie uns wieder zurück. Aber immerhin tut es nicht weh, und ich denke für einen kurzen Moment an Karlshafen, aber nur ganz kurz, dann vergesse ich wieder Karlshafen.
“Zu warm zu duschen ist nichts für Jungs,” sagt Tante Bärbel und lacht, “nich, ihr wollt doch stark werden.” Und sie sagt nicht schtark sondern stark mit st. Ich wundere mich. Die Töne hier an der Nordsee klingen so klar und kühl. Und kühl sind die Hände von Tante Bärbel, die kräftigen Hände mit den geröteten Fingerspitzen, wenn sie mich einseift, über den Rücken, den Hintern, die Beine, den Bauch. Da kitzelt es, ich bin schrecklich kitzlig auf dem Bauch. Und Tante Bärbel kitzelt extra und lacht wieder. Jetzt schäme ich mich auch nicht mehr wie anfangs, als ich mich ausziehen musste vor Tante Bärbel oder Tante Hiltrud oder Tante Jutta. Außer dem Chef sind alle Betreuer Frauen, und obwohl sie alle “Tante” genannt werden, sind sie noch sehr jung. Bis auf die Älteste, die Tante Waltraud. Die hat am meisten zu sagen, hinter dem Chef, sie geht nie mit unter die Duschen.
“Du hast ja richtige Flügel”, sagt Tante Bärbel, “Engelsflügel.”
Ich verstehe nicht, was sie meint. Bis sie es mir zeigt: Die hervorstehenden Schulterknochen an meinem schmalen Rücken.
“Mädchen haben Engelsflügel”, sagt Tante Bärbel, “Jungs nicht. Jungs brauchen kräftige Schulter, um Engel tragen zu können. Damit sie losfliegen können. Aber das schaffen wir bei dir auch noch, wirst du sehen.”
“Hast du auch Engelsflügel?”, frage ich zaghaft.
“Na klar”, antwortet Tante Bärbel und zeigt sie mir und ich darf sie anfassen. Die jetzt feuchten und glatten Flügel der Tante Bärbel. Aber nur kurz, denn an dieser Stelle ist sie kitzlig und sie lacht auf. Dann haben wir Spaß miteinander, beim Kitzeln, wir drei Jungs und Tante Bärbel. Sie zeigt uns noch, wie man sich sorgfältig abtrocknet und die Zähne putzt. Dann in den Schlafanzug und ab ins Bett.

Wir liegen zu sechst im Zimmer, aufgeteilt in Zwei-Etagen-Betten. Ich liege unten, ich kann aus dem Fenster nach draußen sehen, Richtung Dünen. Dahinter muss das Meer sein, aber das ist zu weit, um es zu sehen. Neben mir, im Bett nebenan, unten, liegt der Professor.
Wenn ein Gewitter aufkommt, schlafe ich schlecht. Angespannt liege ich im Bett. Hände krallen die Bettdecke, mein Blick huscht zum Fenster hinaus, wo es grell aufblitzt, schließen kann ich die Augen nicht, dann wird das Blitzen nur schlimmer, ich muss hinsehen, in den Blitz hineinschauen. Mein Herz rast, der Himmel ist schief, die Sterne wackeln, vom Sturm gerüttelt treibt der Mond aus der Bahn, er wird ins Meer stürzen. Dann wird alles vorbei sein.
“Bist du wach?”, fragt eine ängstliche Stimme von nebenan. Der Professor zieht vorsichtig den Kopf aus der Decke. Um ihn beim nächsten Donner wieder zu verbergen.
“Du musst in den Blitz sehen”, sage ich leise, “das hilft. Und dann zählen, bis der Donner kommt. Soviel Kilometer weit weg ist dann das Gewitter.”
Der Professor zählt laut mit. Die Entfernung verringert sich. Unsere Gesichter sind einander zugewandt.
“Und wenn es gleichzeitig blitzt und donnert…” Wir schweigen und schauen uns an. Bis der Professor flüsternd weiterspricht. “Dann trifft uns das Gewitter mittendrin. Dann brechen wir mitten auseinander. Wie wenn Papa das Holz auseinanderschlägt, mit der Axt. Und dann?”
“Und dann fliegen wir zu den Sternen. Dann ist alles schief und wackelt und alles ist neu.” Auch ich flüstere, als tauschten wir ein Geheimnis aus, welches niemand erfahren dürfe. Dann strecken wir die Arme aus und fassen einander an den Händen. Bis das Gewitter vorbei ist, bis wir einschlafen können.
Ich hasse alle Wärter auf der Welt. Jetzt und für alle Zeit. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Ich hasse sie. Neben mir schläft der Professor. Er trägt eine dicke runde Brille. Alle lachen über ihn. Ich will sein Freund sein. Es ist die Nacht, als das Gewitter aufzieht. Die Sterne wackeln und sind schief. Schiefer als mein Rücken und schiefer als mein Blick. Die Wärter sind überall. Sie verkleiden sich. Wir müssen zurückschlagen. Wir, die Kinder von Ditmarsia, müssen zurückschlagen. Der Arzt, der in der Klinik meinen Körper ausstellte, der Chef von Ditmarsia. Ich habe euch nicht vergessen.

Der Chef unternimmt Wanderungen mit uns. Dann hat er sein Akkordeon dabei und stimmt frohe Lieder an. Blau, blau, blau blüht der Enzian. Oder: Schwarz-braun ist die Haselnuss. Wir Jungs müssen laut und deutlich singen. Die Lieder schmettern, wie er sagt. Mit Schmackes, wie er sagt. Wir singen Holladihi. Holladiho. Wir sind fröhlich. Wir müssen fröhlich sein. Wir sind Kinder. Und dann durch die Wälder marschiert. Dicht an dicht. Eine geschlossene Reihe müsst ihr bilden, ruft der Chef. Und immer voran, ohne Rast und Ruh, ruft der Chef. Schwarz-braun ist die Haselnuss, schwarz-braun bin auch ich, bin auch ich. Schwarz-braun muss mein Mädel sein, gerade so wie ich.
Wir Jungs verstehen nicht, was wir singen, aber es lässt uns zucken in Beinen und Armen. Im Takt schreiten wir voran. Leicht geht das, wie von selbst. Vorneweg der Chef. Mit kantigem Gesicht und blauen Augen. Auf, auf, Kameraden, auf, auf – auf, auf. Mit Akkordeon und donnernder Stimme. Wir lagen vor Madagaskar. Und hatten die Pest an Bord. In den Fässern da faulte das Wasser. Und täglich ging einer über Bord. Auf, auf. Voran. Und hinterher die Tante Jutta. Mit blondem dichtem Zopf. Und lächelnd. Hinterher.

Schwarzbrot und Graubrot. Butter. Jagdwurst, Salami, Schnittkäse, Quark. Manchmal Essiggurken. Und Hagebuttentee. Morgens wenigstens Milch. Aber kein Kaffee. Und süße Milchsuppe mittags. Und Milch für den Grießbrei. Und Milch für den Milchreis. Mit Obst. Mit Apfelmus. Milchbrötchen. Aber kein Kaffee. Ich beschwere mich beim Professor darüber.
“Was haben die bloß gegen Kaffee”, schimpfe ich, “ich trinke zu Hause immer Kaffee.”
“Ich auch”. Der Professor versteht: “Da ist bloß der Chef dran schuld, der will das so. Der Chef, der mit seinem Tee.” Der Professor verzieht den Mund.
“Teetrinker!”, verurteile ich und spiele Würgen. Wir lachen. Der Professor nimmt die Brille ab. Das macht er selten (außer beim Schlafen und Duschen natürlich). Es ist, als wolle er mir seine Freundschaft zeigen. Ich staune: wie groß seine Augen sind. Tief liegen sie in den Höhlen. Geschützt vom Glas der Brille. Sein Gesicht ohne Brille hat sich verändert, ist härter und fester geworden. Ich habe eine Tür geöffnet bekommen und durch einen Spalt ein Geheimnis sehen dürfen. Wie stark der Professor in Wahrheit ist. Kein Chef wird ihn kleinkriegen.
Ich habe nach Hause geschrieben und mich darüber beschwert, dass es keinen Kaffee gibt. Genauer gesagt: ich habe es versucht. Der Brief wurde nicht weggeschickt. Wurde eingezogen. Der Chef persönlich hat mir einen neuen diktiert: Mir geht es hier sehr gut. Das Wetter ist schön. Das Essen ist gut. Die Betreuer sind nett. Ich habe jetzt kein Heimweh mehr.
Die Stimme war streng, ich hatte keine Chance. Aber ich vergesse nicht, dass es eine Lüge war. Und erzähle es dem Professor. Ich verstehe das nicht, sage ich ihm, man soll doch nicht lügen, das weiß ich von meinem Papa. Wir versuchen es nochmal. Ich schreibe die Wahrheit, auch, dass der vorige Brief gelogen war, eine aufgezwungene Lüge. Aber die Briefmarke. Wie sollen wir an eine Briefmarke kommen? Wir bekommen kein Geld und sind immer unter Aufsicht. Es ist unmöglich, allein das Haus zu verlassen. Vielleicht nachts, aber wir liegen zu sechst im Zimmer, und den anderen ist nicht zu trauen.
“Wir kleben einfach keine Briefmarke drauf”, schlägt der Professor vor, “deine Eltern müssen dann die Briefmarke zahlen, aber die wissen dann ja, dass es von dir kommt und zahlen das dann bestimmt.” Ich bin einverstanden. Wie klug der Professor ist. Als wir wieder durch den Ort gehen und am Briefkasten vorbeikommen, lenkt er die Tanten ab und ich werfe schnell den Brief ein.

Ich stehe an der Tür zum Waschraum und lausche. Geräusche von spritzendem Wasser und Auflachen. Ich erkenne das Lachen des Professors und das von Tante Bärbel. Ich schleiche mich hinein und gucke durch den Spalt der Zwischentür. Gerade kitzelt Tante Bärbel wieder den eingeseiften Professor unter dem Wasserstrahl. Und der wehrt sich auflachend. Bis Tante Bärbel das Wasser abdreht und ihn fortschickt. “Abtrocknen. Anziehen. Und ab!”, befiehlt sie gespielt streng, dass es hallt im Waschraum. Der Professor gehorcht. Und während ich mich hinter der Tür verstecke, hat er sich sehr schnell fertiggemacht und ist hinausgeschlüpft.
Da geht wieder die Brause. Ich schaue durch den Spalt. Betrachte Tante Bärbel. Sie hat keinen Badeanzug an. Ich zögere kurz, dann ziehe ich den Schlafanzug aus, schlüpfe unbemerkt in den Duschraum und husche unter die Dusche. Für einen Moment erschrickt Tante Bärbel, und ich umschlinge von hinten ihren Bauch. Sie lacht kurz auf, dann drückt sie mich an sich, meinen Kopf an ihre Brust.
„Ich spüre deine Engelsflügel“, sage ich. Und für einen Moment stehen wir so da, umschlungen, während die Wassertropfen über uns hüpfen. Dann lässt sie mich los. Ich will gar nicht loslassen und halte mich an ihr fest. Da stößt sie mich weg, mit Wucht, dass ich ausrutsche und zu Boden falle.
Warum ist sie auf einmal so böse mit mir? Was habe ich Falsches getan? Mir schießen Tränen ins Gesicht, während noch immer das Wasser über mich läuft und die Tränen hinwegspült.
Tante Bärbel dreht das Wasser ab. Hockt sich zu mir, und fragt mich, ob ich mir weh getan habe. Ich gebe keine Antwort, drehe den Kopf weg, als sie mich trösten will, gucke auf den nassen Kachelboden.
“Bist doch noch so klein”, sagt Tante Bärbel, ganz ruhig geworden. Sie wickelt sich in ein großes Handtuch und reicht mir eins. Ich nehme es mechanisch und trockne mich ab, wie ich es gelernt habe.
Plötzlich steht der Chef im Bad. Ich sehe als erstes seine nackten Füße in dunkelblauen Badelatschen, dann die ganze kräftige, große Gestalt in hellblauer Trainingshose mit weißen Streifen. Schweigend sieht er uns an, dann macht er eine kleine Bewegung mit der Hand und sagt mit freundlicher Stimme zu mir: „So jetzt aber schnell ins Bett. Auf, Auf.“
Ich gehe. Aber nicht gleich ins Bett, sondern bleibe im Badvorraum stehen und beobachtete durch den Türspalt den Chef und die Tante Bärbel.
Der Chef schaut Tante Bärbel von oben nach unten an, ich sehe ein Grinsen auf seinem Gesicht. Tante Bärbel hat den Kopf gesenkt und guckt nach unten. Es ist still. Aus der abgedrehten Dusche fällt ein Wassertropfen herab, dann noch einer, und noch einer. Der Chef geht einen Schritt auf Tante Bärbel zu. Sie bewegt sich nicht, ich sehe die Gänsehaut bei Tante Bärbel, obwohl es doch ganz warm ist. Da kriege ich Angst, drehe den Kopf weg, husche lautlos davon, verkrieche mich ganz schnell unter der Bettdecke und schließe die Augen, ohne einschlafen zu können.
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Mike schrieb am 13.01.2020
Hallo Manfred! Mir wurde damals gesagt, ich müsse auf Kur, weil ich zu dünn sei. Nur, sechs Wochen ohne ein Elternteil und das (habe ich irgendwo gelesen) schon mit zwei jährigen Kindern?! So jünger die Kinder waren, desto verstörender muss das für sie gewesen sein.
Das da manch einer in seinem späteren Leben Ängste, oder ein Unwohlsein vor Reisen usw. entwickelt wundert einen nicht. Ich hatte lange Zeit Probleme mit fremden Menschen. Meine Mutter meinte das ich mich als Kind hinter der Couch, oder in meinem Zimmer versteckt habe, wenn Bekannte kamen. Lange konnte ich auf niemanden zugehen und sprechen fiel mir sehr schwer. Ich höre heute noch die Kinder von damals im Ohr- „was ist den mit dem los, mit dem stimmt doch irgendwas nicht“. Nun wird mir immer deutlicher bewusst warum das so war. Ich habe die Erwachsenen in frühen Jahren meist sehr böse erlebt und musste mir die Menschen erst sehr genau anschauen bis ich Vertrauen aufbauen konnte. Ob dieser Verschickungsaufenthalt jetzt einen Großteil dazu beigetragen hat kann ich leider nicht sagen.
Zum Glück habe ich damit heute nicht mehr so zu kämpfen, aber es gibt manchmal Situationen da fällt es mir immer noch schwer. Meist vor größeren Gruppen.

Wohin bist du denn verschickt worden?

Wird wirklich vermutet das Medikamente an den Kindern getestet wurden?

Ich hatte immer ein Gefühl das dies ein sehr komisches Erlebnis meiner Kindheit war.

Schön das du geantwortet hast!

Gruß

Mike
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Ina schrieb am 12.01.2020
Ich bin jetzt 54 Jahre alt und wurde vor 50 Jahren im April 1970 zusammen mit meiner Schwester (diese ist 1 Jahr älter als ich) verschickt. Wir waren vom 1. April bis zum 11. Mai auf Amrum, Norddorf, Haus Utjkiek. Ein Bericht meiner Schwester folgt noch, sie ist ebenfalls traumatisiert.
Die größte Angst und das Gefühl von Verlassenheit hatte ich während der langen Zugfahrt und nachts. Meine Schwester und ich wurden größtenteils getrennt. Nachts mußten wir regungslos im Schlafsaal liegen und durften uns nicht bewegen. Ich habe auf diese Situation mit Essensverweigerung reagiert und nicht mehr gesprochen. Zur Strafe wurde ich im Essensraum eingesperrt und musste alleine vor meinen Butterbroten den ganzen Morgen sitzenbleiben. Das war psychische Gewalt! Das war eine Zeit des Grauens!
Ich habe bis zum 14. Lebensjahr nur mit Kopfschlagen einschlafen können. Ich war ein sehr zurückgezogenes Kind. Ich kann bis heute nicht im komplett dunklen schlafen, brauche immer ein bischen Licht. Ich habe 3 mittlerweile erwachsene Kinder. Ich habe sie mit Ausnahme des Kindergartens nie von anderen betreuen lassen, habe meinen Job aufgegeben um immer bei ihnen sein zu können. Selbst die Omas der Kinder habe ich zur Betreuung nicht gewollt. Damit möchte ich verdeutlichen, welche weitreichenden Folgen in die Zukunft diese 6 Wochen in meinem Leben gehabt haben.
Meine Schwester und ich haben in späteren Jahren unsere Eltern darauf angesprochen und dass es ein schrecklicher Aufenthalt war. Wir sind auf taube Ohren gestoßen und uns wurde gesagt, dass es von "allen" empfohlen wurde und doch so toll dort sein sollte für Kinder.
Wie kann man so kleine Kinder ohne Eltern "verschicken wie Pakete"? Wieso haben das solche Massen von Eltern ohne Bedenken gemacht? Was wurde denen erzählt/vorgegaukelt? Auf diese Fragen habe ich bis heute keine Antwort.
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Mike schrieb am 12.01.2020
Hallo in die riesige Runde! ?

Erstmal ein großes WOW! Heute bin ich zufällig durch eine Kurzdoku auf dieses Thema gestoßen und mir wird ganz schaurig, dass es so viele Menschen gibt die das gleiche Leid mit mir teilen, welches seit nun 40 Jahren immer wieder Fragen aufwerfend durch meinen Kopf geht.
Warum schickt man so junge Kinder sechs Wochen lang auf „Verschickung“ (das Wort ist mir neu in diesem Zusammenhang)? Auffällig ist auch, das es oft Kinder waren die zur Gewichtszunahme dort hingeschickt wurden- wieso? Wurden Eltern dazu gezwungen, oder waren die Fälle freiwillig?...
1980 mit gerade fünf Jahren hatte man mich irgendwo ins Allgäu deportiert (kann man so sagen). Meine Mutter, alleinerziehend, brachte mich zum Bahnsteig und ich wurde von fremden Menschen in ein Zugabteil gesetzt. Ich wusste nicht wo die Reise hinging, gefühlt war die Fahrt endlos. Erst mit dem Zug und später noch mit dem Bus. Es muss Winter gewesen sein, überall lag Schnee, durch den wir in Erinnerung stundenlang laufen mussten. Dunkel erinnere ich mich noch an das Haus. Man ging rein und stand in einem großen Eingangsbereich (der glaube ich auch der Essbereich war). Die Zimmer gingen ringsum von diesem Bereich weg. Links angefangen, der große Schlafsaal mit Kratzliegen wie im Kindergarten in den 70ern und rechts davon ein kleines Zimmer, in dem gefühlt immer ganz viel abging. Darin standen lauter Mitbringsel, Schneekugeln, Postkarten, kleine Fernseher durch die man Fotos anschauen konnte wenn man ins Licht schaute. An den Rest des Gebäudes kann ich mich leider nicht mehr genau erinnern.
Der Umgang allgemein war sehr hart, was kleine Kinder sehr schnell beunruhigte. Außerdem dachte man, dass man seine Mutter nie wieder sehen würde, auch weil der Abschied so abrupt und schnell war. Verstört hatte man sich an die Situation gewöhnen wollen, aber man konnte es nicht. Ich war natürlich auch schon einiges vorher gewohnt. In den ersten zwei Lebensjahren, meine Mutter war in der Ausbildung, wurde ich unter der Woche bei einer Pflegefamilie abgegeben, bei der ich von der Frau sehr aggressiv behandelt wurde. Seelische, wie auch körperlich Misshandelt, war ich in dieser Verschickungszeit schon etwas abgestumpft. Vielleicht kam mir das zu gute und ich nahm dadurch manches nicht so verletzend wahr.
Ich hatte das Pech, dass mein Bett direkt an der Tür stand. Sehnsüchtig hat man am Abend schon mal weinen müssen und wurde mit lauter Stimme angefahren. Zwei Brüder sind ständig aufgestanden in der Nacht und haben mich an den Haaren gezogen und mir gedroht. Ich kann mich an Bruchstücke erinnern, in denen man ungerecht draußen im Flur stehen musste in der Nacht, obwohl die anderen einen gehänselt hatten und man sich nur wehren wollte. Zu essen gab es sehr oft Butterbrot mit Zucker darauf und an lange vor dem Essen sitzen bis es aufgegessen war habe ich auch noch Erinnerungen. Dazu, komischerweise oft so orangene Pillen und an Spritzen kann ich mich auch erinnern. Alles immer in diesem Zimmer mit den Mitbringseln.
Die Schneewanderungen waren sehr kalt und anstrengend. Ich bekam oft zu spüren das ich zu langsam bin. Viele Erinnerungen sind nicht mehr da, aber wie gesagt, meine Haut war vorher schon dicker. Im Ganzen war es eher ein einschüchterndes Erlebnis.

Jetzt noch eine Frage- hatte denn jemand mit zunehmenden Alter immer noch Gewichtsprobleme, oder habt ihr wie ich mit angehender Jugend euren Eltern den Kühlschrank ständig geplündert? Wie Naiv doch die Erwachsenen damals waren.

Mich würde aber doch sehr interessieren, warum man das damals so vielen Kindern angetan hat?

Fühlt euch gedrückt!

Mike
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Katrin schrieb am 12.01.2020
Liebe Anja,

danke für Deine Initiative. Was mir noch nicht klar ist: 1. Welchem Bundesland ist man zugeordnet? Bei mir sind Elternhausadresse, Heimadresse und jetzige Adresse in 3 verschiedenen Bundesländern... 2. Ist mit "Ansprechpartner/in" und "Veranwortliche/r" bezüglich des Heimortes etwas unterschiedliches gemeint? (Z.B. bezüglich des Arbeitsaufwandes, man muss ja ggf. auch über entsprechende Ressourcen verfügen.)
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Andrea schrieb am 11.01.2020
Lieber Wolfgang, ich halte es für sehr wichtig, dass niemandes Erfahrungen infrage gestellt werden. Auch Deine (positiven) nicht. Deshalb finde ich Deine Anmerkungen auch sehr wichtig. Es gibt objektivierbare Sachverhalte, wie die häufig genannten Strafen etc., aber eben auch Gefühle, die bei jedem und jeder anders aussehen können. "Nur" Heimweh kann - trotz sonst unproblematischer Situation - auch traumatisierend erlebt werden. Dabei spielt mit Sicherheit auch das Alter der Kinder eine große Rolle. Meine Schwester, die damals knapp 9 Jahre alt war, erlebte dieselbe Kur völlig anders als ich mit erst 6 Jahren, die ich mich hilflos ausgeliefert und verlassen fühlte.
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Kathi schrieb am 11.01.2020
Kathi

Ich war dreimal in in sog. Erholungskuren:
Januar/Februar 1960 für 6 Wochen im Haus Gutermann in Oberstdorf (8 Jahre alt)
Juli/August 1964 für 6 Wochen im Haus Hamburg in Bad Sassendorf (12 Jahre alt)
Juli/August 1968 für 4 Wochen im Haus Schimmelreiter in Wertach (16 Jahre alt)
Bei den beiden ersten Aufenthalten war meine ein Jahr jüngere Schwester mit dabei.
Im Großen und Ganzen habe ich nur negative Erinnerungen an die Zeiten. Am schlimmsten empfand ich das Fehlen jeglicher Privatsphäre, man war nie für sich allein. Es ging streng zu, aber an Strafen oder gar Schläge bei mir oder anderen kann ich mich nicht erinnern.
Bei den beiden ersten Aufenthalten musste man Mittagsschlaf halten und abends auf die Minute im Bett liegen, ohne sich zu regen, geschweige denn zu reden. Daran haben sich auch alle Mädchen gehalten. In Wertach ging es etwas lockerer zu.
Die Pflegerinnen/Erzieherinnen?? waren nicht unfreundlich zu uns Kindern, aber auch nicht besonders freundlich. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich nicht sehr für uns interessierten, an persönliche Gespräche kann ich mich nicht erinnern. Allenfalls daran, dass einzelne Kinder mal wegen irgendetwas ein Lob erhielten. Aber selten, ich nie.
In Oberstdorf mussten wir sechs Wochen lang jeden Morgen Haferschleimsuppe essen, was auch alle brav gemacht haben. Ich habe damals im Schnee nur gefroren, denn im Gegensatz zu den anderen hatten meine Schwester und ich keine lange Hose, sondern nur Strumpfhosen. Eine "pädagogische" Maßnahme war, dass die älteren Mädchen den kleinen beim Waschen und Anziehen helfen sollten. Wie das? Mit 8 Jahren konnte ich das längst allein. Zum Ausgleich habe ich mir die dicksten Bücher zum Lesen geholt.
In Bad Sassendorf wie auch in Oberstdorf wurde die Post, die wir nach Hause schrieben, selbstverständlich von den Pflegekräften vorher gelesen. War eben so, genau wie die der leer zu essende Teller. Das Schönste in Sassendorf war das viele gemeinsame Singen von Liedern aus der "Mundorgel". Das Schrecklichste für mich waren die jeden Sonnta-nachmittag veranstalteten Volkstänze mit den Jungengruppen. Dabei ging es zu wie in der Tanzschule, die Jungen forderten die Mächen auf. Dass ich so gut wie nie aufgefordert wurde, hat mich beschämt, wurde aber von Erzieherinnen nicht bemerkt. Ich hasste diese Veranstaltung, andere freuten sich darauf.
In Wertach war ich wegen meiner Magersucht (39 kg). Ich habe es geschafft, dort kein Gramm zuzunehmen. Eine "Tante" meinte einmal zu mir: "Mensch, ist die Frau dünn". Das war alles, ansonsten keine Gespräch, kein Interesse an meinem Zustand.
Insgesamt war ich jedes Mal froh, wenn die Zeit herum war.
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Melanie schrieb am 11.01.2020
Die "klassischen" 6 Wochen Erholungskur, wurden auch für mich zu einer traurigen Zeit meiner Kindheit und eine gefühlte Ewigkeit. Auf Anraten des Kinderarztes wurde ich nach Bad Dürrheim in das Kindersanatorium Luisenheim geschickt, vom 14. Mai bis 25. Juni 1976. 5 Jahre war ich damals alt als ich anreiste, 6 Jahre als ich endlich wieder nach Hause durfte. Zugegebenermaßen war ich vorher recht häufig erkältet und durfte daher auch die ersten Wochen nicht mit in das Hallenbad im Kindersanatorium. Was meine Vormittag sehr einsam machte.

Meine Mutter erzählte neulich wie überrumpelt und geschockt sie war, dass sie nicht mit rein durfte ins Haus, sondern mich an der Tür abgeben musste. Heute sagt sie, Sie hätten mich einfach wieder mitnehmen sollen. Meine Eltern hatten mich mit dem Auto nach Bad Dürrheim gebracht und wie die noch vorhandenen Briefe/Unterlagen zeigen, haben wir auch noch ein Mädchen von unterwegs mitgenommen.

Von der Kur als auch von meinen 6. Geburtstag (9. Juni) habe ich nur einzelne Erinnerungen. Am Geburtstag durfte ich ausnahmsweise mit meinen Eltern telefonieren – ansonsten gab es wie bei allen nur Kontakt über Briefe.Und ich konnte ja selbst noch nicht schreiben. Ich sehe mich stehend telefonieren, der graue Telefonapparat war an der Wand angebracht. Das erste (und einzige) Mal, dass ich die Stimme meiner Eltern hörte in all der Zeit. Viel gesagt habe ich nicht. Noch heute wird meine Kehle eng, wenn ich an die Situation denke. Denn direkt hinter mir stand eine der Schwestern (vom Chrischona Orden wie ich zwischenzeitlich weiß). Vermutlich hat sie aufgepasst, dass ich nicht "Falsches" sage. Diese Ohnmacht, dieses Nichts sagen können, Nicht-Gehört werden, Alleine sein ist es war ich als dumpfes Gefühl, als Resümee der Erinnerungen noch heute spüre. Kurz gesagt: Ich hatte irrsinniges Heimweh.

Besonders in den ruhigen Stunden nachmittags und abends. Nach dem Mittagessen war jeden Tag zwei Stunden Mittagschlaf angeordnet. Wir mussten Schlafen oder zumindest Schweigen. Die Türen unserer Zimmer standen offen. So hörten die Schwester schnell wenn jemand jammerte oder laut weinte und kamen rein, um für Ordnung zu sorgen. Ich habe im Kindererholungsheim gelernt geräuschlos zu Weinen, um nicht auf mich aufmerksam zu machen. Diese lautlosen Tränen sind mir bis heute geblieben. Der Zusammenhang wurde mir tatsächlich erst neulich richtig klar, als ich über die Berichte in der Presse, auf diese Seite hier gestoßen bin.

Viele unserer Berichte und Erlebnisse ähneln sich. Vieles war systematisch angelegt, wie ich durch Briefe und Merkblätter weiß, die mein Vater in seiner Sammelleidenschaft glücklicherweise aufgehoben hatte. Das Diakonische Werk der evang. Landeskirche in Baden hat ein Merkblatt über die Aufnahme in Kindererholungsheimen herausgegeben. Ich zitiere Punkt 10:
„Während des Aufenthaltes im Heim sind – im Interesse der Kinder – Besuche von Eltern, Verwandten usw. nicht gestattet, ausgenommen in dringenden Fällen nach vorher eingeholter Erlaubnis der Heimleitung.

Es ist unerwünscht, Kinder frühzeitig aus den Kuren abzuholen!
Die Heime behalten sich in diesen Fällen vor, die gesamten Kurkosten den Eltern in Rechnung zu stellen, auch Krankenhassen und Versicherungsträger gewähren dann keine Zuschüsse.

Die Heimleitungen bitten, nicht unbedingt erforderliche Telefonanrufe zu unterlassen. Es wird auch gebeten, den Kindern keine Päckchen oder Pakete mit Obst oder Süßigkeiten zu schicken, außer an Geburtstagen, zu Ostern oder zum Nikolaustag."

Meine Eltern hatten mir zum Geburtstag eine Stoffkatze geschickt. Die einzige wirklich positive Erinnerung.
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Barbara Frohnwieser schrieb am 10.01.2020
Ich war ca. 1985 auf Erholungsurlaub am Semmering bei Wien. Es war schrecklich ..... zum Essen wurden wir gezwungen ..... Post wurde abgefangen und andere nach Hause geschickt .... ebenso das Taschengeld weggenommen ..... eine „Tante“ hat mich, weil ich nachts im Bett lag und weinte, in der Finsternis bei den Haaren gepackt und mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen ..... ich hatte soooo Angst vor dem Lichtkegel ihrer Taschenlampe. Wenn ich ihre Schritte am Gang hörte, erstarrte ich und traute mich nicht mal zu atmen ...... es gab null Intimsphäre ..... Kloräume ohne Zwischenwände ..... und wir Kinder trauten nicht mal uns untereinander .... jeder hatte Angst vor Strafen ..... so dass wir alle nur wisperten und uns gut überlegten was wir sagen ..... ich hab noch nie darüber geredet weil ich dachte nur ich hab das so erlebt ..... ich schäm mich bis heute ?
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Christiane schrieb am 10.01.2020
Hallo Christian, das was Du schilderst, ist mir genau so passiert und zwar zur selben Zeit in Bad Reichenhall. Wir hatten Spinte mit einem Bild vorne drauf und mein Koffer ist trotz der Namensschildchen in den Kleidern vertauscht worden und andere Kinder haben ständig meine Sachen getragen. Es fehlte auch viel als ich wieder zu Hause im Ruhrgebiet war. - Christiane
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Katrin schrieb am 10.01.2020
Ich habe gestern berichtet. Und: ja, das Heim gibt es doch noch, da hatte ich offenbar eine falsche Information.

Katrin
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Katrin schrieb am 10.01.2020
Zum Kinder-Verschickungsheim in Lenste (Lensterhof) bei Grömitz und meinem Aufenthalt dort habe ich nun gestern etwas geschrieben...

Katrin
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Oliver Degen schrieb am 10.01.2020
2 Heimaufenthalte mit ca 6 und 8 Jahren, Juist und Amrum. Durch die kürzlich gesehene Report-Sendung hab ich mich überhaupt erst wieder erinnert. Es fällt mir schwer, darüber zu reden, weil es mich emotional sehr aufwühlt, was mich nach der langen Zeit wirklich überrascht. Ich schaltete den Fernseher ein und sah als Erstes den Interviewten, der Erbrochenes essen musste. Das war auch in meinem 2.Heim Praxis, bin deshalb auch nur mit Angst zu den Mahlzeiten. Strafaufenthalte im kalten Bad, Frühgymnastik in der Kälte, zur Bewegungslosigkeit im Krankenzimmer verdammt, schreiendes Heimweh... eigentlich eine Art Gefängnis....
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Monika Winter schrieb am 10.01.2020
Mein Zeugnis
An häusliche Gewalt gewöhnt - ich hatte aus bestimmten Gründen eine Eßstörung - wurde die Fürsorge informiert und so wurde ich 1962 nach Westherbede verschickt. Es war das Kindererholungsheim der Stadt Bochum in Westherbede. Ich habe keine Erinnerungen an das Tagesprogramm und die Dauer des Aufenthalt. Aber es gibt sehr plastische und auch nebulöse Erinnerungen an das Schlimmste.
Das Schlimmste war das Essen. Meist saß ich als Letzte an der rechten kurzen Seite des langen Tisches. Die anderen spielten schon draußen, während ich das Erbrochene wieder essen musste. Ich wusste was geschieht. Die Nonne stand im Türrahmen und befahl: Iß! Das Folgende konnte ich nicht vermeiden. Sie zog mich mit Gewalt in den Waschraum und schlug mich so, wie andere Kinder auch.
Geschlafen haben wir in einem Schlafsaal. Jedes Kind wurde kontrolliert ob es richtig liegt. Die große Frau vor dem Bettchen war immer ein Schreck. Ich erinnere mich, daß vor dem Schlafsaal eine Wache saß und so konnten wir nicht zur Toilette obwohl es dringend war.

Das Waschen in dem Bad der Züchtigung war auch nicht normal.
Wir haben Ausflüge mit dem Bus gemacht und in einer Vision sehe ich aus dem Fenster das große Haus nach unserer Rückkehr. Gelaufen wurde streng in einer Reihe je 2 Kinder. Wer ausscherte, wurde grob zurück gestoßen.
Da ich noch nicht schreiben konnte wurde eine Karte an meine Eltern geschickt. Ihr Besuch war nicht gestattet.

Eines Tages bekam ich ein Päckchen von zuhause mit einer schwarzen Puppe. Die durfte ich behalten.
Wir wurden während der "Kur" in Bochum geimpft. Den Impfpass habe ich noch.

Nach meiner Rückkehr stand ein Sarotti Mohr auf dem Tisch. Ich habe nicht gesprochen und war dünner als vorher. Ich dachte, wenn ich erzähle was da war bekomme ich gleich wieder Schläge weil ich dort nicht gegessen habe. Und tatsächlich ging es wie gewohnt weiter.
Im Jahr darauf wurde ich eingeschult und wurde als schüchtern und gehemmt bezeichnet.

Ich bin Einzelgängerin. Kann mich nicht binden, hab berechtigt kein Vertrauen in andere und konnte nie im Team arbeiten. Ich habe gearbeitet und bekomme Altersrente aber solcher Kontakt mit Kollegen, wie es üblich war, ging nicht. Kontakte mit Nachbarn werden vermieden. Ich hab alles verloren durch Menschen und hab mir alles neu aufgebaut. Ich bin sehr vorsichtig geworden.
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Michael schrieb am 10.01.2020
Danke für die Verlinkung! Mir persönlich sind diese Zeugnisse bereits bekannt.
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C. Goeden schrieb am 10.01.2020
Zu Brilon gibt es noch ältere Zeugnisse:

https://www.stern.de/noch-fragen/war-jemand-auch-in-einem-kinderheim-bei-brilon-in-den-60ern-und-hat-da-so-dinge-erlebt-1000634082.html

und hier sind mehrere Berichte zusammengefasst:

https://www.gelsenkirchener-geschichten.de/viewtopic.php?t=7233&start=15&postdays=0&postorder=asc&highlight=
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Michael schrieb am 09.01.2020
Unfassbar! Wenn ich Deine Beschreibung lese, habe ich ein Deja-Vu. Alles ist wieder präsent.
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Christian schrieb am 09.01.2020
Deine Beschreibung würde zum Kinderheim Dr. Selter in Brilon passen. Die Adresse ist Möhneburg 3. Bilder findest Du mit diesen Stichworten im Netz.

Grüße

Christian
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C. Goeden schrieb am 09.01.2020
In Brilon im Heim Dr. Selter war ich 1980 als 10-jähriger. Da hat sich seit 1970 offenbar nicht viel geändert.

Ich kenne ebenfalls Esszwang, Unmengen widerlicher, lauwarmer Milch mit Haut, Kunsthonig am Abend zur Kariesförderung, Essigwasser am Nachmittag. Ich esse heute weder Honig noch Milchprodukte.

Die Bürstenmassage gab es auch noch, allerdings durften wir die Hosen anbehalten und mussten mit freiem Oberkörper im Waschraum antreten. Im Waschraum stand ein großes, ovales Waschbecken mit etwa 10 Wasserhähnen, an welchem auch die tägliche Katzenwäsche durchgeführt wurde. Nach dem Bürsten mussten wir uns mit dem Armen in diesem Becken unter einem Wasserhahn abstützen während der Rest unseres Körpers von einer Tante emporgehoben und zwischen ihren Beinen eingeklemmt wurde, so dass das kalte Waser über die Schultern abfloss.

Geduscht wurde jede Woche so, wie von Dir beschrieben: Wir mussten nackt antreten und wurden von einer "Tante" in Gummistiefeln und Schürze abgeduscht. Fand ich damals entwürdigend, daheim konnte ich mich selbst waschen.

Dann erinnere ich mich noch an wöchentliches Solarium. Das Gerät hing in einem Raum im Dachgeschoss an der Decke. 10-20 Kinder mussten sich bis auf die Unterhose entkleiden und warten, bis sie "dran waren". Dann gab es immer für 4 Kinder Schutzbrillen und wir lagen einige Minuten auf dem Rücken und danach einige Minuten auf dem Bauch unter der Höhensonne.

Dienstag Vormittag war Schreibtag. Als fast 10-jähriger durfte ich selbst schreiben und habe die Zustände korrekt beschrieben. Wie ich erst daheim erfahren habe, hat meine Mutter daraufhin im Heim angerufen und sich über die Behandlung dort beschwert. Sie wurde von Fr. Selter dreist belogen: Selbstverständlich müsste ich nichts essen, was ich nicht mag und überhaupt sei alles in bester Ordnung. Erzählt wurde mir von diesem Anruf natürlich nichts. Allerdings setzte danach für den Rest des Aufenthalts strenge Postzensur ein.

Anfangs und Ende des Aufenthaltes und glaube ich einmal zur Halbzeit wurden wir von Dr. Selter himself untersucht. Im Wesentlichen beschränkte sich das darauf, die bis auf die Unterhose entleideten Kinder auf eine Waage zu stellen, wobei jeder Gewichtszuwachs von seiner ebenfalls anwesenden Gattin euphorisch gefeiert wurde. Ich bin normalgewichtig angekommen und nach 6 Wochen als adipöser Klops heimgekommen. Meine Mutter war entsetzt. Nach 2 Jahren FdH war wieder alles im Lot.

Der Gang vor den Schlafräumen war meine ich nicht mehr bewacht. Allerdings stand einmal "Tante" Selter im Türrahmen, weil wir im Bett noch geredet hatten. Daraufhin wurden wir mit viel Gezeter aus den Betten geholt und Standen einige Zeit barfuß im Schlafanzug im dunklen Waschraum auf den kalten Fliesen. Danach folgte der zweite Anschiss und dann durften wir wieder ins Bett. Einige jüngere Kinder (6 oder 7) hat sie auch mal mit großem Getöse nachts im Februar im Schlafanzug und barfuß vor's Haus gestellt, "weil Ihr es nicht Wert seid, für Euch ein Bett warm zu halten".

Überhaupt war eine große Bühne bei Bestrafungen immer wichtig. Keiner sollte sich sicher fühlen und keiner wusste, wer der nächste ist oder wann der Blitz wieder einschlägt. Es reichte, beim freien Spiel das "Falsche" zu spielen oder aus Bauklötzen nicht das "Richtige" zusammenzusetzen, um ihren Unmut zu erregen.

Das Heim lag außerhalb von Brilon am Waldrand an einer unbefahrenen Straße. Wir wurden vom Bahnhof mit einem Bus abgeholt. Wo wir da genau waren, habe ich erst Jahrzehnte später nach der Erfindung des Internets festgestellt: Möhneburg 3, 59929 Brilon. Das hat den Eindruck des eingesperrt-seins und der totalen Verlassenheit ziemlich verstärkt.

Ich könnte noch einiges weiterschreiben, das soll für's erste reichen.
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Ilka Dreves schrieb am 09.01.2020
Hallo zusammen, habe bereits den Fragebogen ausgefüllt und möchte hier noch Zeugnis ablegen.
Ich war Anfang der 1970 er Jahre als 7 oder 8 Jährige in Oy-Mittelberg im Allgäu zur „ Erholung „.
Meine Erinnerungen sind nur schrecklich.
Zum Essen gezwungen worden, Pudding mit Haut essen müssen, erbrochenes wieder essen müssen,
Mittagsschlaf auf Pritschen für 2 Stunden ohne sich umdrehen zu dürfen, musste 1 Woche die gleiche Unterwäsche tragen, obwohl ich genug dabei hatte, bei Weinen vor lauter Angst und Heimweh im Flur stehen, nachts, nicht auf Clo dürfen, wenn ins Bett gemacht wurde, eiskalte Dusche, Text für Karten nach Hause wurde an Tafel geschrieben, keiner durfte eigene Worte formulieren.
Ein Kind hat es geschafft einen Brief in einen Briefkasten zu stecken und wurde umgehend abgeholt.
Das ist noch nicht alles, aber das waren die Dinge, die irgendwie immer noch präsent sind.
Denke noch immer oft an diese schreckliche Zeit und denke inzwischen, dass meine heutigen Probleme auch von diesen 6 Wochen kommen.
Hab all die Jahre gedacht, ich wäre ein Einzelfall und hätte mir manches nur eingebildet.
Danke, dass diese schlimmen Dinge jetzt ans Licht kommen. Lg Ilka
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Katrin schrieb am 09.01.2020
Ich wurde als 8-Jährige mit einer Freundin zusammen 6 Wochen nach Lenste an der Ostsee verschickt. Das Heim existiert heute noch als Hamburger Schullandheim "Lensterhof", siehe z.B. https://www.hamburger-schullandheime.de/freizeithaus-lensterhof.html, https://schullandheim.de/index.php/slh-lenste, http://www.ostseefreizeit-groemitz.de/. Ich kann mich an das Gebäude, sogar an den auf einer der Internetseiten verfügbaren Grundriss des Schlafgeschosses erinnern (inklusive des Schlafraumes und Bettes in dem ich schlief).

Die folgenden Aussagen basieren sämtlich auf meiner Wahrnehmung und Erinnerung: Der Verschickung vorausgegangen war die in regelmäßigen Abständen stattfindende Untersuchung bei der Schulärztin, die mich „zu dünn“ fand. Ich war tatsächlich sehr dünn, wog nur 22 kg. Ich fand die Idee cool, einmal ohne Eltern mit vielen anderen Kindern zusammen zu sein und habe mich darauf gefreut. In Lenste angekommen, wurden die aus dem Bus aussteigenden Kinder nach Geschlecht aufgeteilt in zwei Gruppen. Ich – kurzhaarig und mit einer kurzen Lederhose bekleidet – wurde zunächst der Jungengruppe zugewiesen. Als ich klarstellte ein Mädchen zu sein, glaubte man mir zunächst nicht! ("Nein, Du bist ein Junge ...!") Ich hatte kurz die Befürchtung, zum Beweis meine Hose ausziehen zu müssen, bis mir meine Aussage schließlich doch abgenommen wurde.

Im Kinderheim herrschte ein fast militärisches Regime, so dass ich mich bald nach Hause zurück sehnte. Kinder wurden aus nichtigen Anlässen geschlagen, das Essen war rationiert, ohne Auswahlmöglichkeiten und teils ekelhaft (z.B. Milch- oder Kakaosuppe mit Nudeln), die erzwungene Post nach Hause wurde zensiert, wir mussten in Zweierreihe zum Stand marschieren und alles mitmachen, was gefordert wurde. Ich erinnere zwei Ohrfeigen: Als ich völlig arglos äußerte, ich wolle lieber meinen Badeanzug anziehen, als meinen Bikini, und als ich zu Beginn des erzwungenen 2-stündigen „Mittagschlafs“, bei dem wir (zumeist wach) still "strammliegen" mussten, kurz den Kopf hob, um zu überprüfen, ob meine Kleidung wie gefordert ordentlich zusammengelegt auf dem Hocker hinter dem Kopfende lag. Da „Toilettenverbot“ herrschte, haben mache Kinder ins Bett gemacht, was zu Unmut bei den Erzieherinnen führte. Die hier teilweise geschilderten drastischen Bestrafungen dafür erinnere ich nicht, war aber auch nicht betroffen. Nach dem Essen mussten ab und an alle Kinder den Kopf in den Nacken legen, eine Erzieherin ging durch die Reihen und drückte „blassen“ Kindern aus einer Tube ein orangefarbiges Präparat mit Apfelsinenaroma in den Mund.

Meine Erinnerung an die Verschickung ist deutlich und bildhaft - bis hin zu den Namen der Erzieherinnen -, allerdings bruchstückhaft. Es fehlen z.B. Erinnerungen an Tagesabläufe und Kontakte zu anderen Kindern, weitgehend sogar zu meiner mitgereisten Freundin (hier kann ich mich nur an ein Gespräch auf der Toilette erinnern, als wir kurz unter uns waren). Vermutlich war ich, wie die anderen Kinder, damit beschäftigt meinen eigenen "Hintern" zu retten, und habe schnell begriffen, dass es besser war, eigene Bedürfnisse und Gefühle nicht zu zeigen. Ich empfand meine Erlebnisse dort eher als skurril denn als schmerzhaft, und habe es schnell geschafft, mich hinreichend anzupassen, um weiteren "Maßnahmen" wie Schlägen zu entgehen. Das mag daran liegen, dass es mir zu Hause auch nicht gut ging, mein "Bedrohungslevel" sozusagen dort noch deutlich höher lag, insbesondere in Bezug auf emotionale Grausamkeiten. Ich dachte wohl "da muss ich jetzt durch und werde das auch schaffen". Zum Glück gelang es mir auch, die "Toilettenverbote" durchzuhalten oder aber mich heimlich doch über den Gang zum Toilettenraum zu schleichen. Auch eine etwas tiefere Verletzung an der Hand durch einen Stacheldrahtzaun, in den mich ein anderes Kind auf dem Weg zum Strand geschubst hatte, konnte ich vor den Erzieherinnen verbergen und mich - versteckt in den Dünen - vor dem gemeinsamen Bad im Meer drücken.

Ich bin sehr überrascht, dass es offenbar viele Leidensgenossen gibt, denn noch vor wenigen Jahren blieb eine Webrecherche dazu ohne Ergebnis. Ich bin gespannt, inwieweit wir es schaffen, unsere Erlebnisse für uns aufzuarbeiten und so vielleicht auch heutige und zukünftige Kinder vor so etwas zu bewahren.

Solidarische Grüße an alle Verschickungskinder
Katrin
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Michael schrieb am 09.01.2020
Als sechsjähriger Junge kam ich im Sommer 1970 vor meiner Einschulung aufgrund meines Bronchialasthmas zur sechswöchigen Kinderkur ins sauerländische Brilon. Im "Kindergenesungsheim Dr. S." wurden wir Kinder gezwungen, unser Essen aufzuessen. Seit meinem dortigen Aufenthalt widern mich heiße Milch (auf der Milch schwimmende Haut), Grießbrei und der Geruch von Milchreis an. Des Weiteren wurde jedem Kind allabendlich im Waschraum ein Teelöffel Honig verabreicht. Diesen Honig musste ich regelmäßig hinunterwürgen. Einmal habe ich ihn erbrochen. Ich musste zwar nicht den erbrochenen Honig auflöffeln, bekam aber einen weiteren Löffel Honig verabreicht, der nach meiner Erinnerung noch voller war als der erste Löffel. Seit diesem Erlebnis esse ich bis heute keinen Honig mehr.
Zusätzlich bekamen alle Kinder ein Glas Apfelessig mit Sprudelwasser verabreicht, dass sie austrinken mussten ("für die Verdauung"). Den Geschmack dieser Mischung werde ich nie vergessen, ich empfand ihn aber nicht so widerlich wie den Honig.

Ein weiteres Ritual war eine Bürstenmassage des Rückens mit einer rauen Bürste und nachfolgendem kalten Wasserguss aus einem Schlauch. Die Kinder mussten sich hierzu nackt aufstellen (getrennt nach Mädchen und Jungen). Die "Tanten" (überhaupt erinnere ich mich ausschließlich an weibliches Personal) hatten sich hierzu Plastikschürzen umgebunden und feixten - so trage ich es zumindest in meiner Erinnerung. Ich empfand diese Prozedur in gemeinschaftlicher Nacktheit vor dem Personal als erniedrigend. Ebenfalls erniedrigend empfand ich die Toilettengänge, da die Toiletten nicht verschlossen werden konnten. Ich hatte seither Probleme mit dem Wasserlassen an Urinalen bzw. Stuhlgang in öffentlichen WC-Anlagen. Diese Probleme haben sich allerdings im Laufe von Jahrzehnten "entschärft", wenn ich sie auch nicht vollständig hinter mir lassen konnte.

Bestrafungen gab es für Bettnässer und Unruhe in den Schlafräumen. Üblicherweise mussten sich die Betroffenen nachts im bewachten, dunklen Flur still in eine Ecke stellen. Da ich davon nicht betroffen war, habe ich das jedoch nur dunkel in Erinnerung.
Quälend war die Zeit der verordneten Mittagsruhe, bei der absolute Stille zu herrschen hatte.
Ein Brief nach Hause musste einer "Tante" diktiert werden, da ich ja noch nicht lesen und schreiben konnte. Der Inhalt des Briefes entsprach nicht meinen Angaben, wie sich später herausstellte. Er war sehr geschönt.

Wenn Kinder Päckchen bekamen, wurden diese konfisziert, Süßigkeiten zurückgehalten und erst später bei Abreise ausgehändigt. Das Taschengeld, das mir meine Eltern mitgegeben hatten, wurde bei Ankunft ebenfalls einbehalten. Kurz vor der Abreise bekamen wir Kinder die Möglichkeit, auf einem eigens angerichteten "Hausbasar" kleine Souvenirs für "zu Hause" zu erwerben. Offenbar waren diese völlig überteuert (ich hatte als Sechsjähriger noch kein Gefühl für Geld), denn meine Mutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als ich ihr auf Nachfrage stolz erzählte, was meine Mitbringsel gekostet hatten.

Mit meiner Familie verbrachte ich einige Jahre später einen Urlaub in der Nähe von Brilon - in Bigge (Olsberg). Meine Mutter bestand darauf, das Kindergenesungsheim aufzusuchen und die Heimleiterin zu den Vorgängen zu befragen. Sie fragte mich, ob ich mit zur Haustür kommen wollte. Dies lehnte ich jedoch ab, da mir die Vorstellung Angst bereitete. Mein Vater blieb mit mir auf dem in der Nähe liegenden kleinen Spielplatz, während meine Mutter zum Haus ging. Die Heimleiterin war entweder nicht anwesend oder aber sie ließ sich verleugnen.
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Katrin schrieb am 08.01.2020
Hallo,

ich bin ebenfalls Jahrgang 1963 und war 1971 in Lenste (Lensterhof). Ich werde eventuell noch berichten, weiß allerdings nicht mehr so viel.

Ich dachte, das Heim sei Mitte der 90er geschlossen worden...

Katrin
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Katrin schrieb am 08.01.2020
Hallo Alois,

ich wurde ebenfalls verschickt, weil ich "so dünn" war. 1971 mit 8 Jahren nach Lenste (nicht Leste - hast Du Dich eventuell verschrieben?) an der Ostsee, in der Nähe von Grömitz.

Hatte mich bisher gewundert, diesen Ort nicht zu finden. Ich erinnere nicht so viel, werde eventuell noch dazu schreiben.

Ich hörte vor einigen Jahren, dass das Kinderheim dort erst Mitte der 90er geschlossen worden sei, wegen irgendwelcher "Unstimmigkeiten".

Einen solidarischen Gruß
Katrin
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Hermann schrieb am 07.01.2020
Hallo, bin erstaunt, was hier los ist...
Auch ich hatte das Thema total verdrängt und erst Heute habe ich mal wieder an diese unerfreuliche Zeit gedacht und bin bei der Recherche auf diese Seite gestoßen. Ich bin Jahrgang 66 und wurde Anfang 1973 im Winter in das Erholungsheim nach Juist geschickt. Hier habe ich auch die Schikanen der "Schwestern" erleben müssen. Auch ich musste vor den üppigen vollen Tellern mehrfach sitzen bis ich sie aufgegessen habe, oder auch nicht. Dann durfte ich nicht an den Aktivitäten draußen teilnehmen. Wenn ich gesagt hatte, dass ich einen bestimmten Brei nicht möchte, hat man den Teller extra voll gemacht. Einmal, es war ja Winter, hatte ich vergessen, vor den Spaziergang noch einmal auf Toilette zu gehen. Als wir dann losgehen mussten, habe ich gesagt, das ich noch mal "wohin" müsse. Das hatte man mir natürlich nicht erlaubt. Auf dem Strandspaziergang ist es dann passiert und ich hatte die Hose voll. Nach dem Spaziergang sollte ich dann sofort in den Waschraum gehen. Erst dort durfte ich dann die Hose wechseln und bekam noch ein paar hinter die Ohren. Von den ca 80 Kindern, die dort warten, sollten alle an Gewicht zunehmen. Nur Jürgen nicht! Der hatte Übergewicht und war der Einzige, der Abends nur eine trockene Scheibe Schwarzbrot und einen Apfel bekam. Auch eine Art Quälerei. Der wurde natürlich auch von den etwas älteren gehänselt.
Es gab dort aber auch einen Mann, der mit uns die Spaziergänge am Strand durchgeführt hat. An den Namen kann ich mich leider nicht erinnern. Der hat das immer total interessant für uns gemacht mit Erzählungen über Piraten und Strandgutsammeln und Feuer machen und so. Der konnte zu jeder Muschel eine Geschichte erzählen.
An die dortigen Nonnen oder Schwestern, habe ich nicht so schöne Erinnerungen. Die waren, soweit ich mich erinnere nur Streng und Unfreundlich.
Ich war froh, als ich wieder zu Hause war und würde meinen Kindern, wenn ich welche hätte, so etwas NIE antun.
Ich würde gerne erfahren, ob noch andere von den ehemaligen Juistern hier aktiv sind.
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Dorothea Harrer schrieb am 07.01.2020
In meinem Elternhaus habe ich vor ein paar Jahren sämtliche Briefe gefunden, die ich (1952 geb.) an meine Eltern aus drei verschiedenen Kinderheimen geschickt habe (Borkum 1959 knapp 7-jährig, Scheidegg 1961 9-jährig, Wallgau 1964 12-jährig). Meine Erfahrungen waren sehr unterschiedlicher Art. Scheidegg war übel.
Aber ich habe nicht nur die Briefe von mir, sondern auch sämtliche Briefe gefunden, die meine Eltern an mich geschickt haben. Es sind Zeitzeugnisse.
Alle Briefe habe ich in den Computer getippt (mit Erklärungen) und würde sie gerne veröffentlichen (ca. 170 Seiten). Hat jemand eine Idee oder kennt jemand einen Verlag, der bereit wäre?
Ich habe damals schon gerne geschrieben und tue es heute auch noch. Im November ist mein zweiter Gedichtband erschienen: 'Füße im Tau'
Der erste Gedichtband: 'Wäre da nicht der Amselgesang' wurde im Selbstverlag ein paar Jahre vorher verlegt, wie auch eine wahre Zahngeschichte 'Odyssee Dental' als e-book.
Ein autobiografischer Roman wird folgen.
Auf das, was sich entwickeln und kommen wird, bin ich gespannt.

Dorothea Harrer
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Britta schrieb am 06.01.2020
Ich bin geb 1970 und wurde wegen Krupp ca. 1975 verschickt. Ich habe immer geglaubt, die Kur ist halt doof gelaufen, bis ich auf diese Seite gestossen bin. Wir durften nachts nicht aufstehen um auf die Toilette zu gehen. Dort sass eine Frau und hat uns ins Bett geschickt und gesagt wir sollten still sein, sonst würde man uns unsere Stofftiere weg nehmen. Was sie auch taten. Viele Kinder haben geweint. Ich kann mich an Gestalten vor den grossen Fenster erinnern die wie Gespenster aussahrn. Es hiess, sie holen uns wenn wir aufstehen. Die Kinder die eingenässt haben, mussten sich nackt ausziehen und ihr Bettzeug waschen und ihre Schlafanzüge. Erst wurde noch gelacht, später nicht mehr. Pakete und Briefe kamen nie an. Es hiess das unsere Eltern keine kranken Kinder wollen und uns deshalb vergessen haben. Und nur wenn wir schnell wieder gesund werden würden, wieder zurück kämen. Ich wurde am Ende der Kur sehr krank. Scharlach. Ich musste länger bleiben und musste nochmal 14 Tage bleiben. Auf der Isolierstation. 14 Tage im Bett, ohne Kontakte. Ich habe irgenwann vergessen was da passiert ist. Nach 8 Wochen durfte ich dann nach Hause. Ich ging an der Hand einer Betreuerin. Eine grosse Holztreppe, wie in einem Schloss. Unten stand eine Frau in einem Mantel und ein Mann sass auf einer Truhe. Als ich runter ging fragte ich wer die beiden seien, ich habe meine Eltern nicht mehr erkannt. Meine Mutter hat fürchterlich geweint.
Bis zu meinem 10. Lebensjahr habe ich jede Nacht geschrien. Allein bleiben konnte ich garnicht. Kann ich heute nur sehr schlecht und ist mit viel Angst verbunden. Ich habe hier sehr viele Erfahrungsberichte gelesen und finde mich in vielen wieder. Ich glaube ich war im Schwarzwald, weiss es aber leider nicht mehr.
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Jens schrieb am 06.01.2020
Guten Tag, ich bin 1981 im Alter von 10 Jahren ins Allgäu zu einer Kur geschickt worden. Polling in der Nähe des Ammersee geht mir durch´s Gedächtnis. Leider finde ich keinerlei Infos im Netz, ob und was es da gegeben hat, ob es das Kloster war oder eine Einrichtung, die es heute nicht mehr gibt oder ob es dort nur irgendwo in der Nähe war. Meine Eltern waren zerstritten und ließen sich zu der Zeit scheiden. Sowas reißt einem im Alter von 10 Jahren den Boden unter den Füßen weg. Man verliert zumindest erst mal ein Elternteil - so nimmt man es als Kind erst mal wahr. Aber das reichte nicht, man musste noch eins oben drauf setzen, denn da ich sehr dünn war (aber schon immer), war wohl der damalige Hausarzt der Meinung ich müsse raus aus der "Scheidungssituation" und müsste dringend zunehmen. Er empfahl meiner Mutter, mich in eine Kur zum Zunehmen zu schicken. Erst wird einem der Vater genommen und dann wird man in einer Kur abgegeben, also verliert auch noch die Mutter. So habe ich es damals wahrgenommen. Aber auch das war noch nicht genug, denn die erste Nacht in dieser Einrichtung war der absolute Horror. Ich wurde von den dort bereits untergebrachten Kindern nachts "überfallen". Es waren 6 - 7 Kinder, die mich im Schlaf aus dem Bett auf den Boden gezogen und auf mich eingetreten haben. Danach legten sich einige auf mich drauf während andere meine Sachen zerstörten. Das einzigste was ich noch von zuhause hatte war kaputt/weg. Ich verbrachte die ganze Nacht völligst verstört im Dunkeln in einer Ecke und schrie. Gehört hat es keiner oder es wollte keiner hören. Ab da Nacht für Nacht wurde ich wegen Albträumen wach. Ich fand in diesem Zimmer den Lichtschalter nicht und und kroch immer panisch im Dunkeln durch´s Zimmer und schrie. Keiner kam um zu helfen. Da es ja auch eine Kur zum Zunehmen war, trifft all das bereits durch andere Personen Geschilderte zu. Es gab keinerlei Zuneigung, keinerlei Unterstützung, nur Strafe wenn man nicht alles befolgte oder sein Essen nicht vollständig auf aß. Es war alles in allem der blanke Horror. Ich litt weitere 15 Jahre unter massiven Albträumen. Meine Eltern waren sich damals "zu fein", um das von einem Psychologen aufarbeiten zu lassen bzw. waren ja sowieso zerstritten und hatten wohl eher mit sich selbst zu tun. Heute mit 48 leide ich noch immer unter Panikattacken und auch Depressionen. Lebe eher zurückgezogen, bin ruhig und scheue allgemein Kontakte, bin lieber alleine. Ich habe eine Frau und einen Sohn für den es sich zu Leben lohnt. Ich bin voll berufstätig und Kantinen sind der blanke Horror für mich. Ich versuche immer alles irgendwie im Griff zu halten. Ich muss mir aber eingestehen, je älter ich werde, umso schwerer fällt es mir.
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Gina schrieb am 06.01.2020
Hallo. Ich bin 1969/1970 aus Lüdenscheid in den Schwarzwald verschickt worden, hatte dort die nämlichen Erlebnisse, die viele Leute hier schon beschrieben haben, suche natürlich auch Menschen mit den gleichen Erfahrungen, erinnere mich leider nur sehr bruchstückhaft. Große Schlafsäle, jede/r versuchte, auf seine Art mit allem klarzukommen, einige wurden aggressiv, teilten selbst das aus, was sie von oben erfahren hatten...Ich zog mich völlig in mich zurück, schaltete mich ab sozusagen...Habe seitdem Essstörungen, weil auch ich gezwungen wurde, aufzuessen, mich erbrochen habe, und dann gezwungen wurde, es..., ach, Ihr wisst ja, was ich meine, mir wird gerade schlecht beim Schreiben.Ich überlege, vielleicht durch Hypnose, mehr zu erinnern, habe aber Angst vor Retraumatisierung.
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Manfred schrieb am 06.01.2020
Hallo, 1965 war ich zur "Verschickung" in Lauterbad, Schwarzwald. Meine Eltern brachten mich früh Morgens zum Bahnhof und dann gings los. Nachmittags kamen wir schließlich an, es war das Albert Schweitzer Haus. Das nächste an was ich mich erinnern kann war ein Spaziergang in der näheren Umgebung, bei dem ich ganz fürchterliches Heimweh hatte. Dieser verflog einige Tage später, denn es gefiel mir zusehends besser dort! Wir waren in einem kleinen Haus untergebracht, an dem die Lauter, ein Wildbach, direkt vorbei rauschte. Die älteren waren in einem größeren Haus direkt gegenüber, es heißt jetzt Hotel Gut Lauterbad. Wir machten Ausflüge, unter anderem nach Freudenstadt zu einem Kirmis, an dem ich glatt für kurze Zeit verloren ging, zum Glück wurde ich wieder gefunden... Abends legte man uns kleine Geschenke oder Steine unters Bettkissen, man sagte uns es wären die Heinzelmännchen gewesen, die hier im Wald wohnen.. Tagsüber, wenn nichts besonderes anlag, gingen wir oft rüber zu den "großen" den auf deren Hof kam ein Rinnsal aus den Bergen, der quer über den Hof einen kleinen Teich bildete, da konnte man gut spielen! Briefe und Päckchen von den Eltern wurden nicht geöffnet, sondern wir durften sie selber aufmachen, auch wurden welche von den Tanten geschrieben und nach Hause geschickt, ich habe sie noch heute. Seltsamer weise kann ich mich nicht an das Essen erinnern, also muss es wohl ok gewesen sein. Auch an erzieherische Maßnahmen nicht, das hätte ich mit Sicherheit nicht vergessen. Das einzige, wir durften oder sollten während des Mittagschlafes nicht aufstehen. Haben uns aber trotzdem auf die Toilette geschlichen! Die entsprechende Betreuerin war auch nur ganz kurz auf dem Flur, nachdem sie gesehen hat, dass alle schlafen, war sie verschwunden, wahrscheinlich schlief sie selber.. Die Zeit ging dann doch sehr schnell vorbei und ich saß dann wieder am Tisch meiner Eltern, wo ich den Teller wieder aufessen musste. Eigentlich wollte ich wieder zurückkehren, an den Wildbach und zu den Heinzelmännchen, jedoch bin ich bis jetzt nie wieder dort gewesen!
Grüße Manfred
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Tamara schrieb am 05.01.2020
Habe gerade ein kleines, mit einem Bastfaden zusammengebundenes, schwarzes Pappheftchen vor mir. Lange lag es in einer Schublade. Vergrabene schlechte Erinnerungen. Und doch konnte / wollte ich es nicht wegwerfen. Es beginnt mit den handgeschriebenen Worten: "Zur lieben Erinnerung an Deine Erholungszeit im HAUSE BATTENFELD" (in BAD ROTHENFELDE). Ich muss jedesmal schlucken, wenn ich das lese. Das erste Gruppenfoto zeigt lächelnde, winterlich eingemummelte Kinder mit einer Betreuerin.

Meinen Eltern wurde zu dieser Kur geraten, da ich angeblich zu dünn war. So wurde ich im Winter, Mitte der 60er Jahre, in den Zug gesetzt. Wir wurden in kleine Gruppen eingeteilt und in Zimmern mit Märchennamen untergebracht. Soweit ich mich erinnern kann, hieß mein Zimmer "Schneewittchen". Leider habe ich in dieser Zeit lernen müssen, dass es böse Menschen gibt.
Das "Erholungsprogramm" bestand aus täglicher Gabe von Lebertran, fetten, süßen oder in Mehlschwitze ertränkten Speisen. Die Portionen waren mächtig. Meine Abneigung gegen Rosinen wurde mir zum Verhängnis. Man hat mich mit Kaiserschmarrn und einer extra Portion Rosinen gefüttert bis ich auf den Teller erbrach. Danach musste ich das Erbrochene essen. Gelang es nicht, durfte ich am nachmittäglichen Spaziergang nicht teilnehmen und musste solange am Tisch sitzen bleiben. Selbst die Nachtruhe brachte keine Erholung. Man gab uns nur eine kurze Zeit vor dem Zubettgehen noch einmal die Toilette aufzusuchen. Danach durften wir das Bett nicht mehr verlassen. Der Bettkasten knarrte unbarmherzig bei jeder noch so kleinen Bewegung. So traute man sich nicht, die Schlafposition zu wechseln. Tat man es aus Verzweiflung doch, wurde man von der auf dem Gang patrouillierenden "Tante / Schwester" aus dem Zimmer geholt. Nun folgte eine der für mich grausamsten Züchtigungen. Ich wurde im Gang vor ein offenes Fenster positioniert, musste die Arme nach vorne strecken. Dann wurde eine harte, sehr schwere Filzdecke über meinen Kopf geworfen. Unterleib und Beine blieben nur vom Nachthemd bedeckt. Es war bitterkalt und meine dünnen Ärmchen konnten das Gewicht der schweren Decke nicht lange halten. Ich wurde mehrmals aufgefordert sie wieder zu erheben.
Andere Kinder, die aus Angst ins Bett gemacht haben, erging es ähnlich. Diese wurden darüberhinaus beim Frühstück ans Tischende positioniert und als Bettnässer zur Schau gestellt. Tägliche Höhensonne sorgte für eine gesunde Gesichtsfarbe. Leider konnten wir keine Hilferufe an die Eltern schicken, da die Post kontrolliert und zensiert wurde. Die zum Nikolausfest erhaltenen Päckchen wurde konfisziert. Nur einzelne Süßigkeiten wurden "gerecht" unter den Kindern verteilt. Strenges Üben für das bevorstehende Krippenspiel nahm täglich viel Zeit in Anspruch.
Ich wurde nach dem Zubettgehen noch einmal aus dem Zimmer geholt. In einem Betreuerinnenzimmer bekam ich "Einzelunterricht". Als Maria sollte ich mit meiner hellen Stimme "Still, still, weil`s Kindlein schlafen will" singen. Fehlerfrei, versteht sich ... Es gab noch viele, viele kleine Schikanen, die eine Kinderseele zerstören können.

Aber das wohl Schlimmste passierte zum Schluss. Ich wurde alleine zum Gespräch zitiert. Man hat mir in aller Schärfe klargemacht, dass die Betreuerinnen die Macht hätten mich meinen Eltern wegzunehmen und mich für immer in diesem Heim unterzubringen. Daran habe ich fest geglaubt! Nach meiner Rückkehr weinte ich unzählige Tränen aus Freude wieder zu Hause zu sein. Ich habe aus großer Angst geschwiegen und es verdrängt bis ich selbst einen Sohn bekam. Erst dann habe ich meiner Mutter davon erzählt mit dem Versprechen, dass meinem Kind so etwas nie passieren wird. Sie war sehr erschüttert. Ich war ein starkes Kind in einem schönen, liebevollen Elternhaus und habe dieses Erlebnis ganz gut weggesteckt. Lese ich allerdings die Kommentare anderer Betroffener, merke ich, dass es noch in mir wabert. Bei Interesse stelle ich gerne die Fotos zur Verfügung. Auch wenn es sehr lange her ist, ist es zu begrüßen, dass diese systematische Zerstörung von Kinderseelen an die Öffentlichkeit kommt. Alle Kinder müssen schon früh so stark gemacht werden, dass sie sich NIEMALS erpressen lassen und ihren Eltern vertrauen.

Tamara
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Margarethe 46 schrieb am 04.01.2020
Ich misch mich einmal kurz ein und wünsche ein gutes 2020 ohne Dramen, Panik etc,
Auch ich gehöre zu den ehemaligen "Verschickungskindern" aus Hamburg. Ich bin in den Jahren 1955 bis 1960 jedes Jahr währned der Sommerferien in einem anderen "Kurheim" gewesen und hatte wohl sehr viel Glück dabei, denn ich habe - bis auf eine Verschickung nach Cuxhaven - alle genossen. Wir wohnten in den Jahren 1952 bis 1961 in Unterkünften/Wohnlagern in Hamburg. Allesamt ziemlich mies und eng und viele Menschen auf viel zu kleinem Raum. Alkoholiker und Choleriker in der engsten Nachbarschaft. Dazu finanziell ganz weit unten, deshalb Essen schlecht, Kleidung schlecht etc. Ich habe die Verschickungen als die "bessere Alternative" zum Zuhause gesehen. Vor allem mit sauberer Bettwäsche und genügend auf dem Essteller. Nur Cuxhaven war problematisch. Dort gab es Sanktionen (nach Bettnässen, weil die Toilette ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr aufgesucht werden durfte) und wenn das Essen nicht schmeckte - was häufig der Fall war. Spießrutenlaufen mit dem nassen Bettzeug durch ein Spalier der johlenden anderen Kinder und Personal. Mit nackten Füßen auf dem kahlen Boden stehend, ohne wärmende Decken (da war ich 9 Jahre alt. Klapse auf den Hinterkopf - nicht mir passiert, sondern anderen dort. Wie gesagt, ein Heim von vielen, das einfach nicht den Namen "Kurheit" verdiente. Cuxhaven. Als ich heimkehrte und meiner Mutter davon berichtete, war sie völlig hilflos und ich erinnere mich, dass das Thema fallengelassen wurde, die Behörden wurden damals nicht unterrichtet. Ich denke aber auch, dass das nicht so viel gebracht hätte, weil es schließlich ein Kind war, das es erzählte. In allen anderen Heimen habe ich mich wohlgefühlt und tatsächlich auch erholt. Aber vielleicht verdränge ich einiges.
Als besonders herausragend möchte ich aber auch anmerken, dass eine Verschickung ins Ausland (nach England) mir besonders gefallen hat. Ich war mit 8 Jahren fortgefahren und verbrachte insgesamt 9 Monate dort bei Gasteltern und in einem Heim mit anderen englischen Kindern. Dort ist es mir (und auch meinen Geschwistern sehr gut gegangen und ich bedaure es heute, dass meine Eltern den Kontakt zu den Famillen dort nicht für mich aufrechtgehalten hatten.
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Gerhard schrieb am 04.01.2020
Ich war mit sieben Jahren 1964 für sechs Wochen in Bad Rappenau, Haus Siloah. Ein halbes Jahr zuvor wurde ich an Ostern eingeschult, so dass ich dann auch in der ersten Klasse eine ordentliche Fehlzeit hatte. Anlass für die Kur war ein chronischer Schnupfen. Die Anfahrt vom Bodensee erfolgte mit dem Zug in Begleitung einer Fürsorgerin und einem zweiten Jungen. Die Fahrt war für mich sehr lange und anstrengend. Wahrscheinlich in Karlsruhe kamen andere Kinder hinzu. Vom Bahnhof in Rappenau ging es zu Fuß zum Heim. 40 Jahre später habe ich den Weg noch gekannt. Vorherrschend ist für mich das Gefühl fremd, alleine zusein und kontrolliert zu werden. Das Gefühl von Scham und nicht richtig zu sein, verbinde ich mit dieser Zeit. Zwei Portionen mussten gegessen werden und ich erinnere mich, dass es Jungs gab, die noch zum Abendessen vor ihrem Mittagessen saßen. Einmal kam ein neuer Junge. Er hatte ein Hütchen auf, das er nicht abnehmen wollte. Er wurde gezwungen vor allen den Hut abzunehmen und hatte keine Haare. Weinend stand er vor der lachenden Gruppe.
In meiner Erinnerung hatte ich keinen Besuch, wobei mein Bruder meinte, dass er einmal mit meiner Oma da war.
Als ich die ersten Berichte im Fernsehen gesehen habe, hatte ich mit meiner Frau eine Diskussion über die geschilderten Erlebnisse. Zunächst habe sie runtergespielt und abgetan. Am nächsten Tag flossen die Tränen und ich bin tief berührt und komme mit meinem vergrabenen Schmerz über diese Zeit und die Sprachlosigkeit in Berührung.
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Franziska Petersen schrieb am 03.01.2020
Hier kommt ein ausführlicherer Bericht als Ergänzung zu meinem Kommentar von Ende November 2019. Ich verbrachte mindestens sieben Wochen (erlebte dort Fasching und Ostern) in einem Kinderheim in Hirschegg/Kleinwalsertal. Die offizielle Begründung hieß: "Keuchhusten". Dass ich an dieser Begründung Zweifel habe - meine jetzige Hausärztin hält es für widersinnig, ansteckende Kinder zur Kur zu schicken - ist eine andere Geschichte. Die damalige Hausärztin nahm meinen Eltern die Bedenken, ein so kleines Kind - ich war ca. 4 Jahre alt - so lange wegzuschicken, mein eineinhalb Jahre ältererer Bruder sei ja dabei. Eines Tages sollte ich Skischuhe anprobieren. Ich konnte nicht skifahren und mir wurde wahrscheinlich auch nichts von der bevorstehenden Reise erzählt.
Wir wurden in den Zug gesetzt, es war vermutlich ein Sammeltransport. Ich kann mich daran erinern, dass Kindergesang im Zug war ("Ein Mann der sich Kolumbus nannt" und "Jetzt fahr´n wir übern See" . . . ) und auch dunkel an das Pappschild um den Hals, aber ich glaube, ich fühlte mich schon während der Fahrt sehr verlassen, ich kann mich weder an erwachsene Betreuer noch an meinen Bruder oder an andere Kinder erinnern.
Zu Fasching hatte man die Deckenlampen mit buntem Transparentpapier beklebt und mich als Zigeunerin verkleidet, ich fühlte mich nicht wohl in dem Kostüm und wäre lieber, wie mein Bruder, ein Mäuschen gewesen. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich meinen Bruder nach der Faschingsfeier noch im Heim gesehen habe. Er hatte immerhin seinen Teddy "Peterle" dabei (Ich weiß aber nicht, ob "Peterle" auch die Rückfahrt antreten durfte oder zwischendurch "abhanden gekommen" war. Mein Bruder jedenfalls hat noch sehr lange nach der Rückkehr seinen "Peterle" oder seinem Nachfolger und seinen eigenen Daumen gebraucht.)
Ich kann mich nicht erinnern, ein Kuscheltier dabei gehabt zu haben. Einmal wurde mir von einem Paket (für mich? vielleicht zu Ostern?) mit einer Puppe erzählt, aber die bekam ich nie zu sehen. An mein kleines Schlafkissen kann ich mich erinnern, ich benutzte es für den Mittagsschlaf in einer großen Halle mit hölzernen Wänden, vermutlich war eine Seite offen. An die Haarbürste und die eigene Zahncreme im Waschsaal und dunkel auch an das weiße Metallbett kann ich mich erinnern. Und auch an eine verhaßte wollene Hose mit Schottenkaromuster, das ich heute noch hasse. Im Nachhinein vermute ich, dass diese Hose von einem anderen Kind gewesen sein könnte.
Ich kann mich nicht daran erinnern, gespielt zu haben, weder mit anderen Kindern noch mit dem Spielzeug aus dem großen weißen Schrank. Nur ab und zu fand ich auf dem Boden mal vereinzelte Teile von Plastiksteckspielen. Ich wurde ausgeschlossen und auch verspottet, weil ich oft die Hosen voll hatte. Meine Mutter sagte, ich wäre sauber gewesen, bevor ich diese Reise antrat. Ich kann mich noch gut an das Schlangestehen und den Gestank vor den Toiletten erinnern, wenn Toilettengang angeordnet wurde, was für mich oft schon zu spät war. In meiner Erinnerung habe ich jeden Tag geweint. Am schlimmsten war es, als beim Essen ein Kind nicht wußte, wohin es seinen abgenagten Suppenknochen legen sollte. Die Kinder beschlossen, ihn auf meinen Teller, von dem ich noch aß, zu legen. Ich weiß nicht genau, was die Folge war, aber es muß schlimm gewesen sein. Einige Zeit verbrachte ich auf der Krankenstation und war sehr froh, Ruhe vor den Gemeinheiten der anderen Kinder zu haben. Den Grießbrei, den ich während meiner Krankheit bekam, habe ich genossen. Vielleicht hatte ihn jemand extra für mich zubereitet? An das Essen habe ich sonst keine schlimmen Erinnerungen, Marmeladebrote und klare Suppe mit Würstchen waren für mich in Ordnung.
Wie es war, von meinen Eltern in Empfang genommen zu werden weiß ich nicht. Aber sie sahen davon ab, mich anschließend im Kindergarten anzumelden. Ich muß wohl ziemlich verstört gewesen sein.

Wenn ich meinen Bericht jetzt noch einmal durchlese und mit dem anderer Betroffener vergleiche, dann erscheinen meine Erfahrungen noch relativ gemäßigt. Ein Trauma mit Folgen habe ich trotzdem davongetragen, auch, wenn dafür sicher nicht alleine der Kinderheimaufenthalt verantwortlich zu machen ist: Suizidgedanken, Depressionen, Scheu vor anderen Menschen, schlechtes Selbstwertgefühl, ich habe schon einiges hinter mir. Momentan bin ich dankbar, dass ich mit Mann und Kindern in einer stabilen Beziehung lebe.
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Christian schrieb am 02.01.2020
Ich kann mich nicht an sehr viel erinnern, und wahrscheinlich ist das auch besser so.
Ich habe viele Lücken, vor allem was das Organisatorische betrifft. Ich könnte meine Eltern hierzu noch befragen. Sie sind aber beide über Achtzig Jahre alt, und eigentlich möchte ich mit Ihnen nicht mehr über dieses Thema reden, weil das in der Vergangenheit schon mehrfach sehr unschön geendet ist. Dazu später mehr.

Ich, Jahrgang 1968, bin wahrscheinlich 1975, vor der Einschulung und vor meinem 7. Geburtstag für 6 Wochen in eine Art Erholungsheim, vermutlich im Allgäu, geschickt worden. Ich kann mich an die genaue Begründung nicht erinnern, aber vermutlich sollte ich zunehmen. Ich kann mich auch vage in „bessere Luft“ als Begründung erinnern. Das würde passen, weil ich im Ruhrgebiet aufgewachsen bin.

Meine früheste Erinnerung ist auch fast die schlimmste an diese Zeit: meine Mutter hat Namensschilder in meine Kleidung eingenäht. Dieser Vorgang war für mich ungeheuer bedrohlich und hat mir große Angst eingejagt. Gleichzeitig konnte ich aber nicht darüber sprechen. Die Tatsache der Verschickung war mir da schon bekannt, aber ich war, zumindest in meiner Erinnerung, nicht in der Lage irgendetwas dagegen vorzubringen. Es fühlte sich an, wie eine große dunkle Bedrohung, die unabwendbar ist und langsam immer näher rückt und mir den Atem (und die Sprache) nimmt.

Die Fahrt mit der Eisenbahn war unfassbar lang.

Das Heim war ein großes Gebäude mit mindestens einer Etage, eventuell mehr. Ich kann mich nur daran erinnern, dass es einen Speisesaal gab, und einen Schlafsaal. In diesem Schlafsaal wurde viel geweint. An mehr kann ich mich nicht erinnern, weder an Mahlzeiten, noch wie geschlafen wurde. Welche Regeln es für Toilettengänge gab, weiss ich nicht mehr. Auch an konkrete Betreuungspersonen (Tanten) fehlt mir jede Erinnerung. Keine Gesichter, keine Namen, alles weg. Nur dass es Frauen waren, und dass sie jünger wirkten als meine Mutter, die damals Mitte 30 war, weiss ich noch.

An einige konkrete Dinge kann ich mich erinnern, aber alles nur schlaglichtartig und ohne Kontext:

Direkt nach Ankunft wurde ich bestraft, weil ich mit einem anderen Kind gespielt habe (er hieß glaube ich Marco). Wir durften beide nicht an einem Ausflug teilnehmen und mussten alleine zurückbleiben. Ich erinnere mich, dass ich sinngemäß gedacht habe: wenn die hier so bescheuert sind, dann können die mich mal.

Es wurde viel durch die Gegend gelaufen. Einmal wurde ein Ausflug zu einem Wasserfall angekündigt, der sich aber als dünner Wasserstrahl aus einem Rohr herausstellte. Höhnisches Gelächter seitens der Kinder, den Tanten war das irgendwie peinlich.

Briefe wurden diktiert, da ich ja noch nicht in der Schule war. Ich argwöhnte, dass der Inhalt des Briefes nicht mit dem übereinstimmte, was ich gesagt habe. Aber ich habe nichts gesagt. Diese Briefe waren mir gleichgültig. Eigenartigerweise kann ich mich genau an die Briefmarke erinnern.

Ich kann mich an eine einzelne Mahlzeit erinnern: es gab irgendetwas süßes, schokoladiges, von dem man viel essen sollte. Es hat ganz gut geschmeckt, war aber kein richtiges Essen. Zu Hause hätte es so etwas (Pudding? Brei?) nicht als Hauptmahlzeit gegeben.

Einmal bin ich krank geworden und wurde auf einer Art Krankenstation isoliert. Ich habe ganz lange Zeit niemanden zu Gesicht bekommen. Das war sehr beklemmend und unmenschlich.

Ganz vage und weit entfernt erinnere ich mich an eine Terrasse an frischer Luft, auf der man irgendwie eingewickelt (dunkle kratzige Decken?) liegt und nichts sagen darf.

Mehr ist da (leider/zum Glück) nicht an Erinnerungen…

Laut Erzählungen meiner Eltern, oder besser gesagt meines Vaters, war ich nach der Rückkehr nicht wieder zu erkennen. Ich war wohl sehr aggressiv und hatte schlechte Angewohnheiten, und man musste mich erst mal wieder zurechtbiegen. Dies vorgetragen in einem vorwurfsvollen Ton, der wohl signalisieren sollte: rede nicht über dieses Thema und frage nicht weiter. Wir wollen nicht daran erinnert werden.

Was bleibt: Als mein Sohn sechs Jahre alt war, habe ich mir vorgestellt, ihn für 6 Wochen in eine ihm und mir unbekannte Umgebung alleine wegzuschicken. Diese Vorstellung war, unabhängig von meinen Erfahrungen, derart grotesk und widerlich, dass ich mir seitdem ernsthaft die Frage stelle, wie abartig und krank die Generation „unserer“ Eltern eigentlich ist.
Kleine Kinder, die völlig hilf- und wehrlos sind über so lange Zeiträume zu verschicken, zusammen mit Leuten, die man gar nicht kennt, kann nicht nur durch Gleichgültigkeit und Dummheit erklärt werden. Das muss schon so etwas wie Hass auf die eigenen Kinder im Spiel sein.
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I. Bruhn schrieb am 01.01.2020
Ich muss so 1961, ca. 5 Jahre alt, nach Wyk auf Föhr verschickt gewesen sein, ich erinnere mich nur noch daran, dass ich krank wurde und alleine in einem große Zimmer Tag und Nacht im Bett zu liegen hatte. Ab und zu schaute eine Frau nach mir.
Woran ich mich noch gut erinnere ist, dass ich nie gerne verreist bin, ich wurde jedes Mal richtig krank mit hohem Fieber, wenn meine Eltern einen Urlaub ankündigten, so dass sie es mir vorher nicht mehr sagten, sondern einfach mit mir los fuhren.
Seit dem ich erwachsen bin, bin ich nur 2 x verreist, ich mag das nicht.
Ich denke, dass ich in dem Verschickungsheim traumatisiert wurde.
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Tobias C. schrieb am 30.12.2019
Ich war zwei Jahre alt, als ich 1976 von meinen Eltern im Seehospiz "Kaiserin Friedrich" auf Norderney abgeliefert wurde. Der Aufenthalt dauerte drei Monate lang (von Ende Juli bis Anfang November), erinnern kann ich mich naturgemäß an nichts. Als meine Eltern mich damals wieder abholten, habe ich sie (laut Überlieferung) zunächst nicht wiedererkannt.
Es ist bitter, dass so junge Kinder so lange fremdem Personal überlassen wurden...
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Ulrike König schrieb am 30.12.2019
Meine Zwillingsschwester und ich waren ca 1974 zur Kur in St.Peter Ording.
Es war das Grauen für uns.

Bis heute dachte ich wir wären alleine und manche Dinge hätten nur in meinem Kopf existiert.. wer glaubt schon das es wahr ist, ansehen zu müssen wie Kinder ihr Erbrochenes essen müssen...
Die Tanten waren unfassbar streng, ich erinnere mich an die Heimleiterin, sie hatte auf der einen Seite einen amputierten Unterarm. Den gesunden nutzte sie zB einmal als ich mit Windpocken im Zimmer bleiben musste.

Alle Kinder Sachen auf dem benachbarten Spielplatz – die Ponde Rosa, ich schlich mich aus dem Bett und saß auf der Fensterbank um die anderen Kinder beim Spielen zu beobachten, sie kam wie eine Furie die Treppe hochgerannt hinter mir her und verprügelte mich mit einem Handfeger.

Vor lauter Angst und Heimweh habe ich wieder angefangen einzunässen und zur Strafe musste ich auf den kalten Fliesenboden in der Dusche ohne Decke schlafen.

Wir hatten ausreichend Bekleidung dabei, aber bekam nur einmal in der Woche saubere Unterwäsche, einmal täglich wurde gefragt wer ein Taschentuch benötigt, nahm man in dem Moment keins bekam man später keins mehr.

Wir waren verängstigt und traurig und haben den Tanten diktiert (wir konnten Jahr mit knapp fünf noch nicht schreiben) wie schrecklich wie es fänden und wie sehr wir doch nach Hause wollten, sie schrieben nur schöne Sachen – nur Lügen!
Als die sechs Wochen dann endlich vorbei waren, kamen wir abgemagert krank und wund nach Hause.

Es war der reinste Horror
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Wolfgang B. schrieb am 29.12.2019
Guten Tag zusammen! Ich bin berührt von dem, was ich hier mehrheitlich lese! Und genau deshalb sehe ich es als meine Pflicht an, von ganz anderen, nämlich recht positiven Erfahrungen zu berichten!

Ich möchte beginnen mit dem Begriff „Verschickungskinder“. Ich selbst (geb. 1962) habe mich bei zwei Kuraufenthalten nie „verschickt“ gefühlt (Bad Buchau am Federsee (1968) und Haus Nordmark / Westerland / Sylt (1972)). Ich war starker Pollenallergiker und Asthmatiker und fand es gut, dass man mir einen „Kuraufenthalt“ angedeihen ließ. Mein Vater brachte mich an den Bahnhof in der Eifel, wo mich im Zug eine Frau in Empfang nahm. Bis zum Zielort war sie immer dabei, unterwegs stiegen andere Kinder in das Abteil zu. Ich fand das eher spannend an allen möglichen Bahnhöfen in nie gesehenen Gegenden vorbeizufahren. Das Wort „Verschickungskinder“ suggeriert „Pakete“ mit einer Kordel drumherum, sowie Herzlosigkeit und Loswerdenwollen. So hatte ich das aber nie erfahren. Wie hätten wir denn sonst in der damaligen Zeit an unseren Kurort gelangen sollen? Helikoptereltern, die uns höchstpersönlich mit ihrem SUV dorthin brachten, gab es (Gott sei Dank) noch nicht! Ich finde das sowie das Folgende auch wichtig zu schildern, damit diejenigen in den Heimen, die einen tollen Job machten, und die ja heute auch häufig noch leben, nicht vollkommen diskreditiert werden. Auch die Arbeit dieser „guten“ Menschen hat einen Aspruch darauf gewürdigt zu werden.

Ich berichte in diesem Kommentar über Sylt, Haus Nordmark. Bad Buchau in einem anderen, noch folgenden Kommentar. In der Tat gibt es Unterschiede, was mglw. damit zusammenhängt, das 1972 schon fortschrittlicher war als 1968.

Sylt im März / April 1972 im Haus Nordmark in Westerland war toll! Ich war in der Gruppe „Seeigel“. Tolle „Erzieherinnen“ in meiner Gruppe, Anfang bis Mitte 20, freundlich. Ich habe diesen Aufenthalt genossen, mein erster Ausflug von meiner „Geburtsregion“ Eifel in die große weite Welt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Erzieherinnen mir das Problem des Landverlustes auf Sylt erklärten und wie man versuchte, durch die „Buhnen“ etwas dagegen zu tun. Ich war zwar erst 10, aber ich fand das sehr spannend und lehrreich.

Aus dieser Zeit habe ich noch viele „Souvenirs“, Dinge, die wir gebastelt haben, Postkarten, Fotografien, etc. Sylt war eine positiv prägende Erfahrung für mein Leben. Deshalb habe ich auch das Haus Nordmark im Jahr 1995 einmal besucht, während eines Urlaubs auf Sylt (ich weiß, dass es heute nicht mehr existiert). Und ich hatte „flash backs“, aber nur positive!

Ich habe mir kürzlich sämtliche „Souvenirs“ aus dieser Zeit (darunter ein Tagebuch) sowie die Korrespondenz mit Eltern, Geschwistern, Verwandten sowie Schulfreunden angesehen. Ich hatte nicht nur etwa 2x Briefverkehr pro Woche mit den Genannten, sondern auch noch 2-3 Jahre danach Korrespondenz mit anderen Kindern aus diesem Aufenthalt.

Ich gehörte zur Gruppe „Seeigel“. Die Heimleiterin war Frau M. Fackler, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Die Gruppe „Seeigel“ wurde betreut von Frau C. Schweizer und Frau E. Möller … und die waren toll, keine „Tanten“, sondern eher liberale 68erinnen. Aus dem Tagebuch sowie aus meiner Korrespondenz erkenne ich eine große Begeisterung bei mir für alles. Es gab Essen, was ich so noch nicht kannte, wie z.B. Müsli, ich bin jetzt selbst erstaunt, dass das so in meinem Tagebuch steht. Häufig hatte ich „lecker“ eingetragen. Was ich ganz klasse fand, dass wir „Kurenden“ eigenverantwortlich und abwechselnd das Essen aus der Küche auf die Tische im Speisesaal bringen mußten, sowie jeder Mal „Tischdienst“ hatte. So etwas dufte ich zuhause nie.

Es gab jeden (!) Tag Spaziergänge ans Meer und an den Strand und an die Dünen, es gab Gesellschaftsspiele usw. Ich bekam „Material“ zum Schreiben an meine Eltern und Freunde .. und ich bekam keine Post vorenthalten. Auch ein Ostergeschenkpaket meiner Eltern mit Süßigkeiten wurde nicht konfisziert o.Ä. Darüber hinaus waren wir mehrere Male in einem Wellenbad (zuvor vollkommen unkannt für mich, also sehr spannend).

Ja, und wir machten von Sylt aus einen Tagesauflug zur Insel Röm in Dänemark, und dann ging es auch noch nach Esbjerg, einem Hafen auf dem dänischen Festland, bevor es wierder nach Westerland zurückging. Mein erstes große Reiseabenteuer!

Und ja, natürlich kann ich mich an das Äffchen eim Eingangsbereich erinnern, Fiffi. Meinen ersten Hamster hatte ich später danach benannt.

Ich sehe in meinem Tagebuch, dass es eine klare Ordnung gab … wann ins Bett, wann aufstehen usw. Ich kann mich aber nicht daran erinnern, am Aufstehen mitten in der Nacht gehindert worden zu sein, wenn ich Pipi machen mußte. Vor dem Einschlafen wurde uns meist eine Geschichte vorgelesen. Wir hatten flache Einzelbetten, nahe am Fenster, wo ich nachts immer versuchte der Brandung zu lauschen und ganz gespannt darauf war, ob vielleicht eine Sturmflut im Anmarsch wäre … Spektakel hoch drei!

Ich habe Sylt geliebt, und ich bedaure, dass Andere zu anderen Zeiten oder mit anderen Menschen ganz Anderes erlebt haben. Und ich finde es sehr sehr wichtig, dass eine objektive Wahrheit ans Licht kommt … in die eine, oder eben in die andere Richtung! Ich persönlich möchte zu einer positiven Interpretation beitragen! Das sehe ich als meine Aufgabe an!

Mit besten Grüßen, Wolfgang.
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Dieter schrieb am 29.12.2019
Guten Tag,

im Februar 1962 war ich im Alter von 5 Jahren verschickt nach Norderney ins Seehospiz Kaiserin Friedrich.

Noch heute habe ich - ausschließlich - negative Erinnerungen an meinen Aufenthalt dort und kann über Misshandlungen der "Tanten" berichten. Ich verfüge über Fotos von meinem Aufenthalt, der seine unrühmliche Krönung darin fand, dass wir Kinder während der Sturmflut, die in Hamburg zahlreiche Todesopfer forderte, des Nachts geweckt wurden und uns angezogen in einem Raum versammeln mussten (bei "blauem Licht"), weil die Sicherheit der Anwesenden wohl auf dem Spiel stand.

Gerne würde ich mich mit anderen austauschen, sehe aber mich aufgrund technischer Schwierigkeiten bei "forumromanum" daran gehindert.

Wer kann mich unterstützen?
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sven schrieb am 28.12.2019
sven

ich war 1978 8 wochen im kinderkurheim “mövennest”.
es war sehr schlimm dort. nach stundenlanger fahrt mussten sich alle kinder an einer linie anstellen und wurden dann nach herzloser begrüssung auf die zimmer verfrachtet . die jüngeren kinder weinten jede nacht und wurden wenn sie nicht aufhörten im dunkeln in den toiletten eingeschlossen. es herrschte militärischer drill.unsere anziehsachen mussten wir jeden abend auf unserem platz zusammenlegen.wenn es ncht ordentlich genug war wurde alles von den “netten” schwestern quer durch den flur geschmissen und es ging wieder von vorne los.mädchen waren streng von jungs getrennt es gab keine wirkliche freizeit zum spielen. es herrschte ständige angst vor strafen, die es zu hauf gab.
die kleinen ( 5 jahre) litten besonders sie weinten andauernd. wir älteren hielten zum glück zusammen und litten nicht so viel. es gab soviel zwang und strafe das wir uns immer vorstellten wie wir von dieser insel abhauen könnten. .leider trauten wir uns nicht….das schlimme bei der ganzen sache fand ich dass es sich bei den schwestern um sehr junge schwestern handelte die absolut kein herz hatten….

viele grüsse

sven
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Rolf Döring schrieb am 28.12.2019
1. Aufenthalt in Stuttgart Plieningen: Insgesamt herrschte in dem Heim noch der Geist aus der Nazizeit, vom Inventar über das Personal und der Umgang mit den Zöglingen. Wenn ich das "Essen" nicht essen wollte/konnte (ich war wegen Unterernährung verschickt), in diesem Fall Leberknödel, die verdorben waren, wurde es mir mit Zwang eingefüttert, und nachdem ich es erbrochen hatte, mußte ich eben dieses erbrochene wieder "essen". Zugelassener Schriftverkehr war eine (!) gemeinsam verfasste Postkarte mit einem an der Tafel vorgeschriebenen Text, wie gut es uns geht. Das Blechgeschirr erlebe ich in Träumen bis heute.
2. Aufenthalt in Bad Rappenau: (immer noch "unterernährt") Gewaltsamer Esszwang, wenn erfolglos gab es ein besonderes Psycho-Highlight (insbesondere für die Stadtkinder): in einem benachbarten abgeschlossenen Hof durfte/mußte ich der Schlachtung einer Sau beiwohnen, wie diese im Kreis herum um ihr Leben rannte, schließlich vom Metzger (?) eingeholt, abgestochen wurde, alles voller Blut, das Geschrei der Sau, wie sie ausblutete, ich werde das vom Blut rote Pflaster nicht aus meinem Kopf los. Wahrscheinlich wohl deswegen Bettnässer, wurde mir eine Spezialbehandlung zuteil: Toilettenverbot (sowieso), ein Knebel in den Mund, der vorher in den gemeinsamen Nachttopf der Stube getaucht und geränkt wurde. Steigerung am nächsten Tag: Verlegung von dem 3-Kinderzimmer in ein 6er Zimmer und Wiedreholung der "Maßnahme", Weiter"schlafen" im nassen Bett. Die "Therapie" war insofern erfolgreich, als ich im Laufe nur eines Jahres mein Gewicht verdoppelt habe. Darunter allerdings leide ich bis heute.
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Conny schrieb am 27.12.2019
Ich und meine kleine Schwester waren auch 1975 durch eine Kinderverschickung von der Barmer in einen Haus gekommen was ich bis heute nicht vergessen habe. Ich erinnere mich nur nicht an den Ort. Ich weiß nur noch das es im Wald gewesen war. Es war groß und hatte Zimmer unter dem Dach. Ich war in einen Zimmer unter gebracht mit mehreren Kindern.Meine Schwester in einen kleinen Zimmer mit schräger Decke.Bei der Ankunft wurden uns die Spielsachen abgenommen und alles was sie gebrauchen konnten,Süssigkeiten,neue Pakete mit Taschentücher u.s.w.Es waren grauenvolle 6 Wochen die wir erlebten.Meine Schwester machte jede Nacht wegen Heimweh ins Bett was zufolge hatte das ich dann in der Nacht aus dem Bett gerissen wurde. Meine Aufgabe war dann unten im Waschkeller mit einen Waschbrett in einer Waschtonne das Bettzeug meiner Schwester zu waschen.Sie war ja erst 5 und ich 7 Jahre alt.Wurde im Zimmer bei mir nach dem zu Bett gehen noch gesprochen saß man vor der Tür und drückte die ganze Nacht die Klinke herunter.Es waren nur weibliche Betreuer im Haus. Bei Bestrafung wurde man auch kalt abgebraust.Lange Spaziergänge täglich im Wald waren Standart.Wir bekamen einmal ein Paket von den Eltern das mußten wir vor allen anderen essen. Das war voll die Schikane.Wir wurden beschimpft und bestraft.Es sind Dinge die ich 45 Jahre später immer noch nicht vergessen habe und die immer mal wieder hoch kommen.Als wir zurück nach Hause kamen bekamen wir immer nach unseren Schilderungen zuhören das wir wohl nicht lieb waren.Aber als meine Schwester auch noch Wochen danach immer wieder ins Bett machte und ich kaum eine Nacht durch schlief wurden sie aufmerksam.Meine Mutter kann heute noch nicht mit dem Thema um.Das Gefühl das jemand seine Macht an jemanden ausläßt möchte ich nie wieder haben.
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Astrid Ovenhausen schrieb am 26.12.2019
Als 7 jährige ( heute 75 Jahre alt) wurde ich zusammen mit meiner 2Jahre älteren Schwester nah Amrum verschickt. Nach 4 Tagen haben meine Eltern uns abgeholt. Ich musste auch das Erbrochene essen, dann gab es angeblich Kopfläuse, was für meine Haare ( lang bis auf die Hüfte) ein reines Vergnügen war. Meine Schwester wurde hermetisch von mir abgeschottet, war aber so pfiffig meinen Eltern eine Ansichtskarte zu schicken. Die holten uns dann umgehend ab
Schlimm war auch das spielen mit den Kaninchen die anschließend auf den Tellern landeten; natürlich wurde auch besonders betont daß das die Tiere waren mit denen wir vorher gespielt hatten. Ein einziger Albtraum.
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Jörg schrieb am 26.12.2019
Ich war im Frühjahr 1973 im Alter von sechs Jahren sechs Wochen in Niendorf, um für den Schulbeginn „aufgepäppelt“ zu werden. Es müsste das Kinderkurheim St. Antonius (Caritas, am Strand gelegen) gewesen sein. Auch ich hatte einige traumatische Erlebnisse, die mich bis heute verfolgen. Sie sind beim passenden Trigger sofort wieder präsent und tauchen gelegentlich immer noch in Träumen auf.
Den Gestank kochender Milch, der jeden Morgen das Treppenhaus hoch und durch die Gänge bis in die Schlafsäle kroch und einen aufweckte, kann ich bis heute nur schwer ertragen. Vor ein paar Jahren hatte ich mich mittags hingelegt, während meine Frau mit den Kindern in der Küche aktiv war, wobei Milch überkochte. Sofort träumte ich vom Aufstehen im Heim und dem Gang zum verhassten Frühstück, bei dem ich wieder irgendwie versuchen musste, um die heiße Milch mit Haut herum zu kommen.
Heiße Milch oder Kakao mit Haut ekeln mich nach wie vor ebenso an, wie gekochte Puddings mit Haut, die es auch dort gab. Das übrige Essen war teilweise „grenzwertig“, aber verglichen mit dem, was einem später in Schullandheimen und Co. oft serviert wurde, kein extremer Ausreißer. Zumindest kann ich mich abgesehen von den Puddings an keine Details erinnern (was verwunderlich ist, da ich ansonsten ein sehr gutes Gedächtnis für Essen und Trinken bis zurück in die früheste Kindheit habe).
Und natürlich hat auch die langfristige Trennung von den Eltern ihre Spuren hinterlassen. Angesichts noch fehlender Schreibkenntnisse und nicht vorgesehener Telefonate machte sich einerseits eine enorme Ohnmacht und Hilflosigkeit breit, und war man andererseits viel zu früh gezwungen Dinge „mit sich selbst auszumachen“, bei denen Kinder in diesem Alter in einer zivilisierten Gesellschaft Unterstützung ihrer Eltern haben sollten. Gerade beim Durchstehen von (banalen) Krankheitssituationen war man vollkommen einem Hausarzt ausgeliefert, der einem sofort Spritzen in den Po verpasste, was er überhaupt nicht beherrschte, und zu einer Rückkehr mit einem vollkommen zerstochenem, grün und blauen Hinterteil führte, das mich bei der Ankunft gleich wieder aus den Armen meiner Eltern flüchten ließ. Dass ich nach diesem Kurpfuscher keine Spritzenphobie entwickelt habe, ist erstaunlich.
Dieses „mit sich selbst ausmachen“, führte dann auch dazu, ein Übergeben nach dem Schokoladenpudding mit Haut geheim zu halten, um bloß nicht wieder als krank zu gelten, und damit dann die nächste Spritze zu kassieren. Und dies in einem Alter, in dem ich es noch gewohnt war, bei jeder Übelkeit der liebevollen Begleitung und des Verständnisses und der Sorge meiner Mutter sicher zu sein. Da ist viel Urvertrauen und kindliche Unbekümmertheit zerstört worden. Der Aufenthalt hat mich viel früher als üblich deutlich erwachsener werden lassen, und mir einen Teil meiner Kindheit zerstört. Es hat auch lange gedauert, bis ich mich wieder in die eigene Familie auf diesem neuen Niveau eingelebt hatte, und da gibt es für mich nach wie vor eine „Stufe“ in meiner Biographie, wo eigentlich eine sanfte Steigung sein sollte.
Dabei hatte ich es vergleichsweise gut, wenn man sich hier andere Schilderungen durchliest. Daher fällt es mir vielleicht auch leichter die damals gemachten Erfahrungen differenziert „einzusortieren“. Denn auch wenn einige der hier geschilderten Dinge durchaus strafrechtliche Relevanz haben oder zumindest auch nach damaligen Maßstäben als skandalös zu bezeichnen sind, ist es mE notwendig sie im zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext zu sehen, zu verstehen und zu bewerten.
Wir Ruhrgebietskinder waren tatsächlich vielfach recht kränklich und eher mager. Die Luftverschmutzung war extrem, und Erkrankungen der Atemwege waren weit verbreitet, drohten vielfach chronisch zu werden (soweit sie es nicht ohnehin schon waren). Ich selbst hatte damals schon eine zweistellige Zahl an Mittelohrentzündungen aufsummiert und ständig Last mit Erkältungen und Co. In Folge dieser ganzen Erkrankungen waren viele Kinder im Vergleich zu Kindern „vom Lande“ oft auf den ersten Blick als offensichtlich geschwächt zu erkennen. Über die Dinge, die wir mit der Nahrung aus dem Garten und dem Trinkwasser aus dem Uferfiltrat schwer belasteter Gewässer, … und beim Spielen und Baden draußen aufgenommen haben, will ich lieber erst gar nicht nachdenken. Ich bin damals unmittelbar nach diesem „Kuraufenthalt“ aus dem Ruhrgebiet weggezogen, und habe bei Besuchen in den Folgejahren zunehmend gemerkt, wie anders sich die „Ruhrgebietsmenschen“ im Vergleich zu meinem neuen Umfeld entwickelten.
Insoweit ist es nicht von der Hand zu weisen, dass bei den ganzen Verschickungen sicherlich viel guter Wille bei denen vorhanden war, die Kinder zur Verschickung vorschlugen, und sich dafür einsetzten, dass Kinder aus dem Ruhrgebiet und anderen hoch belasteten Gebieten die Chance bekamen, einige Wochen raus an die frische Luft zu kommen, um dort etwas Reserven aufzubauen.
Natürlich war es fatal Kinder für so eine lange Zeit komplett von den Eltern zu trennen, die noch nicht in der Lage sind eigene Briefe zu schreiben oder unabhängig von einer Einrichtung Hilfe zu suchen, und sei es nur, ein Telefonat zu führen. Die einseitige Kommunikation durch fröhliche Postkarten der Eltern, auf die man keine Chance einer Erwiderung unter Mitteilung der tatsächlichen Situation und Gefühle hatte, war sicherlich ein Kardinalfehler, der damals gemacht wurde.
Andererseits muss man aber auch sehen, dass die Elterngeneration selbst oft noch erheblich schwerere Schicksale in der eigenen Kindheit durch Krieg und Vertreibung erlitten hatte, und dadurch ggf. abgestumpft war, und die sich hier für ihre Kinder abzeichnende Dramatik eventuell gar nicht erkannte. Zudem herrschte noch eine ganz andere Obrigkeits-Hörigkeit, und wenn der Arzt und die Heimleitung verkündete, dass dies so richtig und wichtig sei, dann galt dies damals noch viel mehr als heute. Die Zeit war noch stark autoritär geprägt, und gerade Jungen wurden noch sehr in Richtung „Härte“ erzogen. Auch die „technischen Voraussetzungen“ waren noch ganz anders. Vermutlich gab es damals in solchen Heimen nur einen einzigen Telefonanschluss, der es einfach gar nicht gestattete, dass die Kinder regelmäßig mit ihren Eltern hätten telefonieren können. Und auch die Kosten von Ferngesprächen waren noch ganz anders. Auch fehlte in vielen Familien noch das eigene Auto und waren daher Sammeltransporte mit der Bahn das Mittel der Wahl.
Was natürlich gar nicht ging, und auch strafrechtlich relevant ist war, dass man meine Eltern damals mehrfach über meinen tatsächlichen Gesundheitszustand belogen und nicht in die ärztliche Behandlung einbezogen hat/ihnen aufgrund meiner Erkrankungen die Möglichkeit gegeben hat, mich vorzeitig abzuholen. Ich wurde bei mehreren Versuchen eines Anrufs verleugnet, und als „gesund und munter“ beschrieben. Spätestens vor der Verabreichung von Spritzen hätte man hierzu die ausdrückliche Einwilligung meiner Eltern einholen müssen. Der ärztliche Heileingriff ohne Einwilligung ist eine Körperverletzung!
Was die „gute Milch“ angeht, so will ich auch hier zunächst niemand einen Vorwurf machen, auch wenn mich das Thema bis heute verfolgt. Die tatsächlich frisch vom Bauern in der Kanne angelieferte Milch würde auch heute noch als „besonders gesund“ und hochwertig gelten, muss aber aus hygienischen Gründen selbstverständlich abgekocht werden. Auf pingelige Esser und Trinker wurde damals allgemein noch keine große Rücksicht genommen. Auch in vielen Familien wurde „gegessen, was auf den Tisch kommt“, und mussten mäkelige Esser mal die ein oder andere Stunde am Tisch bleiben. Das waren keine besonderen Grausamkeiten in den Heimen, sondern übliche Erziehungsmethoden dieser Zeit, auch wenn man sie aus heutiger Sicht sicherlich zurecht kritisch sieht. Kinder zum erneuten Essen erbrochener (eher waren es vielleicht doch eher lediglich ausgespuckte) Speisen zu zwingen ist eine ganz andere Hausnummer, dies habe ich aber nicht erlebt. Den Luxus von „Trend-Allergien“ und Unverträglichkeiten, „Iss-Dich-Interessant-Diäten“ und Co. gönnen wir uns erst seit wenigen Jahren. Und viele Zusammenhänge zwischen Ernährung und bestimmten Erkrankungen waren damals auch noch nicht so gut erforscht und bekannt, wie heute. Insoweit will ich – insbesondere sicherlich damals auch knapper Budgets – nicht zu viel am Thema Essen kritisieren.
Auch bei uns wurden damals Süßigkeiten aus den Paketen der Eltern in der Gruppe verteilt, was ich damals selbstverständlich als ungerecht betrachtete. Im Nachhinein sehe ich dies anders. Die Kinder bekamen damals sehr unterschiedlich viel Post und Pakete mit sehr unterschiedlichem Inhalt. Die Verteilung der Süßigkeiten schaffte hier einen gerechten Ausgleich zugunsten der sonst schlechter gestellten Kinder. Wenn meine Süßigkeiten damals das ein oder andere Kind glücklich gemacht haben, das selbst nicht so viel bekam, soll es mir heute Recht sein.
Was mich allerdings trotz des berechtigten – auch bei mir vorhandenen – Interesses an einer gründlichen Aufarbeitung des Themas stört ist, dass hier nicht wenige Stimmen vorhanden sind, die die Erlebnisse von sechs Wochen Kur monokausal für diverse Dauerprobleme in ihrem Leben ansehen. Zweifelsohne haben diese Erlebnisse sicherlich vielfach bleibende negative Erinnerungen produziert. Es wäre aber gut, diese sechs Wochen angemessen gegenüber anderen Dingen in Relation zu setzen, die in übrigen 50 und mehr Jahren Lebenszeit geschehen sind.
Auch stört mich der bislang durch nichts belegte Vorwurf, „dass jemand an der Verschickung verdient haben muss“. Natürlich sind die aufgerufenen Summen, die für die Verschickung damals aufgewendet wurden, in den Augen von all denjenigen, die sich noch nie mit Beträgen in entsprechender Größenordnung beschäftigten mussten, hoch. Allerdings darf man eben auch nicht vergessen, was dem an Kosten für Personal, Transport, Räumlichkeiten und Verpflegung gegenüberstand. Wenn ausgeführt wird, dass die Verschickung damals ein „eigener Wirtschaftszweig“ gewesen sei, so sollte man aufpassen darüber entstandene Umsätze nicht mit Gewinnen gleichzusetzen, die sich ggf. einzelne Beteiligte unberechtigter Weise in die eigene Tasche gesteckt haben mögen. Ohne konkreten Nachweis gilt auch hier die Unschuldsvermutung.
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Bernadette schrieb am 25.12.2019
Ich war 1968 mit sechs Jahren sechs Wochen in Nußdorf am Inn zur Kur, weil ich zu dünn war und zunehmen sollte. Vor dem Aufenthalt in dem Erholungsheim sollten den Mädchen die Haare geschnitten werden, damit die Tanten nicht soviel Arbeit hätten. Das mochte ich nicht, ich wollte meine Haare lieber behalten. Auf der Hinfahrt mit dem Zug waren wir sechs Kinder im Abteil und sind über Nacht gefahren ohne die Begleitung eines Erwachsenen.
Einmal sind wir am Inn spazieren gegangen und ich kann mich erinnern, daß mir ein anders Kind Zittergras gezeigt hat, das fand ich sehr toll. Die Tanten haben uns erzählt, daß dort überall Bomben aus dem Krieg liegen und wir deshalb auf keinen Fall vom Weg abkommen dürften, was ich sehr spannend fand.
Ich kann mich an einen ewig langen Nachmittag erinnern mit einem anderen Kind im Speisesaal, wo wir so lange sitzen bleiben mußten, bis wir unseren Rhaberberkompott aufgegessen hatten. Einmal war ich wohl frech und habe Widerworte gegeben, da hat mich eine Tante mit dem Gesicht in weiße Soße oder Sahne getaucht, alles hat gelacht.
Wir mußten immer alles aufessen und oft kam es mir wieder hoch und ich mußte das runterschlucken.
Es gab auf der Etage, wo ich schlief nur 2 Toiletten, vor denen sich immer lange Schlangen bildeten. Einmal habe ich mich vor der Klotür auf den Boden übergeben, weil ich nicht rechtzeitig zur Kloschüssel kam.
Einmal mußte ich, weil ich irgendetwas angestellt hatte die ganze Zeit auf einen Stuhl im Flur sitzen, während die anderen Kinder Mittagsschlaf in ihren Betten halten mußten
Ich hatte einmal Besuch von meiner Tante Else aus München, wir waren die ganze Zeit im Büro der Heimleiterin. Meine Tante hatte mir einen kleinen grünen Spielzeugfernseher mitgebracht, in dem man Bilder sehen konnte, wenn man auf eine Taste drückte. Den habe ich geliebt.
Sonntags wurden Postkarten geschrieben, da ich noch nicht schreiben konnte, hat das eine Tante, die noch sehr jung war und die ich nett fand für mich gemacht.
Ich kann mich an sexuellen Mißbrauch durch die Heimleiterin erinnern, die nachts in unseren Schlafsaal kam und die Mädchen befummelte und dabei sehr vulgäre Worte von sich gab.
In dem großen Speisesaal gab es eine Durchreiche zur Küche, dort war eine böse Frau mit einem Kopftuch, vor der hatte ich viel Angst und ich glaubte auch, daß die Küche die Hölle sei.
Zum Abschied gab es ein großes Fest für alle Kinder mit Musik und wir durften tanzen. Es gab ein Zwillingspaar aus Berlin, Jungs, die waren schon größer, die trugen Chucks an denen sie die Schnürsenkel hinten an den Fersen zugebunden hatten, das fand ich sehr cool.
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Siegfried schrieb am 23.12.2019
Hallo, durch Zufall bin ich auf diese Seite gestoßen und konnte erfahren dass viele Kinder ihre Verschickung wie ich als Trauma empfunden haben. Ich bin Jahrgang 1943 und habe Anfang 1957 sechs Wochen in Wyk auf Föhr verbracht. Meine schlimmste Erinnerung ist die an den 90 minütigen Mitttagsschlaf unmittelbar nach dem Mittagessen, dabei war es uns strengstens verboten während dieser Zeit die Toilette aufzusuchen. Für mich war das eine Tortur.Irgendwann habe ich mein Problem brieflich meiner Mutter geschildert. Dieser Brief wurde von der Heimleitung abgefangen, hatte aber zur Folge, dass ich nun während der Mittagspause einmal die Toilette aufsuchen durfte.
Wenn wir das Heim zum Spaziergang verließen, mußten wir 14 jährige dies in Zweierreihen und angefaßt tun. Erst wenn wir den Ortsausgang von Wyk erreicht hatten durften wir uns losslassen und uns frei bewegen.
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Rüdiger schrieb am 23.12.2019
Hallo zusammen, ich habe mich immer gewundert weshalb diese “Kinderverschickungen” oder wie man “das Kind” nennen möchte nicht in die öffentliche und politische Diskussion und zur Aufarbeitung gebracht wurde. Egal, besser jetzt als nie.

Ich bin Jahrgang 1959. Auch ich kam in den “Genuss” einer sechswöchigen “Erholungsmaßnahme”. Wer diese vorschlug / verordnete (vermutlich der beim Gesundheitsamt Wiesbaden beschäftigte Schularzt oder der Kinderarzt – die hatten in den 1960er-Jahren noch “was zu sagen”) und aus welchen Gründen, weiß ich nicht mehr… ich hatte weder Asthma noch war ich unter- oder überernährt oder allzu blass. Vielleicht aber nahmen meine Eltern in guter Absicht nur die Gelegenheit wahr, ihrem Sprößling sechs Wochen kostengünstig “Ferien” angedeihen zu lassen.

Leider erinnere ich nicht mehr jedes Detail. Die “Erholung” fand wohl irgendwann in den Jahren von 1965 bis spätestens 1968 statt (eher 1967). Los ging es per “Sammeltransport” mit dem Zug von Wiesbaden, ich meine in den Schwarzwald. Wenn ich nicht total daneben liege, waren unter anderem Jungs aus Wiesbaden-Erbenheim dabei. Den Name des Zielortes und den des “Ferienheimes” habe ich aus meinem Gedächtnis verbannt, dafür waren die Erlebnisse in diesen sechs Wochen zu wenig vergnügungssteuerpflichtig.

Ich weiß, dass Ernährung immer auch Geschmack- und Ansichtssache ist, trotzdem: Das Essen war einseitig, teilweise ungenießbar bis verdorben… von mehrmals täglich Milch- und / oder Schokoladenpuddingsuppe über nicht definierbare Wurst- und Käsesorten mit ebensowenig definierbaren Inhalten… egal, was auf den Tisch kam: es war ekelhaft. Einzige Ausnahme war die tägliche Nachmittagsvesper: Bei diesen Mahlzeiten war das Schwarzbrot ausnahmsweise genießbar, die Marmelade ebenfalls. Ich vermute, diese Vesper haben uns damals am Leben gehalten. Alle Mahlzeiten mussten vollständig aufgegessen werden, auch wenn einem “das Zeugs” aus den Ohren oder sonstwo raus kam. Wer sich erbrach, der hatte anschließend mehr vom Essen… es wird aufgegessen, und zwar alles… basta! Beschwerden über das Essen wurden bestenfalls ignoriert, meistens aber bestraft… Bloßstellung vor der Gruppe, Schlafentzug, stundenlanges Stehen “in der Ecke” oder Sitzen auf der Treppe und so weiter.

Es gabe nur ganz wenige “Tanten” (meist jüngeres Semester), die sowas wie ein Herz hatten für uns Kinder. Ich erinnere eine “Lieblingstante”: Immer wenn wir mit ihr das “Lager” verlassen hatten für einen Ausflug oder eine Besichtigungen erlaubte sie, dass wir uns etwas “Anständiges” zum Essen kauften… ein Brötchen, eine Rosinenschnecke und dergleichen… aber es musste die “richtige” zweite Aufsichtsperson dabei sein… und bloß nichts verraten.

Ansonsten: Kasernenhofton allenthalben, Rudelduschen (gerne mit kaltem Wasser), mehr als fragwürdige physische und psychiche “Erziehunsmaßnahmen, keine Gespräche oder auch nur einen anderen “Mucks” während der Mittags- und Nachtruhe (dazu gehörten z.B. murmeln, Selbstgespräche, weinen, schnarchen, niesen, husten… anderenfalls gab es ebenso einfallsreiche wie schrechliche Strafen), keine Besuche und Post von Eltern / Verwandten, die eigene Post “nach draußen” war nur sporadisch erlaubt und wurde streng kontrolliert / zensiert.

ENDLICH, die sechs Wochen waren vorbei… das unsägliche Heimweh hatte ein Ende! Zugfahrt zurück nach Wiesbaden und Abschied von liebgewonnenen Leidensgenossen (ich glaube, zum Teil aus Berlin). Ankunft in Wiesbaden… Ausstieg aus dem Zug… große Augen und verblüfft-fassungslose Gesichter meiner und anderer Eltern: “Wie seht ihr denn alle aus? Gab’s nichts zu essen? Ihr seid ja rappeldürr geworden!!! Auf ins nächste Lokal (Wiener Wald?) und ordentlich futtern!”

Haben sich meine Eltern damals irgendwo beschwert? Ich weiß auch das nicht mehr… und fragen kann ich sie nicht.

Alle ein besinnliches Weihnachtsfest und einen "Guten Rutsch"!
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Joachim Ratzel schrieb am 23.12.2019
Auch ich wurde gegen meinen Willen verschickt, nie gefragt oder irgendwie mit einbezogen. Eine Aufarbeitung mit meinen Eltern war und ist bis heute nicht möglich. "Das war damals halt so üblich oder wir meinten es doch nur gut". Bis heute ist das Verhältnis zu meinen Eltern belastet. Heute bin ich 61 Jahre alt und immer noch nicht darüber hinweg aber ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin.
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sven schrieb am 22.12.2019
hallo steven,
hört sich an wie das kinderkurheim mövennest von der awo indem ich insasse war.
ich war auch 78/79 für 8 wochen da.
nur bei den dünnen.
kann mich erinnern das wir einige male mit den dicken im speisesaal waren.
strikt gerennt natürlich.
wir haben unseren dicken leidensgenossen dann unser essen zukommen lassen...
au backe,während ich das aufschreibe merke ich wieder was die dort mit uns kindern für kranke scheisse veranstaltet haben....
viele grüsse sven
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Joachim Ratzel schrieb am 22.12.2019
Die Reportage in "Report Mainz" über die Verschickungskinder hat mich
sehr berührt. Zu meiner Person: Ich bin 61 Jahre alt und in der Nähe von
Karlsruhe aufgewachsen. Seit vielen Jahren lebe ich in Frankreich. Ich
selbst war in den 60ern zweimal für jeweils 6 Wochen als
Verschickungskind in Erholungsheimen der Post im Schwarzwald. Die Zeit
dort war für mich eine der schlimmsten und erniedrigensten Erfahrungen
meines bisherigen Lebens. Bis heute kann ich meinen Eltern nicht
verzeihen, dass ich dort hin geschickt wurde und die große
Verlassenheit, das Heimweh und die Qualen ertragen musste.

Der Bericht hat mir die Augen geöffnet und gezeigt: Ich bin kein
Einzelfall und ich habe ein Recht dazu darüber zu reden....
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Mechthild schrieb am 22.12.2019
Als ich 1962 in das Kinderkurheim nach Sandkrug verschickt wurde, war ich 3 Jahre alt. Meine Erinnerungen sind sehr lückenhaft, aber die Schilderungen von Christine kommen mir doch sehr bekannt vor. Wer sich nachts in den Schlaf weinte, wurde bestraft. Beim Einschlafen wurde uns vorgeschrieben, zu welcher Seite unser Kopf liegen musste, damit wir uns gegenseitig nicht ansehen konnten. Nächtlicher Toilettengang war verboten. Als ich schreckliches Heimweh bekam, schickte man mich auf die Krankenstation und leider nicht nach Hause. Dieser eigentümliche Puddinggeruch im Speiseraum - an den kann ich mich seltsamerweise heute noch erinnern.
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Madeleine15 schrieb am 22.12.2019
Danke, Cornelia, bei mir war es fast genauso wie bei dir! Wo an der Nordsee warst du denn?? Übrigens gibt es auf Facebook eine private Gruppe "Verschickungskinder Deutschland". Stelle eine Beitrittsanfrage und beantworte dann die Frage. Wäre schön, dich dort zu sehen.LG
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Saskia Breul schrieb am 21.12.2019
Meine Mutter hat zum Zeitraum meiner Geburt (Februar 1971) in einem Kindererholungsheim auf Amrum „Möwenhof“ gearbeitet. Da ich die nächsten Jahre unter chronisch spastischer Bronchitis litt und zu klein und leicht war, wurde ich das erste Mal 1973 verschickt...nach Amrum in den Möwenhof.
Bevor ich in die Schule kam, wurde ich noch mind. 1 weiteres Mal verschickt...nach Birkendorf im Schwarzwald. Es kann sein, dass ich irgendwann noch mal auf Amrum war.
Ich hatte diese Verschickungen eigentlich nie mehr wirklich auf dem Schirm....auch nicht als Grund, dass ich mich nicht unter kriegen lasse im Leben und immer am kämpfen bin.
Aber ja.....bei meinen beiden Adoptivkindern merke ich, welch Auswirkungen ein Verlassenwerden und auf sich allein gestellt sein bei einem Kind haben kann. Warum hab ich da nie an meine eigenen Erfahrungen gedacht?
Habe nur bruchstück artige Erinnerungen an diese Aufenthalte.....dass ich wegen Schwätzen abends im Schlafsaal mal ins Bad auf einen Stuhl gesetzt wurde mit einer grauen kratzenden Wolldecke und dort dann vergessen wurde.
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Cornelia schrieb am 21.12.2019
Es heißt aber, über 8Millionen Kinder seien verschickt worden. Ich glaube jedem, der sagt, er sei misshandelt worden. Ob es viele oder wenig sind. Das muss man auf jeden Fall ernst nehmen. Ich selbst wurde mit 7,11 und 12 verschickt. Das erste Mal war das Heimweh eine ganz schlimme Erfahrung. Misshandelt wurde ich aber nicht. Ich wurde weder für das Heimweh noch für das Bettnässen bestraft. Die anderen Aufenthalte habe ich in derart positiver Erinnerung, dass ich deshalb heute noch gerne an die Nordsee fahre. Mein Mann und meine 4 Brüder wurden auch verschickt. Einer meiner Brüder sagt, es seien ein paar Dinge nicht in Ordnung gewesen. Die anderen fanden die Aufenthalte gut und haben keine Misshandlungen erlebt. Ich habe lange überlegt, ob ich was schreibe, weil ich vermutete, dass positive Berichte untergehen und kein Gewicht haben.
Mir ist immer eine ausgewogene und faire Berichterstattung wichtig. Eine allgemeine Aufarbeitung ist sicher notwendig, ich würde mich über eine differenzierte Aufarbeitung freuen, die auch die positiven Seiten berichtet und vor allem auch den gesundheitlichen Aspekt im Focus hat. Ich selbst hätte die darauffolgenden Winter schlechter überstanden, das konnte ich schon als Kind feststellen. Ich war immer sehr von Atemwegsinfekten geplagt und es gab keine Antibiotika. Ich konnte mich nach den Aufenthalten in der Schule besser konzentrieren. Meine Tante starb im Alter von 21 Jahren an Herzlähmung infolge einer schweren jahrelangen Asthmaerkrankung. Wie oft hörte ich den Satz "Hätte man sie ab und zu in Kur geschickt,dann würde sie noch leben". Man darf nicht übersehen, dass es damals vor Ort sehr wenige gute medizinische Hilfen gab.
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Gerald schrieb am 20.12.2019
Das sehe ich auch so, Gabriele! Ich habe hier auch Kommentare gelesen, die positive Erfahrungen enthielten.

Klar, die meisten Kommentatoren haben, so wie ich auch, negative Erfahrungen gemacht. Daran kann man sehen, dass es keine Einzelfälle sind.

Und wegen der Aufteilung Verschickungskinder - Kurkinder: Es gab eben bis 1990 verschiedene Verantwortliche, die die Verschickung organisiert, angeordnet und durchgeführt haben. Von daher, sollte man hier schon unterscheiden.
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Ingrid Landwehr schrieb am 20.12.2019
Liebe Manuela, auch ich war 6 Wochen auf Langeoog allerdings 3 Jahre nach dir.
Im Gegensatz zu dir bin ich durch diese Kur schon traumatisiert u. beabsichtige eine entsprechende Therapie zu machen.
Meine Frage an Dich: hast Du irgendwelche Fotos, Postkarten, Namen oder ähnliches? Würden mir zwecks Verarbeitung sehr dienlich sein.
Würde mich freuen von dir zu hören!
LG Ingrid
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Sabrina schrieb am 20.12.2019
Ich bin Anja Röhl mehr als dankbar für diese Möglichkeit, mich endlich mitteilen zu können und mit anderen Betroffenen in Kontakt treten zu können. Überhaupt zu erfahren, dass man eben nicht als Einzige diese Erfahrung machen musste oder sie sich womöglich nur eingebildet hat.
Mag sein, dass mich das Gelesene und meine Erinnerungen an diese Zeit , die jetzt natürlich geballt wieder zurück kommen, etwas dünnhäutig machen..
Ich bin froh hier eine von vielen zu sein und nicht länger mit meiner Geschichte allein da zu stehen. Auf der Seite der DDR Kurkinder bin ich gerade die Einzige... DAS war der Grund meines Kommentars. Um den link ging es mir nicht.
Falls ich mich im "Ton" vergriffen habe, möchte ich mich dafür entschuldigen.
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Anna schrieb am 19.12.2019
Nachdem ich als selbst betroffenes Kind hier geschrieben habe und meine Erfahrungen mit anderen geteilt habe, lese ich immer wieder von Zeit zu Zeit. Zum einen möchte ich Anja Roehl danken, dass sie diesen Link eingerichtet hat. Zum anderen möchte ich allen sagen, dass wir von Nazis so misshandelt wurden. Frauen, die ihre Machtfantasien an uns ungehindert ausleben konnten. Es waren Nazis - nichts anderes, lebenswert oder lebensunwert saß so tief in den Köpfen dieser Tanten-Monster, null Respekt, null Achtung vor schwachen Kindern, obwohl wir ja klein und relativ artig waren. Eine Kleinigkeit konnte diese Monster total ausrasten lassen. Nach diesem Schlüsselerlebnis der Aufdeckung via ‚Report’ ist mir endlich klar, warum ich Nazis abgrundtief hasse und es mich nach wie vor schockiert, wie lange diese Heime existiert haben und wie wenig Aufarbeitung bis ins 21. Jahrhundert hinein stattgefunden hat, von staatlichen Stellen. Diese Verachtung ist ungeheuerlich.
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Gerald Frühsorge schrieb am 18.12.2019
Mein Name ist Gerald Frühsorge. Ich bin 1959 auf die Welt geschickt worden. Meine Kindheit verbrachte ich in einem kleinen Dorf nahe Dessau. Dort, wo das Land so eben wie ein Bügelbrett ist. Und wo die Luft damals so dick war wie der Nebel in Südengland. Umweltverschmutzung in höchsten Grade. Im Industriedreieck der DDR. Bitterfeld war nicht weit.
Im Jahr 1967, es waren meine ersten Sommerferien, schickte mich meine alleinerziehende Mutter in das Kinderkurheim Schloss Kröchlendorf. Kinderstrafvollzugsanstalt wäre eine treffender Bezeichnung. Es war mein erster Ausflug in die Ferne. Vier Wochen sollte ich hier sein. Als die vorbei waren wußte ich, es war eine Reise um das Gruseln zu lernen. Das, was ich in diesen vier Wochen erlebt und erduldet hatte, möchte ich erstmals nach außen tragen. Seit meinem Aufenthalt dort sind mehr als 52 Jahre vergangen. An Vieles kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß weder Namen von Erzieherinnen (Wachpersonal), noch von anderen Kindern. Nur ein Name ist mir in Erinnerung geblieben. Konrad. Er war so alt wie ich und in meiner Gruppe. Wir trafen uns 1969 zufällig im Theater in Wolfen.
Wir Kinder sind mit dem Bus nach Kröchlendorf gefahren worden. Bei der Ankunft wurde uns das Taschengeld abgenommen. Nicht jeder hatte welches. 10 MDN hatte meine Mutter mir mitgegeben. Weiß nicht wofür es verwendet wurde.
Vom ersten Augenblick an war mir bewußt, daß es hier ganz anders sein wird als in meiner kleinen Welt, die ich bis dahin kannte. Es herrschte ein rüder Ton. Einschüchternd. Die Erzieherinnen haben klargestellt wie das hier ablaufen sollte.
Die Erinnerungen und die bösen Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machte, sind absolut authentisch. Sie sind immer dieselben geblieben, haben sich im laufe der Jahre nicht verändert. Haben sich eingebrannt.
Zu den Malzeiten ging es besonders drakonisch zu. Vor der Essenausgage mußten wir in einer schmerzhaften Zwangshaltung am Tisch sitzen. Die Arme über die, für Kinder im Alter von sieben Jahren, viel zu hohen Stuhllehnen nach hinten über die oberste Sprosse gelegt. Das Essen war nicht kindgerecht. Erbrechen war an der Tagesordnung. Nachts habe ich oft gesehen, daß das Treppenhaus von Erbrochenem bedeckt war. Und die Kinder dazu. Mit Eimern und Wischlappen. Ich war auch dabei.
Kaum vorstellbar, für den der das nicht selbst erlebt hat , davon möchte ich nun erzählen. Während des Essens mußte ich mich übergeben. Ich erbrach mein Essen auf Tisch und Teller. Eine Erzieherin kam und zwang mich unter Androhung von Strafe mein Erbrochenes aufzulöffeln.
Solange, bis ich weinend zusammengesunken war.
Wir Konnten unsere Kleidung nicht selbst aussuchen. Der Kleiderschrank war verschlossen. Die Sachen, die wir anziehen sollten, legten die Erzieherinen heraus. Ich hatte zwei kurze Schlafanzüge im Gepäck. Eines Morgens lag einer davon auf meinem Bett. Samt Unterwäsche und Strümpfen. Das ist doch Nachtwäsche sagte ich. Es half nichts. Zwei Wochen lang bin ich tagsüber in meinen Schlafanzügen herumgelaufen. Guck mal, da ist wieder der Junge im Schlafanzug. Nicht nur einmal hatte ich das gehört. Habe mich so geschämt.
Einmal in der Woche war Schreibtag. Ich glaube am Montag. Die Post, die wir verschicken wollten, wurde auf den Inhalt hin kontrolliert. Nicht selten standen die Inhalte der Zensur nicht stand. Nocheinmal." Das Wetter ist schön. Das Essen schmeckt. Ich fühle mich hier wohl".
Dann ging die Post ab.
Die Gruppen, die zusammengestellt wurden, bestanden aus Kindern verschiedenen Alters. 6 bis 9 jährige. Ohne weiteres nachdenken für jeden nachvollziehbar, was das für die Schwächsten einer Gruppe bedeutete. Zusätzliche Schikane, Drangsalierung und Gewaltanwendung.
Nur eine Erzieherin, noch sehr jung, ist mir in guter Erinnerung geblieben. Sie war sehr liebevoll. Auf einem meiner zwei Fotos aus dieser Zeit ist sie zu sehen.
Viele Erinnerungen sind mir nicht geblieben. Ein paar kleine Begebenheiten nur.
Bis heute weiß ich nicht, warum meine Mutter mich nach Kröchlendorf geschickt hatte.
Auf diese Frage habe ich keine Antwort bekommen. Unverständlich für mich auch, daß sie meinen Erzählungen offensichtlich keinen Glauben geschenkt hat. Sie hat sich nie die Zeit genommen mehr darüber zu erfahren.
Ich wünsche mir, daß jeder, der die Kommentare der Kurkinder liest und ähnliche Erfahrungen gemacht hat, sich die Zeit nimmt und an dieser Stelle sich mitteilt.
Hier geht es nicht "nur" um die Aufarbeitung und Benennung des Unrechts das uns widerfahren ist. Es geht immer darum, den Schutz der schwächsten in unserer Gesellschaft sicherzustellen. Es geht um unsere Zukunft. Unsere Kinder. Ihre Rechte müssen respektiert und durchgesetzt werden.
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Janin Zielonka schrieb am 18.12.2019
Als kleines Mädchen litt ich unter starkem Bronchial-Asthma und kam deshalb im Frühjahr 1961 als Verschickungskind für 6 Wochen nach Dunen an der Nordsee. Ich war 7 Jahre alt und Schülerin einer ersten Klasse.

Dort herrschte ein rauer Umgangston, selbst am Ende der 6 Wochen kannten die Betreuerinnen meinen Namen noch nicht, wie viele andere Kinder wurde ich entweder mit „Du da“ oder – persönlicher - „Heh, die mit den Zöpfen“ angesprochen.

Wir schliefen in einem großen Gemeinschaftsraum mit ungefähr 25 Kindern, und sobald das Licht gelöscht war, durfte niemand von uns einen Mucks machen oder auf die Toilette gehen. Wer doch sprach, wurde bestraft, indem das Kuscheltier für diese Nacht weggenommen wurde. Als ich einmal weinte und dabei ertappt wurde, musste ich eine Stunde im Nachthemd neben dem Bett stehen, Noch schlimmer ging es den Kindern, die einnässten, denn diese wurden am nächsten Morgen gezwungen, ihre Bettlaken in kaltem Wasser zu waschen.

Glücklicherweise habe ich nicht eingenässt. Da wir jedoch nur zu bestimmten Zeiten auf die Toilette gehen durften, habe ich einmal bei einem Strandspaziergang in den Sand gemacht und wurde dabei erwischt.
Daraufhin wurde mein Anorak in mein großes Geschäft gedrückt, mit dem Kot beschmiert, und dann musste ich diesen zunächst wieder anziehen und später ebenfalls mit kaltem Wasser säubern.

Zum Frühstück, das wir ebenfalls schweigend verbringen mussten, bekamen wir stets Hafergrütze, Graubrot und Marmelade, während die mit uns am Tisch sitzenden Erzieherinnen Brötchen, ein gekochtes Ei und vielseitigen Aufschnitt verzehrten. Vom Brot durften wir uns erst nehmen, wenn der Teller Hafergrütze leergegessen war. (Sie schmeckte abscheulich Wenn eine von uns redete, durfte sie nicht weiteressen und musste die restliche Frühstückszeit hinter ihrem Stuhl stehend verbringen.

Alle Strafmaßnahmen wurden von lauten herabsetzenden und verletzenden Kommentaren der Erzieherinnen begleitet, und alle anderen Kinder wurden dazu angehalten, dem ausgeschimpften Kind die Ätsch- Geste zu zeigen und es wegen seines Fehlverhaltens auszugrenzen.



Einmal gab es für uns doch ein Frühstücksei, nämlich am Ostersonntag. Meins war geplatzt und ausgekocht, und eine der Erzieherinnen verhöhnte mich vor allen anderen:“ Guckt mal, ein hohles Ei für eine hohle Nuss!“, lautes Gelächter von allen Seiten.

Was wir unseren Eltern schrieben, wurde vorgegeben. Immerhin durften wir zwischen einigen Sätzen wählen, wohl, damit nicht 50 Kinder dasselbe schrieben.

Wenn wir Post bekamen, so wurden wir darüber beim Mittagessen informiert, bekamen die Briefe und Karten aber erst am nächsten Tag, sofern wir uns folgsam und angepasst verhalten hatten. Wenn nicht, wurde auch dies öffentlich gemacht und die Postausgabe verweigert, bis wir das erwartete Verhalten an den Tag gelegt hatten.

Viel habe ich vergessen, bestimmt auch so einiges verdrängt, einiges fällt mir bestimmt in der nächsten Zeit noch wieder ein, dann werde ich meinen Bericht vervollständigen. Für heute reicht es.

Als kleines Mädchen litt ich unter starkem Bronchial-Asthma und kam deshalb im Frühjahr 1961 als Verschickungskind für 6 Wochen nach Dunen an der Nordsee. Ich war 7 Jahre alt und Schülerin einer ersten Klasse.

Dort herrschte ein rauer Umgangston, selbst am Ende der 6 Wochen kannten die Betreuerinnen meinen Namen noch nicht, wie viele andere Kinder wurde ich entweder mit „Du da“ oder – persönlicher - „Heh, die mit den Zöpfen“ angesprochen.

Wir schliefen in einem großen Gemeinschaftsraum mit ungefähr 25 Kindern, und sobald das Licht gelöscht war, durfte niemand von uns einen Mucks machen oder auf die Toilette gehen. Wer doch sprach, wurde bestraft, indem das Kuscheltier für diese Nacht weggenommen wurde. Als ich einmal weinte und dabei ertappt wurde, musste ich eine Stunde im Nachthemd neben dem Bett stehen, Noch schlimmer ging es den Kindern, die einnässten, denn diese wurden am nächsten Morgen gezwungen, ihre Bettlaken in kaltem Wasser zu waschen.

Glücklicherweise habe ich nicht eingenässt. Da wir jedoch nur zu bestimmten Zeiten auf die Toilette gehen durften, habe ich einmal bei einem Strandspaziergang in den Sand gemacht und wurde dabei erwischt.
Daraufhin wurde mein Anorak in mein großes Geschäft gedrückt, mit dem Kot beschmiert, und dann musste ich diesen zunächst wieder anziehen und später ebenfalls mit kaltem Wasser säubern.

Zum Frühstück, das wir ebenfalls schweigend verbringen mussten, bekamen wir stets Hafergrütze, Graubrot und Marmelade, während die mit uns am Tisch sitzenden Erzieherinnen Brötchen, ein gekochtes Ei und vielseitigen Aufschnitt verzehrten. Vom Brot durften wir uns erst nehmen, wenn der Teller Hafergrütze leergegessen war. (Sie schmeckte abscheulich Wenn eine von uns redete, durfte sie nicht weiteressen und musste die restliche Frühstückszeit hinter ihrem Stuhl stehend verbringen.

Alle Strafmaßnahmen wurden von lauten herabsetzenden und verletzenden Kommentaren der Erzieherinnen begleitet, und alle anderen Kinder wurden dazu angehalten, dem ausgeschimpften Kind die Ätsch- Geste zu zeigen und es wegen seines Fehlverhaltens auszugrenzen.



Einmal gab es für uns doch ein Frühstücksei, nämlich am Ostersonntag. Meins war geplatzt und ausgekocht, und eine der Erzieherinnen verhöhnte mich vor allen anderen:“ Guckt mal, ein hohles Ei für eine hohle Nuss!“, lautes Gelächter von allen Seiten.

Was wir unseren Eltern schrieben, wurde vorgegeben. Immerhin durften wir zwischen einigen Sätzen wählen, wohl, damit nicht 50 Kinder dasselbe schrieben.

Wenn wir Post bekamen, so wurden wir darüber beim Mittagessen informiert, bekamen die Briefe und Karten aber erst am nächsten Tag, sofern wir uns folgsam und angepasst verhalten hatten. Wenn nicht, wurde auch dies öffentlich gemacht und die Postausgabe verweigert, bis wir das erwartete Verhalten an den Tag gelegt hatten.

Viel habe ich vergessen, bestimmt auch so einiges verdrängt, einiges fällt mir bestimmt in der nächsten Zeit noch wieder ein, dann werde ich meinen Bericht vervollständigen. Für heute reicht es.
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Jea schrieb am 18.12.2019
Ich war 1979 im Kinderkurheim "Frohe Zukunft" in Kröchlendorff im Alter von 9 Jahren. Ich leide heute noch unter den Folgen. Essenszwang, musste löffelweise Butter essen bis zum Erbrechen, habe täglich alle meine Hosentaschen mit Butter, Wurst, Brot vollgestopft und versucht es wieder loszuwerden. Bin ich erwischt worden, gab es harte Strafen. Große Schlafsäle, schwächere Kinder wurden gequält von den älteren, ich habe so viel geweint bis ich keine Tränen mehr hatte und war völlig verzweifelt, dass ich einen Brief an meine Mama geschrieben habe. Wurde kontrolliert und vernichtet, wieder harte Strafen, musste dann einen Brief nach Hause senden, der mir von einer Erzieherin diktiert wurde, das alles so toll ist und wie super es mir gefällt. Ich habe die Tage/Stunden/Minuten gezählt bis zur Entlassung. Niemand hat mir geholfen. Im Gegenteil, ich wurde in die Mitte des Raumes gestellt und die Erzieherinnen haben alle Kinder animiert mich als "alte Heulsuse" zu beschimpfen, solange bis ich aufgehört habe zu weinen. Das war psychische Gewalt/emotionaler Missbrauch. Ich hatte Suizidgedanken, weil ich dachte, ich komme nie wieder raus hier. Denn die Erzieherinnen haben damit gedroht "du darfst erst nach Hause, wenn du ... kg zugenommen hast". Und bei jedem Wiegen hatte ich immer mehr abgenommen. Hab fast jede Mahlzeit, die mir rein gestopft wurde erbrochen. Ich musste stundenlang am Tisch sitzen, bis der Teller leer war. Danach litt ich unter starken Ängsten, konnte nicht mal mehr auf Klassenfahrt, weil ich immer Angst hatte, habe seitdem einen ganz starken Ekel auf Butter und andere Lebensmittel, habe eine sehr starke Essstörung entwickelt, welche zur Anorexie führte, leide heute noch unter starken Verlustängsten, kann Menschen nur sehr schwer vertrauen. Wenn ich das hier von den anderen lese, fange ich an zu zittern und all die schlimmen Erinnerungen/Traumatisierungen sind wieder da. Es war kein Kindererholungsheim, es war ein Kinderknast!!! Meine eigenen Kinder, die aus gesundheitlichen Gründen auch zur Kur/Reha fahren mussten habe ich IMMER begleitet. Ich hatte immer Angst um sie. Das ganze ist jetzt 40 Jahre her, aber ich werde es niemals vergessen.
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Christel M. Ianuschewa-Strobelt schrieb am 17.12.2019
Ich möchte hier ausdrücklich darauf hinweisen, dass Anja Röhl eine Verlinkung www.verschickungsheime.org/ddr-kurkinder eingerichtet hat, auf der Betroffene Ost über ihre eigenen schmerzvollen Erlebnisse in DDR-Kinderkurheimen berichten können. Herzlichen Dank, liebe Anja, für diese Zusammenarbeit! Hier soll über eine gesamtdeutsche Geschichte berichtet werden, die in Ost und West Kinderseelen sehr verletzt hat. So hoffe ich sehr, dass es ein nächstes gemeinsames Treffen geben wird - vielleicht auf Schloss Kröchlendorff in der Uckermark.
Christel M. Ianuschewa-Strobelt, Berlin
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Jasmin schrieb am 17.12.2019
Ich freue mich immer, wenn ich davon höre, dass es auch Kinderkuren gab, die tatsächlich so waren, wie wir alle es uns gewünscht hätten.
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Monika Winter schrieb am 16.12.2019
Kann sich jemand erinnern, während der Kur geimpft worden zu sein?
Ich war in Westherbede und wurde dort beim Gesundheitsamt der Stadt Bochum geimpft. Den Impfpass habe ich noch. Das ist doch bei einer Kur von 6 Wochen unüblich, oder? Ich frage mich, ob ich nicht wesentlich länger dort war.

Ich kann mich nur an wenig erinnern, das Wenige aber mit fotografischem Gedächtnis, weil es so schlimm war. Kaum zu glauben, dass der Mensch solche Dinge nach knapp 60 Jahren noch vor sich sehen, hören und fühlen kann.
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Marion Eimers schrieb am 16.12.2019
Hallo zusammen,
Habe mit großem Interesse jetzt von dieser Initiative erfahren.
Ich bin fast 58 Jahre alt und als Kind dreimal verschickt worden, mit 4 nach Langeoog, mit 9 nach Oberstdorf und mit 11 Jahren nach Borkum. Namen, weder von Heimen noch Betreuern, kann ich nicht benennen.
Meine schlimmsten Erinnerungen habe ich an das Heim in Oberstdorf. Dort wurden Kinder geschlagen, wegen Nichtigkeiten, und auch gezwungen, Erbrochenes zu essen.
Ich fände es gut, wenn über die Hintergründe dieser Verschickung mehr heraus gefunden würde.
Was ging in den Eltern vor, die ihre Kinder teilweise so im Stich ließen und sich über ihre Gefühle hinwegsetzten ?
Die dritte Verschickung erfolgte klar gegen meinen Willen.
Liebe Grüße an alle Betroffenen
Marion
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Margot schrieb am 16.12.2019
Hallo,
ich habe erst vor ein paar Tagen erfahren das sich immer mehr Verschickungskinder melden.
Geboren 1954 war ich 1962 nach der Hamburger Sturmflut verschickt. Ich bin auf der Veddel
ein Flut Kind gewesen. Meine Mutter, heute 88 Jahre erinnert sich, das ich sehr schlank war.
Ich bin mit sehr warmer Garderobe im Frühjahr nach Glücksburg gekommen. Sammelpunkt
war die Veddeler Schule Slomannstieg. Das heißt, es müssten viel mehr Kinder aus der
Umgebung mit mir 4 Wochen weggefahren sein. Diese Kur habe ich bis heute nicht vergessen.
Schleimsuppen und Graupen-Eintöpfe habe ich und andere ausgekotzt. Durften erst aufstehen
wenn der Kotzteller leer war. Ich war wohl mit die Jüngste und Kleinste und hatte viel Heimweh.
Wenn man geweint hat wurde man ins Bett gesteckt. Stundenlang musste ich am Tag darin liegen
und durfte nicht aufstehen. Immer öfter bekam ich dünneres und fremdes Zeug an, so dass ich
viel gefroren habe. Ich konnte schon schreiben und hatte von zu Hause frankierte Umschläge
mitbekommen. Die Briefe sind nie bei meinen Eltern angekommen. Mir viel jetzt auch wieder der
Name meiner Betreuerin ein, sie hieß Frl. Gertrud. Ich sehe im Gedanken auch noch das Haus vor
mir. Ein schöner alter Park am Hang mit einem Gutsherrenhaus. Von der Straße aus konnte man
die Flensburger Förde sehen. Eine positive Erinnerung ist, das es ein Japanisches Fest gab und wir
aus Tapetenreste und Kleister japanische Schirme gebastelt haben.
Nach vier Wochen bin ich total abgemagert und blass nach Hause gekommen. Meine komplette
Garderobe war weg, hatte nur alte Lumpen an. Meine alte Dame weiß noch, das ich tagelang
Zuhause nicht gesprochen habe, zusammen gezuckt bin beim kleinsten Geräusch und viel geweint
habe. Die späteren Klassenreisen waren für mich echt schlimm und bis heute denke ich an die
schlechte Zeit zurück. Ich möchte anderen Betroffenen Mut machen, sich das Erlebte mal von
der Seele zu schreiben. Das tat mir jetzt gut, mit meinen 65 Jahren.



Mit freundlichen Grüßen,

die Veddeler Deern

Margot Pohl, geb. Gebauer
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Jens-Uwe Nickel schrieb am 16.12.2019
Natürlich ist das eine unhaltbare Sache, wie speziell in Wyk auf Föhr und auf Sylt Kinder „behandelt“ worden sind und muss als verwerflich eingestuft werden. Aber - es gibt auch andere Erfahrungen! Meine vier Geschwister und ich sind von 1952 bis 1958 alle zwei Jahre für jeweils sechs Wochen im Rahmen eben jener Kinderverschickung von Hildesheim aus in das alte, sehr große und fürsorglich gestaltete Fachwerkgebäude „Hildesheimer Haus“ in Buntenbock im Harz verschickt worden – das es heute noch gibt, aber als Hotel…. Wir haben jedes Mal die Zeit dort sowohl vom Ambiente her als auch, und das im Besonderen, durch zahlreiche und überaus liebevolle Betreuerinnen genießen können. Wir mussten sie nicht mit „Tante“ ansprechen, sondern jede von ihnen wurde mit ihrem Eigennamen gerufen. Auch die Verpflegung war für uns wahrlich nicht verwöhnte Nachkriegskinder ein Genuss und sie war stets reichlich bemessen! Und die Freizeitgestaltung war umfangreich und vielfältig. Kurzum: Wir haben uns dort jeden Sommer sauwohl gefühlt – und uns gut erholt, was ja Sinn der Sache war…
Jens-Uwe Nickel, Schafstedt
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Lotte schrieb am 16.12.2019
Im September 1956 wurde ich als 4 jährige nach Bad Sassendorf zur Kur geschickt. Nach meinen Recherchen war es die Kinderheilanstalt des Diakonischen Werks der evangelischen Kirche. Ich habe ausschließlich schlechte Erinnerungen an diese Zeit. Viele Eindrücke die von anderen Verschickungskindern geschildert worden sind, kann ich bestätigen. Ich sehe mich in einem großen Speisesaal am Tisch sitzen. Vor mir befindet sich eine Scheibe Brot, belegt mit einer in Scheiben geschnittenen Banane, was für mich kein richtiges Essen war. Wenn wir abends im Bett lagen, ging eine der Betreuerinnen mit einem nassen Waschlappen von Bett zu Bett und jeder bekam einen Schlag ins Gesicht, unabhängig davon, ob er tagsüber „etwas gemacht“ hatte. Eines der Kinder, sie musste die jüngste gewesen sein, wurde besonders schikaniert. Dadurch waren wir alle eingeschüchtert und verhielten uns möglichst unauffällig. Auch ich habe Päckchen meiner Eltern nicht bekommen, weil die Sachen angeblich unter allen Kindern verteilt worden sein sollen. Das konnte nicht stimmen, denn bei uns kam nichts an. Ich habe noch das Gruppenfoto. Darauf lächeln nur die drei Betreuerinnen, keines der fast 30 Kinder hat ein Lächeln im Gesicht.
1959 war ich noch in Bad Dürrheim. Das Gruppenfoto wurde vor dem DRK-Haus Hohenbaden gemacht. Die Kinder lächeln darauf. Ich habe aber keinerlei Erinnerung an den Aufenthalt.
Meine Erzählungen zuhause haben dazu geführt, dass der Hausarzt von einer dritten Kur abgeraten hat und sich meine Schwester erfolgreich gegen eine Kur wehren konnte.
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Jasmin schrieb am 16.12.2019
Ich war vor meiner Einschulung als 5-jährige 1967/1968 von Hamburg aus nach Winsen/Luhe verschickt worden. Vorher war ich mit meiner Mutter schicke Sachen für mich einkaufen, wir hatten eine Liste, was einzukaufen war und ich bekam auch einen hübschen roten Mantel mit einem schwarzen Samtkragen. In all meine Wäsche musste meine Mutter meinen Namen einnähen, bevor alles in den Koffer kam. Das fand ich sehr aufregend.
Ich wurde zu einem "Jasper-Reisen"-Bus gebracht und in meiner Erinnerung hatte die Reise "tagelang" gedauert (erst viele Jahre später stellte ich fest, dass Winsen quasi ein Vorort von Hamburg war).
Ich habe weder an die Örtlichkeit noch den Namen des Heimes eine Erinnerung. Ich kam dort an, musste meinen Koffer selbst auspacken und hatte direkt den ersten Ärger, weil ich dazu wohl zu dumm war. Sagte eine Tante. Der Schrank war so eine Art Spind in einem riesigen Schlafsaal mit weißen Metallbetten. Dort wurde mir ein Bett zugeteilt. Meinen Teddy Brummi durfte ich nicht behalten. Er blieb im Koffer...
Alle Tanten trugen weiße Kittel oder weiße Schürzen. Ich kann mich an keine Wärme oder Freundlichkeit erinnern.
Ich hatte immer Angst. Schroffer Ton. Aufessen müssen. Schlechtes Essen. Weinende Kinder. Bestrafungen: allein im Waschraum sitzen, Erbrochenes aufessen, vollepinkelte Schlüpfer den ganzen Tag als Mütze tragen und ausgelacht werden, Hände in weißen Handschuhen ans Bett gebunden, nicht zur Toilette dürfen, bitteren roten Tee (zuhause war Malventee nie bitter !) trinken müssen, in einem Raum allein eingesperrt sein. Und so vieles schreckliches mehr.
Ich begann ins Bett und in die Hose zu machen. Ich fing an, Fingernägel zu kauen und mir wurde so eine bittere Lösung auf die Finger gestrichen (nachdem mir auf die ausgestreckten Finger gehauen wurde) und meine Hände wurden nachts und beim Mittagsschlaf in Handschuhe gesteckt und festgebunden mit hellen Lederriemchen.
Während der Ruhezeiten durfte nicht "geschwatzt" oder geweint werden (weinen gab immer Ärger. Auch außerhalb der Ruhezeit). Wer dagegen verstieß, musste aufstehen und im Waschraum sitzen oder im Schalfsaal an der Tür "gerade"(!) stehen.
Im Waschraum war es immer feucht und kalt. Ich wusste nichts mit meinen 2 Waschlappen anzufangen, da ich zuhause duschte und badete und keinen benutzte. Auch mit der Erklärung, "einer für oben und einer für unten" konnte ich nichts anfangen. Ich wurde wieder als ein bisschen blöde betitelt.... Die Tante zeigte es mir dann. Das würde heute sexuelle Nötigung genannt und ich habe mich sehr geschämt. Wehgetan hat es auch!
Im Speisesaal gab es ein Aquarium. Davor stand ich gern und "beamte" mich weg. Solange, bis mich eine Tante verscheuchte (Aquarien beruhigen mich noch immer).
Es gab wöchentlich eine ärztliche Untersuchung und ich erinnere mich, dass ich immer sehr gefroren hatte, nur mit der Unterhose bekleidet. Ich wurde gewogen und abgehört und das Horchhorch (so nannte mein Kinderarzt in Hamburg das Stethoskop, das bei ihm immer angenehm warm war) war furchtbar kalt an meinem Körper.
An den Arzt habe ich keine Erinnerung, nur sein bekittelter Rücken, am Schreibtisch sitzend.
Nach 6 Wochen, glaube ich, ging es nachhause und es wurde nicht mehr darüber gesprochen. Meine neuen schlechten Angewohnheiten (Bettnässen, in die Hose machen, Fingernägel kauen, Quarkspeise und diverse Suppen verweigern) kamen indes nicht gut an...
(In der Grundschule hatte ich viele Fehlzeiten wegen wiederholter unerklärbarer schwerer Nierenentzündungen)
Kurz danach erkrankte ich an Keuchhusten und musste zur Rekonvaleszens in ein Heim in Wyk auf Föhr. Dieser Aufenthalt war kürzer und ich habe fast überhaupt keine Erinnerungen daran. Was mir in furchtbarster Erinnerung blieb, ist die Klimakammer oder Druckkammer, in der ich regelmäßig (täglich?) sitzen musste: ein kleines stählernes U-Boot im Keller mit einer Holzbank, Neonlicht und einer dicken Stahltür mit einem winzigen Bullauge, die mit einem Drehrad verschlossen wurde. Mit mir saßen noch 1 oder 2 Kinder auf der Bank. Wir haben uns niemals angekuckt oder miteinander gesprochen, manchmal haben wir vor Angst geweint.
Heute bin ich psychosomatisch erkrankt, kann Gefühle und Stimmungen schwer regeln, gehe seltenstmöglich zur Toilette, habe Platzangst und soziale Phobien. Seit 2007 bin ich in Erwerbsminderungsrente und schwerbehindert. Ich suche aktuell nach einer Traumatherapeutin.
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